martina heck

07.12.2015

Die Anordnung des Leinenzwangs und die fragwürdigen Zeugenaussagen

Es kommt immer wieder vor, dass eine Behörde aufgrund eines umstrittenen Beissvorfalls nicht nur beispielsweise einen Leinenzwang anordnet, sondern auch dessen sofortige Vollziehung.

Die Möglichkeiten, im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens vor den Verwaltungsgerichten hiergegen anzukommen, sind beschränkt.

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat nun aber zugunsten eines Hundehalters eine ablehende Entscheidung des Verwaltungsgerichts Bayreuth abgeändert und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ordnungsverfügung angeordnet.

Die Antragstellerin ist Halterin eines dunkelbraunen Mischlingshundes und eines schwarz-weiß-braunen Collie-Mischlingshundes mit dem Namen „Cilly“. Diese Hunde führt sie – gelegentlich mit dem Hund ihres Lebensgefährten – im Außenbereich des Gemeindegebiets der Antragsgegnerin aus.

Am 13.03.2015 informierte Frau Dr. V.-S. die Antragsgegnerin, dass eine ihrer Patientinnen von einem Hund der Antragstellerin gebissen worden sei. Es handle sich um drei oberflächliche Bisswunden. Als Zeugen wurden Frau J. M. und Frau B. F. benannt.

Mit Schreiben vom 16.03.2015 forderte die Antragsgegnerin die Antragstellerin auf, zu einem am 13.03.2015 von einem ihrer Hunde verursachten Beißunfall mit Körperverletzung Stellung zu nehmen.

Die Antragstellerin schilderte den Vorfall vom 13.03.2015 dahingehend, dass sie mit ihren beiden Hunden und dem Hund ihres Lebensgefährten spazieren gegangen sei. Als eine Nordic-Walking-Gruppe aufgetaucht sei, sei ihr Hund „Cilly“ auf diese Gruppe zugelaufen. Der Hund habe gebellt, die Frauen hätten gerufen und geschimpft. Die Antragstellerin habe den Hund zurückrufen können. Eine der Frauen habe sich beklagt, dass sie gebissen worden sei. Die Antragstellerin habe sich das nicht recht vorstellen können, weil „Cilly“ kein Hund sei, der beißen würde oder je gebissen habe.

Die Zeugin B. F. schilderte den Vorfall dergestalt, dass alle Hunde, die die Antragstellerin ausgeführt habe, auf die Gruppe zugerannt seien und es der Antragstellerin nur gelungen sei, einen Hund zu sich zurückzurufen. Die Zeugin J. M. sagte aus, dass alle drei Hunde bellend auf die Gruppe zugerannt seien und es der Antragstellerin nicht gelungen sei, die Hunde in den Griff zu bekommen. Ein schwarz-weißer Hund habe die Geschädigte W. dann unvermittelt in die Wade gebissen.

Die Antragsgegnerin erließ am 02.04.2015 einen Bescheid, mit dem die Antragstellerin verpflichtet wurde, ihre Collie-Mischlingshündin „Cilly“ außerhalb des befriedeten Besitztums nur an einer reißfesten, schlupfsicheren und maximal 3 m langen Leine auszuführen. Ansonsten sei die Hündin ausbruchsicher zu verwahren (Nr. 1 des Bescheids). Daneben habe die Antragstellerin sicherzustellen, dass die sich aus Nr. 1 des Bescheides ergebenden Verpflichtungen auch von Dritten erfüllt würden, welche mit der Betreuung und Ausführung der Hündin „Cilly“ beauftragt seien (Nr. 2). Die sofortige Vollziehung dieser Verfügungen wurde angeordnet (Nr. 3). In einer weiteren Nr. 3 drohte die Antragsgegnerin für den Fall eines Verstoßes gegen die Nr. 1 und 2 des Bescheides ein Zwangsgeld von jeweils 500,00 Euro an. Zur Begründung führte die Antragsgegnerin aus, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 18 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 LStVG vorlägen, da von der Hündin „Cilly“ eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit von Menschen und Tieren ausgehe. Die Antragsgegnerin sehe es als erwiesen an, dass die Geschädigte W. am 13. März 2015 von „Cilly“ gebissen worden sei. Da es bereits zu Beißvorfällen gekommen sei, sei eine Anordnung nach Art. 18 Abs. 2 LStVG nicht nur zulässig, sondern vielmehr geboten. Die Auflagen zur sicheren Verwahrung und zum Leinenzwang seien zur Verhütung der von einem Hund ausgehenden Gefahren regelmäßig geeignet und nicht unangemessen. Der Sofortvollzug wurde mit der nicht unerheblichen Gefahr weiterer Schäden an den Rechtsgütern Leben und Gesundheit Dritter begründet.

