Urteil des AG Altena vom 14.03.2017

AG Altena (ehefrau, rente, ehemann, getrennt lebende ehefrau, ratio legis, 50 jahre, elterliche gewalt, echte rückwirkung, rechtskräftiges urteil, teil)

Amtsgericht Altena, 8 F 19/77
Datum:
05.09.1977
Gericht:
Amtsgericht Altena
Spruchkörper:
Familienabteilung
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
8 F 19/77
Tenor:
wegen Ehescheidung.
I. Gemäß §628 Abs. 1 Nr. 3 ZPO (neu) wird das Verfahren betreffend den
Versorgungsausgleich (als Folgesache im Sinne des § 623 Abs. 1, 3
ZPO) aus dem Entscheidungsverbund gelöst (abgetrennt).
II. Das Gericht hält folgende Gesetze für verfassungswidrig:
1) Art. 12 Nr. 3 Abs. 1 des 1. EheRG, soweit dadurch unter den „Folgen
der Scheidung“ die aus §§ 1587 bis 1587 p BGB (neu) –
Versorgungsausgleich (VA) – auch für solche Ehen gelten, die vor dem
1. Juli 1977 geschlossen worden sind.
2) §§ 1587 bis 1587 p BGB (neu) und die damit korrespondierenden
Vorschriften der RVO und dieser gleichgestellten Gesetze, soweit
dadurch ein Versorgungsausgleich angeordnet wird und durchzuführen
ist ohne Rücksicht darauf,
a) Ob der Ausgleichsberechtigte den Rentenfall überhaupt erlebt,
b) Und/oder ob der Ausgleichsberechtigte vor dem
Ausgleichsverpflichteten verstirbt (Kein „Rückfall“ der Rente an den
Verpflichteten),
c) Ob der Ausgleichsberechtigte sich durch Wiederheirat (insbesondere
mit dem „Ehestörer“) eine angemessene, nachhaltige sonstige
Altersversorgung verschafft oder verschaffen kann.
3) Art. 12 Nr. 3 Abs. 3 Satz 3 und 4 des 1. EheRG.
-2-
III.
a) Gemäß Art 100 I 1 GG wird die gemäß Ziffer I dieses Beschlusses
abgetrennte Folgesache ausgesetzt.
b) das abgetrennte und ausgesetzte Verfahren wird gemäß Art. 100 I 1
GG dem Bundesverfassungsgericht
Gründe:
1
I. Die Parteien sind Deutsche. Sie haben am 12.04.1957 geheiratet. Die Ehefrau ist
42 Jahre, der Ehemann 44 Jahre alt. Aus ihrer Ehe sin die am 27.09.1957
geborene Tochter Annette und der am 20.02.1960 geborene Sohn Ulrich
hervorgegangen.
2
3
Seit dem 06.011.1974 leben die Parteien getrennt. Der Ehemann begehrt die
Scheidung der Ehe unter Bezug auf die Dauer der Trennung und mit der Behauptung,
die Ehefrau lebe schon mit einem anderen Mann zusammen. Die elterliche Gewalt für
das noch minderjährige Kind begehrt er für sich.
4
a. Das Gericht hat Bedenken , das Verfahren betreffend den Versorgungsausgleich
weiterzuführen, weil es die Anwendung der §§ 1587 – 1587 p BGB für
verfassungswidrig hält. Nach der Überleitungsvorschrift des Art. 12 Nr. 3 Abs. 1 1.
EheRG sollen diese Vorschriften auch für "Altehen", d. h. vor dem 1.7.1977
geschlossene Ehen gelten. Diese Regelung verstößt gegen Art. 1 I, 2, 3, 6, 12, 14
GG. Sie greift unvertretbar in den "Besitzstand" (Eigentum) ein sowie in die
Dispositionsfreiheit (allg. Persönlichkeitsrecht des mündigen Bürgers).
