Urteil des AG Aachen vom 06.11.2009

AG Aachen (verlängerung, staatsanwaltschaft, telefonüberwachung, fortführung, sache, polizei, antrag, durchführung, untersuchungshaft, anordnung)

Amtsgericht Aachen, 621 Gs-901 AJs 1/08-1873/09
Datum:
06.11.2009
Gericht:
Amtsgericht Aachen
Spruchkörper:
Abteilung 621
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
621 Gs-901 AJs 1/08-1873/09
Schlagworte:
Verletzung des Übermaßverbots durch lang andauernde Überwachung
der Telekommunikation
Normen:
StPO §§ 100a, 100b
Leitsätze:
1. Bei der Verlängerung der Überwachung der Telekommunikation ist
das Übermaßverbot zu beachten.
2. Verdeckte Ermittlungen sind zu beenden, sobald die weiteren
Ermittlungen ohne Gefährdung des Untersuchungszwecks offen geführt
werden können.
3. Vollzugsdefizite bei der Umsetzung der Überwachungsmaßnahmen
rechtfertigen nicht deren Verlängerung.
4. Bei der Festlegung des Zugriffszeitpunktes ist dem Umstand
Rechnung zu tragen, dass die Polizeidienste nicht nur zur Aufklärung
von Straftaten, sonder auch zu deren Verhinderung verpflichtet sind.
Tenor:
In dem Ermittlungsverfahren
wegen BtM-Verbrechens
wird der Antrag der Staatsanwaltschaft vom 05.11.2009 auf
Verlängerung der Telefonüberwachung und der längerfristigen
Observation abgelehnt.
G r ü n d e :
1
Der Antrag ist nicht begründet.
2
Nach Auffassung des Gerichts würde die Fortführung der verdeckten Ermittlungen
gegen das auch im Bereich des Ermittlungsverfahrens zu beachtende Übermaßverbot
verstoßen.
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Mit Beschluss vom 23.12.2008 wurde in vorliegender Sache erstmals eine
Telefonüberwachung angeordnet (Bl. 16 d.A.). Diese wurde im Zuge der weiteren
Ermittlungen wiederholt verlängert, intensiviert und auf weitere Beschuldigte
ausgedehnt. Mit Verfügung vom 21.08.2009 bat das Gericht darum, einen etwaigen
weiteren Verlängerungsantrag frühzeitig vorzulegen, notfalls eine Zweitakte anzulegen
und einen Zwischenbericht anzufertigen (Bl. 350 d.A.). Dem am 04.09.2009 von der
Staatsanwaltschaft gestellten Antrag, die verdeckten Ermittlungen um weitere 3 Monate
zu verlängern, gab das Gericht mit der Maßgabe statt, dass die Fortführung der
Telefonüberwachung und der Observation auf den 09.11.2009 befristet wurde (Bl. 439 ff.
d.A.).
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Eine nochmalige Verlängerung ist nach Auffassung des Gerichts weder erforderlich
noch bei Beachtung der für verdeckte Ermittlungsmaßnahmen geltenden gesetzlichen
Bestimmungen zulässig.
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Gemäß § 100b Abs. 1 Sätze 4 und 5 StPO ist die Anordnung der Überwachung und
Aufzeichnung des Fernmeldeverkehrs auf höchstens 3 Monate zu befristen. Eine
Verlängerung um jeweils nicht mehr als 3 Monate ist zulässig, soweit die
Voraussetzungen der Anordnung unter Berücksichtigung der gewonnenen
Ermittlungsergebnisse fortbestehen. Letzeres ist nicht der Fall, wenn die verdeckten
Ermittlungen ausreichende Erkenntnisse erbracht haben, die es ermöglichen, die
weiteren Ermittlungen ohne Gefährdung des Untersuchungszwecks offen zu führen.
Dies geschieht im Regelfall in der Weise, dass die Wohnungen der Beschuldigten
durchsucht und - bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzung - die Beschuldigten in
Untersuchungshaft genommen werden.
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Die Ermittlungen in vorliegender Sache haben inzwischen einen Punkt erreicht, der
einen Zugriff nicht nur vertretbar, sondern sogar geboten erscheinen lässt. Hierbei ist
sich das Gericht der Tatsache bewusst, dass die Lenkung und Durchführung der
Ermittlungen in erster Linie Sache der Staatsanwaltschaft und der Beamten des
Polizeidienstes ist. Anders als der Ermittlungsrichter verfügen die bei Staatsanwaltschaft
und Polizei tätigen Amtsträger über besondere Sachkunde und Erfahrung in
ermittlungstaktischen Angelegenheiten. Sie tragen auch die Verantwortung für Erfolg
oder Misserfolg der von ihnen initiierten und durchgeführten Ermittlungen.
Demgegenüber beschränkt sich die Aufgabe des Ermittlungsrichters darauf, die nach
dem Gesetz dem Richtervorbehalt unterliegenden Ermittlungsmaßnahmen auf ihre
Vereinbarkeit mit dem Gesetz zu überprüfen.
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Zu den vom Ermittlungsrichter zu beachtenden Rechtsgrundsätzen zählt auch das
Übermaßverbot. Wenn also der Ermittlungsrichter zu der Überzeugung gelangt, dass
verdeckte Ermittlungen zur weiteren Sachaufklärung nicht mehr erforderlich sind, muss
er eine Verlängerung ablehnen.
