Rechtsanwalt Wolf J. Reuter

Jacobsen Rechtsanwälte Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
10707, Berlin
17.09.2010

Wir Betrüger vom Bahnhof Berlin - Emmely und die Bagatelle werden erwachsen

 “Kündigung wegen Betrugs ist unwirksam” (ZEIT Online) oder “Bahn verliert ihren ‘Emmely-Prozess’” (Morgenpost) lauten jetzt die Schlagzeilen. Es geht um eine vielbeachtete Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg vom 16.9.2010 (2 Sa 509/10). Wie im Juli auch auf diesem Blog diskutiert, hatte die Bahn einer Mitarbeiterin gekündigt, die sich anlässlich ihres Dienstjubiläums 250,00 EUR Bewirtungskosten erstatten ließ, obwohl ihre Geburtstagsfeier nur 90 EUR gekostet hatte (bei der Bahn darf man bei bestimmten Jubiläen wohl die Kollegen auf Kosten des Arbeitgebers einladen). Sie weckt Bedenken an unserer bislang entspannten Haltung zu “Emmely”: Der Betrug über 160 EUR ist unbestreitbar. Das Landesarbeitsgericht hatte trotzdem bereits in der Verhandlung im Juli durchblicken lassen, dass es die Kündigung gerade vor dem Hintergrund der notorischen “Emmely-Entscheidung” des BAG nicht für wirksam halte. Die darauf angeregte Einigung der Parteien kam nicht zustande, gestern wurde das Urteil verkündet. Die Bahn hat verloren. Der Kündigungsgrund reicht nicht aus. Die Entscheidung ist richtig und falsch zugleich. Sie zeigt das ganze Dilemma der Arbeitsgerichte in diesen Fällen. Sie ist richtig - und sogar zu begrüßen - weil sie die Kündigung wegen strafbaren Verhaltens oder schwerem Vertrauensmissbrauch dogmatisch (angelehnt an das - per heute übrigens noch nicht veröffentlichte - sog. “Emmely-Urteil” des BAG) wesentlich sauberer argumentativ einordnet, als es bei dem bisher eher unüberlegten Reflex Straftat=Vertrauensverlust=Kündigung der Fall war (womit nicht gesagt ist, dass diese Gleichung nicht im Ergebnis - materiell - richtig war). Falsch ist sie wegen der dogmatischen Zweifel, die sie streut, und wegen des von ihr ausgehenden Signals. Kaum ein Urteil ist so kontrovers diskutiert worden wie “Emmely”. Bis heute hält sich auch in Juristenkreisen eine Reihe von Fehlvorstellungen. Dazu gehört der Reflex, dass angeblich bis “Emmely” die obige Gleichung stereotyp galt und sich das jetzt geändert habe. Das ist eine Fehlvorstellung, die von der Gerichtspraxis (in den Instanzgerichten) erzeugt wurde, weil sie in ihren Urteilsgründen das meist richtige Ergebnis hinter ziemlich schematischen Formulierungen erstarren ließen, aus denen man einfach nicht mehr erkennen konnte, ob ,mehr als nur die subjektive Wertung des Gerichts ausschlaggebend war. Der Befund, dass sich die “Interessenabwägung” oft schablonenhaft liest, war durchaus berechtigt - die Kritik am Ergebnis nicht. Das LAG Berlin-Brandenburg hat jetzt - nach der Presseveröffentlichung - auf folgendes Schema abgehoben: 1. Der Betrug sei “an sich” zur Kündigung geeignet. 2. Die Interessenabwägung falle aber für die Arbeitnehmerin aus: a) Sie sei 40 Jahre im Betrieb b) Das Arbeitsverhältnis sei beanstandungsfrei c) Der Betrug beträfe nicht den Kernbereich der Tätigkeit (als Abfertigerin habe sie nichts mit Geld zu tun) d) Sie habe ihr Fehlverhalten sofort und vorbehaltlos eingeräumt. Der berühmte “Bienenstichfall” des BAG (Urteil vom 17.05.1984 - 2 AZR 3/83), den vermutlich kaum jemand gelesen hat, formulierte dieses Schema in weiten Teilen bereits 1984 ebenso: “Die Konkretisierung des wichtigen Kündigungsgrundes durch die abgestufte Prüfung in 2 systematisch zu trennende Abschnitte, ob ein bestimmter Sachverhalt ohne die besonderen Umstände des Einzelfalls an sich geeignet ist, einen wichtigen Kündigungsgrund abzugeben, und ob bei der Berücksichtigung dieses Umstandes und der Interessenabwägung die konkrete Kündigung gerechtfertigt ist, dient dazu, den Begriff des wichtigen Grundes näher zu klären…Ob ein Schaden als geringfügig zu betrachten ist, ist