5
6
Die Parteien haben ihre Ehe nach dem "Muster" einer damals normalen Ehe
geschlossen und diese also gewollt. Ihre Dispositionen führten zu einer damals
normal "eingerichteten" Ehe und Familie. Es entsprach noch dem Wesen einer Ehe,
dass der Ehemann die Familie versorgte, während die Ehefrau den Haushalt führte
und die Kinder betreute. Die Regelung der Schlüsselgewalt und der häuslichen
Gemeinschaft einerseits, der Scheidungsgründe- und folgen andererseits waren
allgemein bekannt. Das Gesetz kannte noch "das Wesen" einer Ehe, ohne deren
Ausfüllung es auch keine "Familie" im Sinne des Art. 6 GG geben konnte. Heute gibt
es theoretisch hundertfache "Wesen" der Ehe, d. h. das Wesen einer Ehe besteht
ausschließlich (auch rechtlich!) darin, was die Eheleute darunter verstehen.
7
Alles Frühere soll nun nicht mehr gelten, d. h. nicht mehr rechtens sein. So sehr eine
Reform nötig war, so sehr muss aber beachtet werden, dass die Grundrechte und
8
das Recht überhaupt insbesondere ein Hort der Sicherheit, des Schutzes sein
sollen. Reformen müssen deshalb ausgeglichen sein. Die Vorhersehbarkeit ist die
Grundlage der Dispositionen der Bürger, bei der Heirat und danach.
-3-
9
Die Übergangsregelungen muss stark differenziert werden; eingerichtete, weil im
früheren Recht sanktionierte Zustände, und nicht eingerichtete, weil im früheren
Recht nicht erlaubte Zustände, dürfen nicht so behandelt werden, als hätte es das
frühere Recht gar nicht gegeben.
10
Insofern muss sich eine Reform von einer Revolution unterscheiden.
11
Konkret:
12
Ein Ehemann, der 1970 mit 25 Jahren eine 20jährige Frau heiratete, die bis dahin
nur 1 ½ Jahre versicherungspflichtig tätig gewesen war und die danach ihren Beruf
aufgab, konnte (durfte) seine Ehefrau nicht (freiwillig)in einer gesetzlichen
Rentenversicherung weiterversichern, er musste ggfls. auf eine weit weniger
zuverlässige private Lebensversicherung ausweichen. Heute würde er, löste sich
seine Frau aus der Ehe, dafür bestraft:
13
Der Rückkaufwert der Lebensversicherung auf Kapital fällt zu ½ in den
Zugewinnausgleich (dient also nicht der Altersvorsorge der Ehefrau); außerdem
erfolgt der Versorgungsausgleich.
14
Ein bei der Heirat junger Beamter büßt bei der Scheidung nach 40 Jahren Ehe fast
die Hälfte seiner Pension ein, die Ehefrau verliert ihren Besitzstand als geschiedene
Beamtenfrau mit dem Verlust der Beihilfemöglichkeiten und der Geschiedenenrente.
Sie wird automatisch AOK – Versicherte; eine private Krankenzusatzversicherung
wird wegen des hohen Eintrittsalters enorm teuer, wenn nicht unmöglich.
15
Ein mittlerer Beamter mit einer Pension von ca. 1.200,-- DM müsste, weil sich die
Frau nach 40 Ehejahren von ihm trennt, sich mit ca. 600,-- DM abfinden – er könnte
für sich nicht einmal das billigste Altenheim bezahlen. Statt 1 Sozialhilfeempfängers
gäbe es dann derer 2, wobei sich die geschiedene Beamtenfrau insoweit noch
besser stünde, als ihre Rente steuerfrei wäre (Art. 3 GG im Verhältnis zu
geschiedenen Arbeiterfrauen!).
16
Wenn dich die 55-jährige Ehefrau eines höheren Beamten usw. von ihrem
60jährigen Ehemann nach 35 Ehejahren trennt, weil sie einen gleichaltrigen
Kollegen heiraten will, so bekäme sie, obgleich die "Ehestörerin", als
Erwerbsunfähige sofort eine hohe Rente, nach ihrem 2. Ehemann (nach dessen
Tod) zusätzlich eine hohe Witwenversorgung, während er geschiedene 1. Ehemann
ein Altenheim mittlerer Güte schon nicht mehr bezahlen kann.
17
All dies wird nicht eintreffen, wenn sich Eheleute, die jetzt heiraten, in puncto
Altenversorgung von vorneherein wirtschaftlich tragbar und vernünftig einrichten.
