Rechtsanwalt Wolf J. Reuter

Jacobsen Rechtsanwälte Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
10707, Berlin
11.01.2012

Mehr Rechtsstaat. Auch für das Tarifrecht.

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Hoffentlich der längste Blogeintrag 2012

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“Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate!”

(“Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!”)

Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Inferno III, 9 (Das Höllentor)

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Ein reales Drama. Ein Appell, im Jahr 2012 das Unrecht zu beseitigen, das Recht wiederherzustellen und zu Sinnen zu kommen.

Das BAG darf im neuen Jahr den Rechtsstaat verteidigen und einer langen Tradition des Verfassungsbruchs ein Ende machen. Hoffentlich geschieht es. Das hängt auch von den Spezialitäten des Falls ab, die nicht ganz kalkulierbar sind.

Dem Vernehmen nach ist das Verfahren den 25.2.2012 terminiert, das Aktenzeichen lautet 10 AZR 275/11 und das Berufungsurteil ist das des Hessischen LAG vom 2.02.2011 – 18 Sa 637/10.

Das Berufungsurteil ist eigentlich ein Skandalurteil. Das „eigentlich“ kann man in höheren Erregungszuständen (gerechter Zorn) auch weglassen.

Ist das überzogene Richterschelte, wenn die Richter nur meinen, etwas zu machen, das schon immer so war? Ah! Bei näherer Beschäftigung mit der Sache dürfen Sie aber alles, wirklich alles vergessen, weshalb Sie jemals Jura studiert haben oder weshalb Sie glaubten, irgendetwas vom Fach zu verstehen.

Zum Theater, das der Anlass für den gerechten Zorn ist:

Gemäß § 5 TVG kann der Staat Tarifverträge für „allgemeinverbindlich“ erklären. Sie gelten dann für all diejenigen, die „eigentlich“ (da ist das Wort wieder) gerade nicht daran gebunden wären – weil sie diese Tarifverträge nicht selbst abgeschlossen hatten. Sie sind dann – nach der Allgemeinverbindlicherklärung – so verbindlich wie ein Gesetz für jedermann.

Das überrascht Sie nicht besonders oder juckt sie gar nicht sehr (nach der Grundeinstellung: „spinnerter Arbeitsrechtskram, da haben wir im Straf- und Datenschutz-, im Wettbewerbs- und Markenrecht größere Klopper“)?

Dann brauchen Sie einen Augenöffner. Im Theater.

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Prolog: Was zwei wollen, muss der Dritte tun

1. Aufzug: Dante lässt Ovid aus der Zeit vor den Staatsexamina erzählen:

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Zuerst war ein Goldenes Zeitalter, in dem klar war, was der Menschen Werk bewirkte:

Tarifverträge sind Verträge (erstaunlich, nicht?). Sie werden zwischen Gewerkschaften (für ihre Mitglieder) und Arbeitgebern abgeschlossen – oder mit Vereinigungen mehrerer Arbeitgeber, dann auch für deren Mitglieder. Die damit entstandene „Tarifbindung“ bedeutet dann, dass der Tarifvertrag nur in Arbeitsverhältnissen gilt, wenn der Arbeitnehmer Gewerkschaftsmitglied ist und sein Arbeitgeber den Tarifvertrag selbst oder über seinen Verband abgeschlossen hat (§ 1 TVG). Alle anderen sind außen vor und heißen deshalb „Außenseiter“.



Antike Grafik


Will man die Segnungen eines Tarifvertrags, oder seinen Fluch (es gibt auch sehr negative Tarifverträge) genießen, gilt daher: Es nützt nichts, Gewerkschaftsmitglied zu sein, wenn man in einem Betrieb arbeitet, der an keinen Tarifvertrag gebunden ist. Beschäftigt man keine Gewerkschaftsmitglieder, gilt – na ja, rechtlich jedenfalls und in der Theorie – dasselbe. Der Grad der Tarifbindung ist in den verschiedenen Branchen sehr unterschiedlich. Metall im Südwesten hat einen hohen, der öffentliche Dienst einen sehr hohen, die Rechtsanwaltschaft z.B. gar keinen wahrnehmbaren Anteil tarifgebundener Arbeitsverhältnisse.

Gewerkschaften zwingen manche Branchen und Arbeitgeber durch einen Streik zur Verhandlung. In manchen Branchen sind sie kaum tätig oder haben zu wenige Mitglieder, um Druck zu machen. Dort gibt es keine Tarifverträge.