bereits eine Wertungsfrage. Es davon abhängig zu machen, ob das Verhalten des Arbeitnehmers einen wichtigen Kündigungsgrund abgeben kann, würde dem Zweck des abgestuften Prüfungsmaßstabs widersprechen. Wie auch die angeführten Instanzentscheidungen zeigen, kann der Umfang des dem Arbeitgeber zugefügten Schadens insbesondere nach der Stellung des Arbeitnehmers, der Art der entwendeten Ware und den besonderen Verhältnissen des Betriebes ein unterschiedl. Gewicht für die Beurteilung der Schwere der Pflichtverletzung haben. So ist etwa die Entwendung einer Zigarette aus einer Besucherschatulle des Arbeitgebers durch einen Arbeitnehmer anders zu beurteilen als die Entwendung einer gleichwertigen Ware durch einen Arbeitnehmer, dem sie - als Verkäufer, Lagerist oder Auslieferungsfahrer - gerade auch zur Obhut anvertraut ist.” Man sieht es erst auf den zweiten Blick: Der (von uns) fettgedruckte Teil des Zitats ist im Laufe der Jahre in Vergessenheit geraten. Er ist aber wichtig. Ihm liegt die Erkenntnis zugrunde, dass es für einen Kündigungsfall einen Unterschied machen könnte, ob mein Kassenwart mir Geld stiehlt oder ein Mitarbeiter, der normalerweise nichts mit Geld zu tun hat. Das meint auch das LAG Berlin-Brandenburg mit “Kernbereich” der Tätigkeit. Interessant ist aber die Bezugnahme auf die 40-jährige Betriebszugehörigkeit. Die Pressemitteilung zu “Emmely” sprach davon, dass dadurch Vertrauen aufgebaut sei, das durch eine einmalige Verfehlung nicht “aufgezehrt” werden könne. Mit einem solchen Vertrauenskonto argumentiert auch das LAG bei der Bahnmitarbeiterin. Ob das BAG die Sache so gemeint hat, wissen wir mangels der Entscheidungsgründe (noch) nicht. Es wäre aber - sollte es so sein - eine echte Neuerung. Das gesamte Kündigungsschutzrecht ist prognostisch. Es geht immer nur darum, ob künftig noch Verfehlungen zu erwarten sind, nie darum, wie schlimm die vergangene Tat war. Der “Vertrauensfortfall” bedeutet: Wer so etwas macht, dem kann man auch künftig nicht trauen. Die Argumentation mit einem “Vertrauenskapital” ist nicht prognostisch, sondern retrospektiv: Wer nur lange genug nichts machte oder nicht erwischt wurde, darf sich mehr leisten als andere. Das wäre ein Systembruch. Und hier beginnt das Problem der Entscheidung des LAG. 40 Jahre ist in der Tat eine lange Zeit. Die generalpräventive Botschaft, dass auch ein Betrug nicht zur Kündigung führt, ist indes fatal. Fatal, weil sie sozial unannehmbar ist, fatal auch, weil sie den Unterschied zu “Emmely” verwischt. Hier geht es mit 160 EUR nicht mehr um eine sog. “Bagatelle”, sondern um ein unbestreitbares strafbares Verhalten und eine erheblichen Schaden, dessenthalben auch die Strafverfolgung angezeigt wäre. Dogmatisch wäre es also besser gewesen, deutlich zu machen, dass ein “Vertrauenskapital” allein durch die Betriebszugehörigkeit nicht gerechtfertigt ist, was auch immer in der Pressemitteilung des BAG steht. Man kann dasselbe Ergebnis auch dadurch erreichen, dass - wie ja auch geschehen - der Kernbereich der Tätigkeit betrachtet wird, nachdem die weitere Gefährlichkeit weitgehend ausgeschlossen ist und ferner das Geständnis - es macht die Zukunftsprognose nämlich positiv. Die Betriebszugehörigkeit hat hier eigentlich nichts verloren. So wird im Grunde einer Rechtsprechungsänderung das Wort geredet, die weder evident vom BAG vorgenommen wurde noch notwendig ist, um richtige Ergebnisse zu erzielen, überdies aber auch falsch wäre. Die Zeit, die jemand im Betrieb verbringt, hat einfach keinen unmittelbaren Einfluss auf sein zukünftiges Verhalten in einer bestimmten Situation. Warten wir mal die Entscheidungsgründe bei Emmely ab - vielleicht ist die vielbeschworene “Wende” darin doch enthalten. Das allerdings wäre unvertretbar und ärgerlich. Ist das Urteil jetzt richtig oder falsch? Das Ergebnis ist auch ohne Emmely seit 1984 richtig. Die Begründung ist falsch.