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So liegt der Fall hier. Das Gericht stützt sich bei seiner diesbezüglichen Einschätzung
insbesondere auf den Ermittlungsbericht des mit den Ermittlungen befassten
Kriminalkommissariats XX der Polizei B vom 02.11.2009 (Bl. 560 ff. d.A.). Darin werden
der bisherige Gang der Ermittlungen und die bislang gewonnenen Erkenntnisse
ausführlich dargestellt. Besonderes Augenmerk kommt dabei dem Umstand zu, dass es
im Zuge der bisherigen Ermittlungen am 07.08.2009 zur Sicherstellung von 229 Gramm
Kokain und am 17.09.2009 zur Sicherstellung weiterer 50 Gramm Kokain kam. Damit ist
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der Nachweis geführt, dass sich die telefonisch getroffenen Absprachen, bei denen aus
Gründen der Tarnung und Verschleierung Synonyme verwandt wurden, tatsächlich auf
Drogen bezogen und der Beschuldigte B2 als Drahtzieher der Geschäfte anzusehen ist.
Das Kriminalkommissariat XX hat deshalb in seinem Ermittlungsbericht als nächsten
Ermittlungsschritt den Erlass von 3 Haftbefehlen und 10 Durchsuchungsanordnungen
angeregt.
Abweichend hiervon hat die Staatsanwaltschaft die Fortführung der verdeckten
Ermittlungen für die Dauer von 6 Wochen beantragt. Zur Begründung wird insbesondere
darauf hingewiesen, dass die Aufklärung bezüglich der Abnehmer und der
Lokalisierung der Drogendepots noch lückenhaft sei und die Durchführung von
Durchsuchungsmaßnahmen zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine ausreichende
Aussicht auf Erfolg verspreche.
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Das Gericht vermag nicht sicher zu beurteilen, ob diese Einschätzung zutreffend ist. Zu
bedenken ist jedoch, dass erfahrungsgemäß die nach Beendigung verdeckter
Ermittlungen im nächsten Schritt anstehenden Durchsuchungen und Vernehmungen zu
weiteren Erkenntnissen führen. Entscheidend ist jedoch, dass gemäß dem
Ermittlungsbericht der Polizei vom 02.11.2009 schon jetzt ausreichende Erkenntnisse
vorliegen dürften, die eine Verurteilung der Beschuldigten wahrscheinlich machen. Die
keineswegs sichere Erwartung, dass die Fortführung der verdeckten Ermittlungen zur
Aufdeckung weiterer, möglicherweise noch gar nicht begangener Straftaten führen wird,
rechtfertigt vor diesem Hintergrund nicht die Verlängerung der Telefonüberwachung.
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Hierbei ist nicht allein zu bedenken, dass verdeckte Ermittlungen in grundgesetzlich
geschützte Rechte der Beschuldigten und Dritter eingreifen. Entscheidend ist vielmehr,
dass die Polizeidienste nicht nur die Aufgabe haben, Straftaten aufzuklären, sondern
auch, solche zu verhindern. Bei lang andauernden verdeckten Ermittlungen entsteht hier
zwangsläufig ein Zielkonflikt. Observationen und Telefonüberwachungen bringen es mit
sich, dass unter den Augen der Polizei Straftaten begangen werden. Dieser Zustand ist
umso bedenklicher, je länger die Ermittlungen andauern und je schwerwiegender die
während der Ermittlungen begangenen Straftaten sind. Hier gilt es, den unter
Berücksichtigung der widerstreitenden Interessen und Schutzgüter richtigen
Zugriffszeitpunkt zu finden. Zu lang andauernde verdeckte Ermittlungen bergen die
Gefahr in sich, dass weiteren Straftaten Vorschub geleistet wird und den Strafkammern
letztendlich Anklagen geliefert werden, die in Anbetracht der knappen
Personalressourcen vom Umfang her nur noch schwer zu handhaben sind.
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Auch der Hinweis der Staatsanwaltschaft darauf, dass der Hauptsachbearbeiter
Kriminalhauptkommissar S zu einer anderen Dienststelle gewechselt ist, sich deshalb
andere Polizeibeamte zunächst in die Sache einarbeiten mussten und die Kapazitäten
der technischen Einsatzgruppe seit Wochen erschöpft sind, rechtfertigen keine
Verlängerung der verdeckten Ermittlungen. Die diesbezüglichen Ausführungen deuten
darauf hin, dass es bei der Umsetzung der bisherigen grundrechtseingreifenden
Anordnungen des Gerichts zu Vollzugsdefiziten und Verzögerungen gekommen ist.
Probleme dieser Art sind auch aus dem Bereich der Justiz bekannt, z. B. bei der
zeitnahen Erledigung von Strafverfahren gegen in Untersuchungshaft befindliche
Angeklagte. Sie rechtfertigen jedoch auch dann, wenn sie, woran vorliegend kein
Zweifel besteht, gänzlich unverschuldet und nur auf eine möglicherweise zu knappe
Personalausstattung oder den vorübergehenden Einsatz der Ermittlungsbeamten für
andere unabweisbare Aufgaben zurückzuführen sind, nicht die Verlängerung von
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grundrechtsrelevanten Eingriffen. Auf die diesbezügliche Rechtsprechung der
Oberlandesgerichte zur Entlassung von Untersuchungsgefangenen bei überlanger
Verfahrensdauer wird Bezug genommen. Verdeckte Ermittlungen sind wegen ihres
Eingriffscharakters kompakt und konzentriert durchzuführen. Eine mehr als einmalige
Verlängerung des gesetzlich vorgesehenen Überwachungszeitraums von drei Monaten
sollte die Ausnahme sein. Justiz- und Polizeiverwaltungen haben dafür Sorge zu tragen,
dass das hierfür erforderliche Personal zur Verfügung steht. Defizite in diesem Bereich
rechtfertigen nicht die Verlängerung von Grundrechtseingriffen.
Aachen, 06.11.2009
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Amtsgericht, Abt. 621
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Gehlen
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Richter am Amtsgericht
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