In der Politik ist in etwa das gemeint, wenn immer von der großartigen „Tarifautonomie“ die Rede ist, die Art. 9 GG schützt. „Tarifautonomie“ meint, dass nicht der Staat die Arbeitsbedingungen aushandelt, sondern Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Deshalb dürfen sich beide nach Art. 9 GG auch zu Vereinigungen zusammenschließen (Gewerkschaften und Verbände). Und dann steht da noch etwas. Dass man wählen darf, ob man sich organisieren will („positive Koalitionsfreiheit“), oder ob man lieber nicht dabei sein will („negative Koalitionsfreiheit“). Beides gleichermaßen geschützt. Vom Grundgesetz.

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2. Aufzug: Ovid redet weiter, Dante ist irritiert:

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Das aber reichte nicht denen, die das Mehr wollten, über das Gold hinaus. Und so trat die Menschheit in das silberne Zeitalter (Examenszeit).

Was ist so dumm an dem, was wir im Goldenen Zeitalter gelernt haben?

Viele Vertragsparteien würden gerne miteinander auch etwas vereinbaren, dass ein Dritter dann zu leisten oder zu bezahlen hat. Am besten, ohne ihn vorher zu fragen. Natürlich wäre es mir recht, wenn Sie es wären, der den Kaufpreis für mein neues Auto bezahlen müsste. Weil ich das im Kaufvertrag mit dem Autohändler schon mal so vereinbart habe, ohne sie zu fragen oder auch nur persönlich zu kennen. Sorry. Aber fühlen Sie nicht dasselbe?

Im Studium lernt man das als nichtigen sog. Vertrag „zu Lasten Dritter“ kennen.

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3. Aufzug: Dante steht alleine auf der Bühne

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Es gefiel daher dem Herrn, den Menschen zuzusehen, wie sie alle Klarheit aus dem Leben nahmen und die größten Prinzipien ihrer eigenen Schöpfung – des Rechts – verrieten. Damit begann die Höllenfahrt, und ich bin ihr Chronist.

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1. Akt: Hinfort, Beelzebub, der Staat möge es richten!

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1. Aufzug: Faustus sitzt in seinem Arbeitszimmer, grübelt

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(Schrei!) Überraschung: „Im Tarifrecht ist der Vertrag zu Lasten Dritter Standard!“

Faustus, (sinnierend): „Das Große ganze muss man sehn, und Gutes kommt von dem, der Gutes will!“

Das Gute also:

Denn natürlich finden die Gewerkschaften es dumm, dass ihre mühsam verhandelten Tarifverträge nur für die Arbeitgeber gelten sollen, mit denen sie auch verhandelt haben. Wäre doch viel schöner, wenn sie einfach auch für alle anderen gelten würden! Dann kann man sich mit den mächtigen zwei, drei Verhandlungspartnern einigen, die man schon kennt, und den ganzen Rest der Branche auch erfassen.

Auch den Arbeitgebern, die gerade einen Tarifvertrag abgeschlossen haben, ist das sehr recht. Wer will schon vereinbaren, dass er z.B. 10 EUR/Stunde zahlen oder 30 Tage Urlaub/Jahr gewähren muss, wenn der Konkurrent um die Ecke das billiger hat – einfach, weil für ihn kein Tarifvertrag gilt? Weil er sich – mangels Organisation oder weil er einfach übersehen wurde – nicht mit den Gewerkschaften plagen musste?

Diese Schwäche hat bereits die Weimarer Republik erkannt. Sie hat deshalb die „Allgemeinverbindlicherklärung“ erfunden. Die beiden Tarifvertragsparteien, die so traurig sind, dass ihre Vereinbarung nur für sie selbst und niemanden sonst gelten soll, können sich Hilfe beim Staat holen. Sie fragen beim Bundesministerium für Arbeit: Bitte, bitte, kannst Du das auch für alle anderen verbindlich anordnen? Du bist doch der Staat! In Weimar war zum Ende hin die Mehrheit der Tarifverträge allgemeinverbindlich.

Das Werben um die Bundesministerin

(Eine Stimme aus dem Hintergrund):

„Halt ein!“

Faustus: „Wer da?“

Stimme „Das Grundgesetz!“

Faustus „Ei, Du Zwerg, was störst Du meine Kreise?“

Grundgesetz: „Plagiat – der letzte, der das sagte, wurde von den Angreifern getötet!“

Faustus: „So rechte mit mir, doch mit offenem Visier!“

Ja, das Grundgesetz hat einen Einwand: In der Bundesrepublik gibt es einen Rechtsstaat. Das heißt vielleicht nicht viel, aber es bedeutet, dass die Frage berechtigt ist – darf die Ministerin dem Werben der Tarifvertragsparteien nachgeben? Die Antwort lautet: Wenn ein verfassungsmäßiges Gesetz ihr das erlaubt! Ein Gesetz immerhin gibt es. § 5 Abs. 1 TVG sagt:

„Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bestehenden Ausschuß auf Antrag einer Tarifvertragspartei für allgemeinverbindlich erklären, wenn

1.

die tarifgebundenen Arbeitgeber nicht weniger als 50 vom Hundert der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigen und

2.

die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint.“

Wären Sie jetzt noch im ersten Semester Staatsrecht, wo man mit Grundrechten und dem ganzen anderen Verfassungsmist (oder „Verfassungskram“, wie es eine Prozesspartei jüngst ausdrückte) rummacht, würden Sie jetzt vielleicht fragen, wie so etwas mit der „negativen Koalitionsfreiheit“ des Art. 9 GG vereinbar ist. Lassen Sie stecken, Sie brauchen auch nicht zu glauben, das sei nun das „klausurwesentliche Thema“. Ist es nicht, dass die Sache vom GG aus in Ordnung geht, als Prinzip jedenfalls, ist längst abgesegnet. Es greift aber schon so ein klitzekleines Bisschen in das Grundrecht derer ein, die nun mal nicht in einem Arbeitgeberverband sind. Das darf man sich im Hinterstübchen behalten.

Unbedingt aber merken sollten Sie sich: Gäbe es nach diesem Gesetz z.B. einen Tarifvertrag für Rechtsanwaltsfachangestellte, den nur drei Anwaltskanzleien unterschrieben haben, in denen insgesamt 12 Rechtsanwaltsfachangestellte arbeiten, ist es aus mit der Allgemeinverbindlichkeit. Denn die zwölf sind nie im Leben die Hälfte aller Rechtsanwaltsfachangestellten in Deutschland. Da braucht man keine Statistik. Das weiß man, weil die 140.000 oder mehr Anwälte sicher nochmal mehr als 12 davon beschäftigen werden und das eben alles Außenseiter sind.

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2. Aufzug: Faustus hat dem Grundgesetz erst mal ein Tintenfass hinterhergeworfen, darauf ist das Grundgesetz abgetreten. Diener schieben einen Wagen mit Geldsäcken hinein.

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Faustus: „Was ist das?“

Diener: „Die größte Gemeinsame Einrichtung. Das Gute, das Du schufest. Die Sozialkassen. Des Baugewerbes…“

Tarifvertragsparteien können sich unglaublich viel ausdenken:

So z.B. „gemeinsame Einrichtungen“ (§ 4 TVG). Das sind irgendwelche Organisationen, die durch einen Tarifvertrag geschaffen werden, um irgendwelche Sachen aus diesem Tarifvertrag verwaltungsmäßig abzuwickeln. Das kommt selten vor und die markanteste Ausprägung sind die Sozialkassen des Baugewerbes. Die sollen eine ganze Menge: Sie sollen das Urlaubsverfahren und das Verfahren über eine Zusatzversorgung im Baugewerbe nach den jeweilige Tarifverträgen abwickeln. Eine der Kassen ist sogar eine AG geworden. Details haben wir auf unserer SOKA-FAQ Seite dargestellt. Die Kasse kann sich auf allgemeinverbindliche Tarifverträge stützen, seit Jahrzehnten, und fällt entsprechend über die Außenseiter her. Knapp ein Fünftel der gesamten im Betrieb gezahlten Bruttolöhne wollen die – extra. Ein Teil davon geht wieder zurück, denn nach dem Bautarif leistet man sich ein vom BurlG völlig abweichendes Urlaubsverfahren. Der Arbeitgeber gibt das Geld für den Urlaub der Kasse, die es dem Arbeitnehmer nach Abzug von Verwaltungskosten wieder erstattet. Warum das sein muss? Das müssen sie jemand anderen fragen. Für alle Nicht-Bau-Betriebe funktioniert das BurlG ja auch.

Faustus: „Oh, groß ist mein Verdienst. Alles anders und doch gut gemacht, so habe ich’s…!“

(Stimme): „Nachdenken hätte geholfen“

Faustus: „Wer da schon wieder?“

Stimmer: „Der gesunde Menschenverstand!“

Faustus: „Scher Dich weg, Verführer der geistig Schwachen!“

Stimme: „Gut, ich bin nur der juristische Verstand. Hast Du da nicht für das wenige Gute ein bisschen viel Böses übersehen?“

Dumm ist, für die Außenseiter, dass man ihnen dieses Geld nach dem Tarifvertrag abpressen kann, auch wenn die betreffenden Arbeitsverhältnisse längst abgewickelt sind oder der Urlaub lange zurück liegt. Der Tarifvertrag regelt eine Verjährung von vier Jahren. Was die Kassen mit dem nicht ausgezahlten Geld machen? Da müssen Sie auch jemand anderes fragen, man möchte ja in nichts hineinkommen; aber die Bilanzsumme der Urlaubskasse ist etwa so groß wie die des größten öffentlichen deutschen Rückversicherers (1,9 Mrd. EUR). Dass ein Betrieb in aller Regel in den Staub beißt, wenn er 4 x 20/100 der Bruttolöhne nachzuzahlen hat, lassen wir mal stehen. Den Arbeitnehmern nützt das nicht. Der Staub.