Den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage lehnte das Verwaltungsgericht Bayreuth ab. Anders nun der Bayerische Verwaltungsgerichtshof als Beschwerdeinstanz.

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof geht entgegen der verwaltungsgerichtlichen Auffassung nämlich davon aus, dass sich der Bescheid der Antragsgegnerin im Hauptsacheverfahren voraussichtlich als rechtswidrig erweisen wird.

Nach Art. 18 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 LStVG können die Gemeinden zur Verhütung von Gefahren für Leben, Gesundheit und Eigentum Anordnungen für den Einzelfall zur Haltung von Hunden treffen. Eine solche Anordnung darf jedoch nur verfügt werden, wenn im zu betrachtenden Einzelfall eine konkrete Gefahr für die genannten Schutzgüter vorliegt. Der Bayerische VErwaltungsgerichtshof geht dabei grundsätzlich davon aus, dass von großen Hunden, die auf öffentlichen Straßen und Wegen mit relevantem Publikumsverkehr frei herumlaufen, oder vom Führen derartiger Hunde durch eine hierzu nicht befähigte Person in der Regel eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit Dritter ausgeht. Insbesondere muss es vor dem Erlass entsprechender Anordnungen nicht zu Beißzwischenfällen gekommen seien. Daher eröffnet Art. 18 Abs. 2 LStVG nach ständiger Rechtsprechung des Senats grundsätzlich die Möglichkeit, für große Hunde im konkreten Einzelfall einen Leinenzwang in bewohnten Gebieten anzuordnen.

Vorliegend hat die Antragsgegnerin in der Begründung des Bescheides bei der Anordnung des generellen Leinenzwangs für das Vorliegen einer konkreten Gefahr für Leben und Gesundheit von Menschen und Tieren ausschließlich darauf abgestellt, dass die Hündin „Cilly“ die Geschädigte W. gebissen habe. Dies sei durch die Bestätigung der behandelnden Ärztin sowie den Zeugenaussagen von Frau M. und Frau F. bewiesen. Sie hat nicht – wie später das Verwaltungsgericht – das Vorliegen einer konkreten Gefahr (auch) damit begründet, dass es sich bei „Cilly“ um einen großen Hund und eine schon davon in bewohnten Gebieten ausgehende Gefährdung handle. Weder aus der Anzeige der behandelnden Ärztin vom 13.03.2015 noch aus den Zeugenaussagen von Frau F. und Frau M. ergibt sich jedoch zweifelsfrei, dass der Hund „Cilly“ die Geschädigte W. gebissen habe. Die beiden Zeuginnen sagten übereinstimmend aus, dass alle drei Hunde, mit denen die Antragstellerin unterwegs war, auf die Frauengruppe zugerannt seien und die Antragstellerin die Hunde bis auf einen nicht habe zurückrufen können. Frau M. sagte aus, dass es ein schwarz-weißer Hund gewesen sei, der die Geschädigte gebissen habe. Augenscheinlich handelt es sich bei „Cilly“ aber nach den bei den Akten befindlichen Farbfotos und dem Verzeichnis der Antragsgegnerin über die in ihrem Gemeindegebiet gehaltenen Hunde um einen schwarz-weiß-braunen Hund. Frau F. äußerte sich zu der Frage, welcher der drei Hunde zugebissen habe, zunächst überhaupt nicht. Die Antragsgegnerin ist trotz des nicht eindeutigen Sachverhalts, ohne sich weiter über das äußere Erscheinungsbild der drei von der Antragstellerin am 13.03.2015 ausgeführten Hunde zu informieren, davon ausgegangen, dass die Verletzung von Frau W. von einem Biss von „Cilly“ herrühre. Im anhängigen Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung hat Frau F. dann aber nach der Vorlage eines entsprechenden Lichtbildes am 20.07.2015 zweifelsfrei ausgesagt, dass es nicht der Hund „Cilly“ gewesen sei, der die Geschädigte W. gebissen habe, sondern ein größerer grauer Hund mit wuscheligem Fell.