Die jetzt vorgesehene Möglichkeit von Nachentrichtungen von Beiträgen zum
Auffangen der Minderungen von Renten sind illusorisch wegen der Höhe der
Beiträge (ca. 18.000,-- DM für 100,-- DM Rente!).
18
b. All dies gilt erst recht, wenn man bedenkt, dass der Versorgungsausgleich auch
dem Ehegatten zugute kommen soll, der "schuldhaft" (wie man früher sagte) aus
der Ehe ausbricht. Es war schon so, dass in der Regel der Mann früher immer
noch besser "dran" war, und das musste geändert werden (hätte seit dem
Inkrafttreten des Grundgesetzes geändert werden müssen). Er konnte ggfls. die
Ehe brechen – wenn sein Einkommen gering war, blieb der schuldlosen Ehefrau
nur der Weg zum Sozialamt (worin nichts Negatives zu sehen ist, aber gesehen
wurde).
19
20
Aber heute kann es gerade umgekehrt sein:
21
-4-
22
Die Ehefrau nimmt nach vielen Jahren der Ehe einen "anderen" und "die Hälfte der
Rente mit". Der Ehemann fühlt sich geradezu "bestraft", wenngleich und weil hier
von Schuld nicht mehr die Rede ist. Für Neuehen ist diese Regelung gerecht;
praktikabel erst recht, wenn die gesetzliche Hausfrauenrente kommt; aber das
Sozialgefüge kommt doch erheblich ins Wanken, wenn die Umwertung aller Werte
finanziell den "Unschuldigen" so hart trifft, dass er zu arm wird, noch ein Altenheim
bezahlen zu können. Der Gesetzgeber hätte (stufenweise) das alte
Scheidungsrecht bestehen lassen sollen oder aber das Folgerecht (zeitlich)
gestaffelt regeln müssen, etwa in dem Sinne:
23
aa) Scheidungen für Altehen bis (z. B.) 1984 nach altem Recht mit Folgen aus dem
altem Recht (ab 1984 ist sowieso mit eine r Neuordnung des Versicherungsrechts
zu rechnen);
24
bb) oder Scheidungen nach neuem Recht sofort, aber Scheidungsfolgen
(Versorgungsausgleich) nach neuem Recht nur, wenn Altehe auch nach 1.7.1977
noch mindestens 7 Jahre bestand, damit sich die Parteien einrichten können (mit
sofortiger Öffnung der gesetzlichen Altersvorsorge für alle Eheleute).
25
c. Eine bisher von einem Ehegatten erworbene Rentenanwartschaft darf nicht zu
seinem Nachteil gekürzt werden, wenn der Ehegatte, zu dessen Gunsten ein
Anwartschaftsteil abgesplittet wurde, den Rentenfall gar nicht erlebt.
26
27
Beispiel:
28
Eine Ehefrau von 50 Jahren wird nach 30 Jahren Ehe von ihrem 60jährigen
29
Ehemann geschieden, weil dieser eine neue Lebensgefährtin gefunden hat (Alter
30). Die Ehefrau war ab dem 21. Lebensjahr Chefsekretärin (oder im gehobenen
Beamtendienst). Der Mann war alles Mögliche, hat einige Pleiten erlebt, war aber
nicht versichert. Die Ehe wird geschieden, der Versorgungsausgleich wird
vollzogen. Der Mann stirbt kurz darauf. Dann ist die Ehefrau ca. ½ ihrer
Rentenanwartschaften gleichwohl für immer los! Eventuell mit anderen Folgen für
eine Beamtin (Art. 3 GG ?) wenn der Ehemann den Rentenfall nicht erlebt!
Geschenk an die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung?!
Dasselbe gilt, wenn dieser Ehemann mit 65 Jahren die Rente bekommt, aber dann
noch 65 stirbt – die Ehefrau bekommt nach wie vor statt ca. 1.300,-- DM Rente nur
eine solche von ca. 700,-- DM.
