Rechtsanwalt Wolf J. Reuter

Jacobsen Rechtsanwälte Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
10707, Berlin
19.06.2012

VG Berlin: Auskunftspflichten der Bundesrepublik zu den Grundlagen einer Allgemeinverbindlicherklärung

Das Verwaltungsgericht Berlin hatte am 23. Mai 2012 (VG 2 K 96/11) eine Grundsatzentscheidung getroffen: Wenn die Bundesrepublik Deutschland einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich nach § 5 TVG erklärt, dann muss sie die Tatsachen, die der Allgemeinverbindlicherklärung zugrunde legt, auf Anfrage offenlegen.

Wir hatten über das Urteil (in dem ich selbst ja Kläger war/bin), bereits berichtet. Es liegt jetzt im Wortlaut vor und kann als PDF hier abgerufen werden:

Download VG Berlin, Urteil v. 23.5.2012 – VG 2 K 96/11

Auf den ersten Blick verstehen die meisten Leser – ohne, dass sie sich dafür schämen müssten – vermutlich nicht, worum es hier überhaupt gehen soll. Das verdeckt vor allem die Bedeutung dieser Entscheidung, die – ob sie nun rechtskräftig wird oder nicht – ziemlich gewaltig ist.

Wir haben die Problematik allgemeinverbindlicher Tarifverträge an anderer Stelle ausführlich erläutert:

Rechtsstaat und Tarifrecht

SOKA-Bau FAQ

“Fakt”

Karneval in Bonn

u.v.m.

Um einem kleinen Missverständnis vorzubeugen, dem der freundliche Rezensent von Haufe, dessen Kritik dieses Blogs hier freudig aufgenommen wurde, ebenfalls aufgesessen ist: Es gibt nach meiner Auffassung keine Gleichung „Allgemeinverbindlichkeit = Böse“.

Es kann ordentliche Gründe geben, einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären. Dass diese Gründe nicht bei den Bautarifverträgen und insbesondere nicht bei den Sozialkassentarifverträgen Bau greifen, steht auf einem anderen Blatt.

Ich habe eine sehr grundsätzliche Kritik anzubringen. Das Gesetz macht in § 5 TVG nun einmal zwei Vorgaben, um so eine „AVE“ zu erteilen: Es muss die Zahl der Tarifgebundenen bestimmt werden (Quorum) und es muss ein öffentliches Interesse bestehen.

Die bisherige Praxis ist aber rechtsstaatswidrig. Denn mit AVEs werden ganze Arbeitsrechtssysteme – von Einstellungsbögen und ihrer Gestaltung bis zu den Urlaubsansprüchen – einfach auf „Außenseiter“ übertragen. Die bekommen dann ein Arbeitsrecht, das kein parlamentarischer, gewählter Gesetzgeber beraten und verabschiedet hat. Akzeptiert man das – im Grundsatz akzeptiert das Bundesverfassungsgericht, wenn seine Meinung aus den 50er Jahren noch aktuell sein sollte, diese Möglichkeit auch – muss man aber verlangen, dass jedermann – wirklich jedermann – unschwer nachprüfen kann, ob eine AVE ihren gesetzlichen Voraussetzungen entspricht. Wenigstens das. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen. Stattdessen wird faktisch nicht nur in einem intransparenten Geheimverfahren, das dringend einer gesetzlichen Regulierung bedarf, die AVE vom Bundesministerium für Arbeit verabschiedet. Die zugrundeliegenden Erkenntnisse – vor allem über das Quorum – werden aber mitnichten veröffentlicht, sondern auf Anfrage auch noch zum „Staatsgeheimnis“ erklärt (das hatten wir hier ausgebreitet).

Das ist preußischer Obrigkeitsstaat, oder, wenn Sie so wollen, ein demokratiefeindliches Element. Jedermann müsste im Internet erfahren können, wie das Quorum berechnet wurde, und auch eine kurze Begründung erfahren dürfen, warum ein öffentliches Interesse besteht, gerade diese AVE auszusprechen. Bekommt man neue und komplexe Arbeitsrechtsregeln aufgedrückt, kann man mindestens das doch wohl verlangen?

Das Urteil des VG Berlin ist brillant, wichtig und grundlegend.

Es ist nur traurig, dass es überhaupt erforderlich war. Noch trauriger wäre, wenn die Bundesrepublik den Rechtsweg ausschöpft, aber das „darf“ sie natürlich gleichwohl tun. Jeder soll sich bekanntlich nach seiner Facon lächerlich machen.

Vielleicht hilft das Urteil aber, immer wieder mal die Arroganz der Macht zu überdenken. Da gibt es noch Verbesserungsbedarf beim BMAS: Auf meine Karnevalsveranstaltung in Bonn hin wollte ich als Verfahrensbeteiligter an der letzten AVE Bau einfach nur wissen, was denn z.B. die IG-Bau zu meinem Schriftsatz dem Bundesministerium übersandt hat – eine Stellungnahme gab es, sagte die IG-Bau-Vertreterin in der Verhandlung. Die durfte ich aber nicht sehen. Finden Sie merkwürdig? Stellen Sie sich eine Gerichtsverhandlung vor, in der Sie zu den Schriftsätzen des Gegners Stellung nehmen sollen, ohne sie lesen zu dürfen.

Finde ich auch merkwürdig. Dennoch: Mein Akteneinsichtsantrag wurde abgelehnt, mein Widerspruch nicht beschieden, trotz Erinnerung. Jetzt darf ich wieder klagen – warum nur?