Dumm ist, für die Außenseiter, dass man Bundesrichter (in der Arbeitsgerichtsbarkeit) sein muss, um zu wissen, ob man ein Baubetrieb ist. Deshalb enthält die Rechtsprechungssammlung „Arbeitsrechtliche Praxis – AP“ auch mittlerweile 329 fast ausschließlich bundesrichterliche Entscheidungen zu dieser Frage, und neue kommen laufend hinzu. Die aktuelle (Stand 2.1.2012) Nr. 329 (BAG, Urteil vom 08.12.2010 – 10 AZR 710/09) wartet z.B. mit dem schönen Leitsatz auf:

„…Das gemäß § 202 BauGB erforderliche Abtragen des Mutterbodens, dessen Zwischenlagerung und Wiederaufbringen ist Teil der Rohrleitungstiefbauarbeiten iSv. § 1 Abs. 2 Abschnitt V Nr. 25 VTV, wenn es der Verlegung einer Rohrleitung (Pipeline) dient…“

Ja, so was muss man als Bundesrichter draufhaben.

Dass es so viel Streit gibt, liegt einmal an der schieren wirtschaftlichen Katastrophe (Stichwort Staub, s.o.), wenn man fälschlich glaubte, kein Baubetrieb zu sein. Da wehrt man sich schon einmal. Vor allem liegt es an der umfassenden Formulierung des Bautarifs. Bedenkt man, dass die Renovierung eigener Gebäude manchmal ja, manchmal nicht als Baubetrieb zu qualifizieren ist, kann man ahnen, wie schwer das ist. Die „gemeinsamen Einrichtungen“ krallen sich im Jahr so 20.000 Male (kein Schreibfehler) einen Außenseiter und zerren in vor die Arbeitsgerichte in Berlin oder Wiesbaden. Wer weit weg von diesen beiden Städten wohnt, kann ja schon mal Hotels buchen. Wut und Verzweiflung kann man in diesen Verfahren häufiger spüren als im Bagatellstrafrecht.

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2. Akt – die gescheiterten Revolutionen

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Faustus: „Lang haben wir gekämpft. Siegreich waren wir. Das Gute hat triumphiert über die kleinen Geister…“

Stimme: „Ja, richtig war es alles…“

Faustus: „Wer da?“

Mephisto: „Ich nur.“

Faust (erleichtert): „Ich dachte schon, das Grundgesetz…“

Mephisto (kichert): „Ach, der Verfassungskram. Der leckt noch seine Wunden…“

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1. Aufzug: Die Schlacht ums Grundgesetz

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Wir bezeichnen die Niederlage des Außenseiterlagers in den Auseinandersetzungen zwischen 1958 und 1993 als gescheiterte Revolte. Mit der Situation aus dem ersten Akt wollten manche sich einfach nicht zufrieden geben. Also bemühten sie die Justiz in dem Gefühl, irgendetwas sei faul.

Faustus (erregt dazwischen schreiend): „Nichts ist hier faul!“

Mephisto (kichernd): „Nö. Nichts.“

Schon 1958 fand jemand, die Allgemeinverbindlicherklärung greife in seine Grundrechte ein, wenn sie einen in eine gemeinsame Einrichtung zwinge, die sich jemand anders ausgedacht habe. Antwort: Nö (BAG, Urteil vom 5. 12. 1958 – 1 AZR 89/57 = NJW 1959, 595 = AP Nr. 10 zu § 5 TVG). Weil man ja nicht Mitglied werden muss, sondern nur zu zahlen braucht, wenn es um eine gemeinsame Einrichtung gehe.

Verstehen Sie nicht? Also wirklich…dann nochmal zum Mitschreiben: Nö 1965 (BAG v. 3.02.1965 – 4 AZR 385/63 = NJW 1965, 1624) und nochmals „nö“ 1973, mit derselben Begründung (BAG v. 10.10.1973 – 4 AZR 68/73 = AP Nr. 13 zu § 5 TVG).