Auch wenn das Verwaltungsgericht wohl zu Recht davon ausgegangen ist, dass die Tatbestandsvoraussetzungen für den Erlass einer Anordnung nach Art. 18 Abs.2 LStVG insoweit vorliegen, weil von größeren Hunden (um einen solchen handelt es sich bei dem Hund „Cilly“), auch wenn sie gutmütig und von friedlicher Wesensart sind, in bewohntem Umfeld generell eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit von Personen ausgehen kann, so stellt sich die Entscheidung der Antragsgegnerin, einen uneingeschränkten Leinenzwang für den Hund „Cilly“ anzuordnen, allein deshalb als fehlerhaft dar, weil sie bei der Ausübung des Ermessens, ob eine solche Anordnung überhaupt getroffen werden soll (Entschließungsermessen), davon ausgegangen ist, dass es der Hund „Cilly“ war, der die Geschädigte W. gebissen hat, obwohl schon im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides und erst recht nach der Aussage der Zeugin F. am 20. Juli 2015 erhebliche Zweifel daran bestehen. Der Begründung des Bescheids lässt sich nämlich nicht entnehmen, dass die Antragsgegnerin auch dann einen generellen Leinenzwang für „Cilly“ angeordnet hätte, wenn sie nicht der Auffassung gewesen wäre, dass „Cilly“ die Geschädigte W. gebissen habe, sondern alleine deshalb, weil von „Cilly“ als großem Hund in bewohnten Gebieten die dargelegten Gefahren ausgehen.

Die Auffassung des Erstgerichts, die Antragsgegnerin habe ausreichende und nachvollziehbare Ermessenserwägungen dahingehend angestellt, welche Maßnahmen geeignet und erforderlich gewesen seien, um die von „Cilly“ ausgehenden Gefahren für Leben und Gesundheit Dritter zu verhüten, ist daher nicht zutreffend. Der Bescheid leidet nicht nur hinsichtlich des Entschließungsermessens, sondern auch bezogen auf das Auswahlermessen (s. Art. 8 LStVG) an einem Ermessensfehler. Zu der im Bescheid angeordneten und allein noch streitgegenständlichen Maßnahme, den Hund außerhalb des befriedeten Besitztums nur an einer reißfesten, schlupfsicheren und maximal 3 m langen Leine auszuführen, führt die Antragsgegnerin lediglich aus, dass der Leinenzwang zur Verhütung der von einem Hund ausgehenden Gefahr regelmäßig geeignet und nicht unangemessen sei. Auf den natürlichen Bewegungsdrang des Hundes komme es angesichts der hervorgerufenen Gefährdung nicht an. Die Anordnung eines generellen Leinenzwangs sei das mildeste Mittel. Die Antragsgegnerin unterscheidet nicht zwischen einem Anleinzwang im Bereich bebauter Ortsteile (auf den sich die von ihr zitierten Senatsentscheidungen zur Gefährdung durch große und kräftige Hunde beziehen) und in Bereichen außerhalb im Zusammenhang bebauter Ortsteile, wo erfahrungsgemäß weniger Menschen unterwegs sind als innerhalb bebauter Ortsteile. Aus den Gründen des Beschlusses des Verwaltungsgerichts ergibt sich zwar, dass nach Auffassung der Antragsgegnerin die starke Frequentierung des Außenbereichs in ihrem Gemeindegebiet eine Begegnung mit Dritten jederzeit erwarten lasse. Der Bescheid selbst enthält hierzu jedoch keinerlei Ausführungen und setzt sich insbesondere auch nicht damit auseinander, ob mildere Mittel zur Verfügung stehen, um dem Hund überhaupt noch eine Möglichkeit zum freien Auslauf zu verschaffen (z.B. Anordnung, dass der Hund anzuleinen ist, wenn sich Dritte in Sichtweite befinden) und warum diese nicht geeignet sind, der von dem Hund „Cilly“ angeblich ausgehenden Gefahr für die Rechtsgüter Leben und Gesundheit von Menschen zu begegnen.

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 17.09.2015 – 10 CS 15.1597