30
d. Die Übergangsregelung wie auch die Ausgestaltung des Versorgungsausgleichs
selbst ist in sich vielfach ungereimt. Früheres Unrecht (schlechte Stellung der
Frau) wird durch neues Unrecht ersetzt! Eine Rechtsreform müsste aber erkanntes
Unrecht durch Recht (Gerechtigkeit) ersetzen. Gerade die Extremfälle zeigen, wie
"gut" ein neues Recht sein müsste. Eine Generalklausel weitesten Umfangs
könnte dem Übel abhelfen, wenn nicht solche Generalklauseln selbst ein Übel
wären, nämlich ein in den letzten Jahren häufig beobachteter Verzicht der
Legislative zu Lasten de Judikative.
31
32
e. Die spezielle Überleitungsvorschrift des Art. 12 Nr. 3 Abs. 3 Satz 3 1. EheRG ist
hier nur "anscheinend" nicht tangiert.
33
34
-5-
35
Sie enthält aber einen Grundsatz, der das gesamte Reformgesetz qua Auslegung
betrifft, wie auch hier; nämlich!
36
Ein Ehegatte, der früher eine Scheidung aus § 48 EheG versucht hatte, aber "nur"
wegen des Widerspruchs des anderen Ehegatten gescheitert ist, kann nunmehr
Rechte auf Reduzierung des Versorgungsausgleichs geltend machen. Diese
Vorschrift "demaskiert" geradezu die Reform, was ihre Rückbezüglichkeit angeht.
Während der (IV. Zivilsenat des) BGH deutlich gesagt hat, wie § 48 EheG in der
früher novellierten Fassung zu verstehen sei, diskreditiert die neue
Überleitungsvorschrift das frühere Recht, indem sie dem Ehegatten, der von einem
ihm ausdrücklich gewährten Recht Gebrauch gemacht hat, nun mit einer Kürzung
des Versorgungsausgleichs bedroht, weil er früher einer Scheidung nicht
zugestimmt , von einem Rechts Gebrauch gemacht hat.
37
Man stelle sich vor Augen:
38
Eine wiederholte Klage eines Ehegatten wird (wiederholt) deswegen (durch 3
Instanzen) abgelehnt, weil alle 3 Gerichte noch eine Bindung des beklagten Teils
an die Ehe festgestellt haben – dafür soll dieser Ehegatte nun Nachteile
hinnehmen müssen! Eine missbräuchliche Geltendmachung des
Widerspruchsrecht ist in dem früheren Verfahren schon überprüft worden.
39
Fälle einer "Billigkeit" im Sinne dieser Überleitungsvorschrift sind deshalb schon
begrifflich ausgeschlossen – ein Gesetz aber, das derart konträr gegenüber dem
früheren Recht steht, ist kein Reformgesetz mehr, sondern Legislativspruch ohne
Differenzierung. Eine Ermessens-, Billigkeitsvorschrift, die in sich schon alle
Gegenteile verneinen muss, ist allein schon wegen dieser in-sich-Diskrepanz
verfassungswidrig (Rechtsstaat – Rechtssicherheitsstaat). Wenn diese
Überleitungsvorschrift gültig sein sollte, müsste daraus für vorliegenden Fall der
Schluss gezogen werden, dass es auf die Zeit ab Trennung der Ehegatten
ankommt, wenn einer der Ehegatten auch schon vor dem 1.7.1977 berechtigt
gewesen wäre, (wie hier) eine eventuell unbegründete Klage auf Scheidung aus §
48 EheG zu erheben; denn es kann für den "Antrag" aus der Überleitungsvorschrift
nicht darauf ankommen, ob der Teil, der sich getrennt hat, ohne Erfolg eine Klage
riskiert hat ("Frechheit siegt") oder – z. B. wegen guten anwaltlichen Rates – davon
Abstand genommen hat. Wenn man den Grundgedanken (verfassungskonform)
übernimmt, so müssten alle die Eheleute den Antrag auf Reduzierung des
Versorgungsausgleichs erst recht stellen dürfen, die zwar nach der Heimtrennung
nicht sofort geklagt haben, aber dies mit Erfolg hätten tun dürfen. Abgesehen davon
ist es irrational, wenn der Ehegatte, der gegen guten Rat die Klage aus § 48 EheG
versucht hat, bevorzugt wird gegenüber dem, der es nach gutem Rat in eigenem
Schuldbewusstsein unterlassen hat.
40