Dass man nicht weiß, dass es die im (kostenpflichtigen) Bundesanzeiger veröffentlichte Allgemeinverbindlichkeitserklärung überhaupt gibt? Ich bitte Sie – nönönö (BVerfG v. 10.09.1991 – 1 BvR 561/89 = AP Nr. 27 zu § 5 TVG = NZA 1992, 125). Also ehrlich.

In Staatsrecht gelernt, dass wir eine parlamentarische Demokratie sind? Dass Gesetze den Rahmen festlegen und Verordnungen nur ok sind, wenn das Gesetz (= Parlament) Inhalt, Zweck und Ausmaß der Verordnung festlegen – Art. 80 GG? Yep! Verordnungen werden wie die Allgemeinverbindlichkeitserklärung ja von einem Bundesministerium gemacht. Und die wuchtige Fülle drastischer Tarifnormen steht nicht in § 5 TVG, ist ja klar – von „Inhalt, Zweck und Ausmaß“ ist das Gesetz jedenfalls weit entfernt. Klar. Also Attacke?

Nö. Die Allgemeinverbindlicherklärung ist keine Verordnung. Was sie ist, steht nicht im Gesetz, sie ist „sui generis“ (toll!) – (BVerfG v.  15.07.1980 – 1 BvR 24/74 und 1 BvR 439/79 = AP Nr. 17 zu § 5 TVG). Sie ist ein „Normsetzungsakt“ (BVerfG v. 24.05.1977 – 2 BvL 11/74 = AP Nr. 15 zu § 5 TVG; noch toller!). Klingt nur nach Verordnung: Sui und Generis müssen sich nicht an die Regeln halten, die in Art 80 GG stehen. Toll auch: Deshalb können Bundesminister-/innen für Arbeit Regelwerke in Kraft setzen, die sie im Verordnungswege nicht einmal aufgrund eines ausgefeilten Gesetzes in Kraft setzen könnten: Urlaubsdauer, Urlaubsgeld, Zusatzrente, Kündigungsfrist, bezahlte Krankheitstage und – ja, Löhne neuerdings auch. Praktisch: Eine Normsetzung ohne jede Inhaltskontrolle, also eine justizfreie Norm, war geboren.

Fehlt noch was? Das Ministerium braucht ja für die Prüfung der AVE eine Weile. Also kann man die Allgemeinverbindlicherklärung auch rückwirkend in Kraft setzen? „Rückwirkung“ ist ja auch so ein Verfassungsstichwort. Zaghaft meinte man zunächst „in Grenzen“ (BAG v. 1.03.1956 – 2 AZR 183/54 = AP Nr. 4 zu § 5 TVG), dann, als mal richtig einer renitent wurde, „eigentlich immer“ (BAG v. 25.09.1996 – 4 AZR 209/95 = AP Nr. 30 zu § 5 TVG). Warum?

Nö. Also nö. Immer wollen Sie wissen, warum. Warum dies, warum das. Es ist, wie es ist. Die Begründung steht in den Urteilen sowieso nicht. Nicht so jedenfalls, dass Sie sie nach Abschluss Ihrer staatsrechtlichen Ausbildung kapiert hätten. Sie lautet u.a., die Sozialkassen hätten sich „bewährt“. „Bewährt“ ist, was nicht erfolgreich angegriffen werden konnte, weil man die Schotten dicht gemacht hat. Dass es dann bewährt ist, ist natürlich eine intellektuell…bewährte Begründung (BAG v. 24.01.1979 – 4 AZR 377/77 = AP Nr. 16 zu § 5 TVG) dafür. Dann braucht man nicht auch noch spießige gesetzliche Voraussetzungen zu prüfen.

Die sind überhaupt ärgerlich, diese Gesetze, ebenso wie die Grundrechte.

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2. Aufzug: Die Niederlage des Parlaments- und Gesetzesvorbehalts

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Die Grundrechte waren  ja fürs erste entsorgt (s.o.), aber was macht man, wenn einer sich auf das Gesetz (§ 5 TVG) beruft und sagt, er wisse ja gar nicht, ob dieses Quorum – 50% der Branche – erreicht sei?

Also nö.

Gesetze hebelt man mit dem Prozessrecht aus, das wissen nicht nur Strafrechtler. Jetzt müssen wir mal kurz weg vom Staatsrecht. Stellen wir uns vor, so eine Kasse klagt vom Außenseiter 500.000 EUR ein – und der sagt so etwas. Nö.

Allerdings werden Sie vielleicht an Ihre Zivilstation in der Ausbildung denken. Da war immer die Rede von Darlegungs- und Beweislast. Dass der Anspruchssteller die Tatsachen vortragen müsse…ja, Sie wissen, wo es langgeht, nicht wahr? Muss die Kasse beweisen, dass die Allgemeinverbindlicherklärung gerechtfertigt ist? Die Armen? Dumm: Sie beruft sich ja auf den Tarifvertrag. Der gilt beim Außenseiter aber eben nur kraft Allgemeinverbindlicherklärung. Wie Sie im Bundesanzeiger lesen können, schreibt niemand dort – auch sonst nirgends – wie und auf welcher Basis das Ministerium eigentlich zu dem Schluss gekommen ist, das Quorum sei erfüllt. Man muss es glauben! Ja, na klar! Denn: Der Staat wird seine Arbeit schon richtig machen und vor allem sorgfältig! Preußens Gloria! Hach. Jubel. Steht aber schon so in BAG, 3.2.1965 – 4 AZR 385/63 = NJW 1965, 1624.

Jetzt reiben Sie sich die Augen und denken vielleicht, es sei ein wenig naiv, zu glauben, ein Bundesministerium werde seine Arbeit schon richtig machen. Sie meinen vielleicht, wir könnten generell mit dieser Vermutung die Verwaltungsgerichte abschaffen. Das spare eine Menge Geld, nur mit Rechtsstaat habe das nichts zu tun?

Also nö, wieder mal nö, das ist schnöselig von Ihnen. Außerdem haben wir das ja nicht so gemeint, sagten die Urheber, denn als Juristen verstehen wir uns ja auf das Relativieren. Sie müssten halt – als Beklagter! – „augenfällige Umstände“ vortragen, warum das alles nicht mit rechten Dingen zugegangen sein soll. Sehen Sie? Jetzt haben wir Ihre gesetzlichen Rechte übers Prozessrecht entsorgt. Denn ich sage Ihnen nicht, was augenfällige Umstände sind. Mal kommen lassen. Kommen lassen.

Dass die Zahlen des Ministeriums nachweislich – und ausweislich eines bundesrichterlichen Urteils – „weitgehend lückenhaft und ungenau ist bzw. auf bloßen Schätzungen beruht“ (wie bei BAG v. 24.01.1979 – 4 AZR 377/77 = AP Nr. 16 zu § 5 TVG) reicht – nö, also Sie wieder. Das reicht natürlich nicht aus, um dem Bundesministerium den Vorwurf zu machen, es habe unsauber gearbeitet. Warum auch, nur weil es lückenhafte Angaben und Schätzungen benutzt, um die 50%-Quote festzustellen. Da haben die Gerichte halt eben mal einen „Beurteilungsspielraum“, mit dem sie schwuppdiewupp die Fehler des Ministeriums von Amts wegen ausbügeln können (BAG v. 22.09.1993 – 10 AZR 371/92 = AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Gerüstbau). Die Sozialkasse ist ja „bewährt“, Sie wissen schon.

Wie man „beurteilt“, dass eine unbekannte Zahl aber jedenfalls 50% einer weiteren unbekannten Zahl ist, fragen Sie jetzt aber bitte Nostradamus. Ich weiß es nicht. Schluss. Und im Urteil steht es auch nicht. Hat sich „bewährt“, so was nicht reinzuschreiben. Außerdem gibt es die Begründung ja doch: Nach § 287 ZPO kann das Gericht schätzen. Schätzen! Wenn Sie jetzt einwenden, in § 287 ZPO stünde etwas von Schadensersatz, der geschätzt wird, nicht vom Quorum einer Allgemeinverbindlicherklärung, dann schalte ich den Computer ab, lassen Sie das also.

Hatten Sie sich eben an „von Amts wegen“ gestört? Also, wenn Ihnen die Darlegung der „augenfälligen Umstände“, die noch keiner dargelegt hat, weil es ja immer nicht reicht, gelingt. Wenn. Dann muss natürlich nicht die arme Kasse beweisen, dass die Allgemeinverbindlichkeit dennoch in Ordnung ist. Die gehört ja auch nur den Tarifvertragsparteien, die das ganze Zahlenmaterial dazu haben. Den Job muss schon das Arbeitsgericht machen. Damit keine Unfälle passieren (stellen Sie sich vor, die Kasse könnte es gar nicht darlegen…). Bewährt eben. Waren wir im Urteilsverfahren. Ja doch. Was das mit Amtsermittlung zu tun hat? Ich schalte gleich ab, klar? Letzte Warnung!

Mit der Entscheidung von 1993 (Stichwort „bewährt“) war die Revolte tot, die Kasse lebte. Auch nicht schlecht, von unverbrauchten Beiträgen, und Juristen konnten sich auch damit beschäftigen, wo gibt es schon 20.000 Verfahren im Jahr abzugreifen, bei denen man immer auf der Gewinnerseite steht.

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3. Akt: Die Rückkehr der Jedi (?)

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Faustus: „wer sind die denn?“

Mephisto (ängstlich): „Die mit den Laserschwertern. Aus einer anderen Welt…“

Äonen sind dahingegangen. Die alte Ordnung wankt. Zweifler ziehen durch das Land und flüstern Geheimnisvolles.

Es konnte eigentlich nicht ausbleiben, dass sich gegen ein Machtkartell eine zweite Revolte erhebt. Sie ist sachlicher als die erste. Sie hat mehrere Anlässe.

Zuerst hat es einem Arbeitgeberverband gereicht, der die wundervolle Institution Soka-Bau nicht mitgeschaffen hatte. Der aber kann keine sinnvollen Tarifverträge mehr abschließen, denn wo er hinkommt, gibt es schon die Soka und ihre allgemeinverbindlichen Geschwister. Der Staat hat die Tarifautonomie für diesen Verband abgeschafft. Aber die Jungs haben sich gewehrt. Sie haben die Bundesrepublik wegen der Verletzung ihrer Rechte verklagt. Der Staat hat nach heftiger Gegenwehr vom Bundesverwaltungsgericht bescheinigt bekommen, dass er sich verklagen lassen müsse, die Klagen keineswegs unzulässig seien Urteil vom 27.01.2010 – 8 C 19/09).

Der materielle Klageanlass ist auch unterhaltsam. Die Kläger rechnen vor, dass das Quorum des § 5 TVG nicht erreicht wird. Sie verweisen dazu auf eine Reihe faszinierender Umstände. Außerdem wird beim Verwaltungsgericht ohnehin vom Amts wegen ermittelt. So erfassen die von der Bundesrepublik genutzten Statistiken Betriebe unter 10 Mitarbeitern gar nicht. Wie dieselbe Bundesrepublik dann wissen will, wie viele Arbeitnehmer die Branche hat, bleibt (sehr) offen. Genauso offen wie das beim Verwaltungsgericht Berlin noch nicht abgeschlossenen Verfahren. Wenn man aber bedenkt (was niemanden wundern dürfte), dass nach einer Studie des DIW 90% aller Bauhandwerksbetriebe solche (nicht erfassten) Betrieben sind, fragt man sich, wie das Bundesministerium diese weißen Flecken auf der Landkarte nachzeichnet. Dass das Verwaltungsgericht zum Zeitpunkt dieses Blogeintrags bereits selbst ermittelt, darf man so verstehen, dass die vorgelegten Zahlen jedenfalls nicht schlüssig waren.

Auch der Rechtsstaat will vielleicht ganz zart erwachen. Vielleicht. Es fällt nämlich langsam auf, in was für einem Verfahrensdilemma der steckt, der sich gegen eine Allgemeinverbindlicherklärung wendet. Ein Arbeitsgericht meint bislang, man müsse halt erst mal eine Zahlungsklage über sich ergehen lassen. Einen Rechtsschutz vor den Verwaltungsgerichten gäbe es nicht, das wäre eine verbotenen Normenkontrolle (siehe AVE = Akt der Rechtssetzung). Schade übrigens dabei, dass man so auch erst mal ein Bußgeldverfahren über sich ergehen lassen müsste (siehe §§ 8 und 24 AEntG). Steht man erst einmal vor dem Arbeitsrichter, sagt der einem höhnisch, man müsse erst mal „greifbare Anhaltspunkte“ vortragen (siehe BAG). Wie beschafft man die, wenn doch eine Vermutung dafür streitet, die Bundesrepublik werde schon alles richtig machen? Man denkt vielleicht an das Informationsfreiheitsgesetz (IFG) und fragt einfach mal dass Ministerium, wie die denn zu ihren Zahlen gelangt sind. Was passiert? Die lehnen ab. Das ist ein Staatsgeheimnis. Warum? Na, weil sie grade selbst verklagt werden, und wirklich, da kann man dem Rechtsunterworfenen ja keine Informationen geben – man will keine „Paralleldiskussion in der Öffentlichkeit“. Glauben Sie nicht? Lesen Sie selbst! Die Antwort des Bundesministeriums an mich, wie man zu einer Zahl gekommen ist:

Aber auch dagegen wird geklagt. Vor dem Verwaltungsgericht. In den Vorstellungen der Tariffreunde sieht nämlich der Rechtsschutz nicht aus wie im Grundgesetz, sondern so:

1 Gott macht die Allgemeinverbindlichkeit. Er wird dabei Bundesministerium für Arbeit vertreten.

2 Gott muss nichts begründen. Er macht das deshalb auch nicht.

3 Die Arbeitsgerichte hören auf Gottes Wort. Denn der macht alles richtig.

4 Wer Gottes Wort anzweifeln will, muss Gott dafür „greifbare Anhaltspunkte“ geben.

5 Die Richtigkeit von Gottes Wort muss nicht etwa von dem belegt werden, der sich darauf beruft (Soka), auch wenn die alle Zahlen hätten. Nein. Das muss der machen, der als Außenseiter eben draußen steht. Gott selber (oder sein Stellvertreter) sagt nichts dazu.

Man kann das auch als Circulus Vitiosus bezeichnen. Hände hoch: Wer findet, dass so etwas mit einem Justizgewährungsanspruch vereinbar ist?

Wir sehen keine Meldungen.

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Ende des (Theater-)Fragments

Fortsetzung folgt.

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Epilog

Das LAG Hessen findet, dass die Rechtlosen noch viel zu viele Rechte hätten. Es hat daher entschieden, dass der Unternehmer nicht bloß greifbare Anhaltspunkte vortragen muss, sondern „substantiiert“ darzulegen habe, dass die Allgemeinverbindlichkeit fehlerhaft sein. Die Frage nach dem „Wie“ beantwortet das Gericht nicht. Es hat aber den Willen erkennen lassen, dass künftig nicht mehr an Gottes Wort zu zweifeln ist. Denn bloß lückenhafte Statistiken, ein Verdachtsmoment sozusagen, sollen nicht reichen. Die Rechtsprechung des BAG, für sich genommen schon weitab vom Weg der Verfahrensgarantien des Grundgesetzes, wird damit endgültig verlassen.

Das LAG hat die Revision zugelassen. Sie wird am 25.2.2012 – möglicherweise – verhandelt. Das BAG hat jetzt die Möglichkeit, die unerträgliche Zerfleischung einfachster Verfassungsgrundsätze zu beenden. Dem Rechtsstaat wieder zur Geltung zu verhelfen. Auch im Tarifrecht. Folgende Arbeitsthesen müssten doch einfach zu verstehen sein:

1 Niemand kann vor Gericht gezwungen werden, einen Beweis zu führen, der ihm objektiv unmöglich ist, und zwar nicht aus einzelfallbezogenen, sondern aus strukturellen Gründen. Die Flexibilisierung der Darlegungs- Beweislastverteilung darf nicht dazu führen, dass ein Verfahrensbeteiligter strukturell rechtlos gestellt wird.

2 Klagt eine gemeinsame Einrichtung der Tarifparteien, die die Allgemeingültigkeit eines Tarifvertrags selbst beantragt haben, sind sie zu einer substantiierten Darlegung des Quorums verpflichtet, weil sie sachnah sind, selbst Rechte daraus ableiten, über das überlegene Wissen verfügen und die Allgemeinverbindlichkeit die Grundrechte des Beklagten aus Art. 9 GG unmittelbar berührt.

3 Eine Vermutung für die Richtigkeit staatlicher Handlungen gibt es allgemein nicht, für Allgemeinverbindlicherklärungen im Besonderen nicht. Das gilt vor allem, seit der Verstoß gegen die Soka-Tarifverträge bußgeldbewehrt ist (Intensivierung des Grundrechtseingriffs). Das gilt aber auch, weil § 5 TVG keinerlei Begründungszwang enthält und damit die Allgemeinverbindlicherklärung keine Legitimität als Rechtssetzungsakt in Anspruch nehmen kann, der eine Richtigkeitsvermutung rechtfertigt. Schließlich gilt so etwas nicht, weil Verwaltungs- und Sozialgerichte immer wieder festgestellt haben, dass Allgemeinverbindlicherklärungen unwirksam, weil schlampig ausrecherchiert sind.

Es ist einfach ein Schlag ins Gesicht des Grundgesetzes, einem Rechtsunterworfenen jegliche Verteidigungsmöglichkeiten abzuschneiden und ihm nicht einmal die Prüfung eines Rechtsaktes zu ermöglichen, gleichzeitig aber Bußgelder zu verhängen und seine Existenz zu vernichten. Es ist auch unmoralisch. Ebenso unverschämt. Ja, schandhaft. Es ist die Aufgabe von Gerichten, so etwas zu erkennen und abzustellen. Es handelt sich um einen Bruch elementarster Rechtsstaatsgrundsätze. Seit Jahrzehnten. Es wird Zeit, das abzustellen.

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Das wünschen wir uns. Vom Bundesarbeitsgericht.

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Der Verfasser ist am Verfahren vor dem BAG 10 AZR 275/11 nicht beteiligt.