Rechtsanwalt Wolf J. Reuter

Jacobsen Rechtsanwälte Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
10707, Berlin
09.09.2013

Flickenteppich und Betondecke

„Flickenteppich“ hatte Peer Steinbrück gesagt, als es um den Mindestlohn in der eher phrasenhaften Kandidatendebatte ging. Dieser Teil der Sendung hatte es dann nicht in die Schlagzeilen und Kommentarspalten geschafft. Merkels Position – auch die der FDP – war bekannt: Keinen gesetzlichen – einheitlichen – Mindestlohn bestimmen, sondern einen Mindestlohn, der von Branche zu Branche von den Tarifvertragsparteien ausgehandelt wird und z.B. nach dem AEntG dann für alle nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer für “allgemeinverbindlich” erklärt wird.

Den „Flickenteppich“ haben wir derzeit also schon, er erfasst nur nicht alle Arbeitsverträge, weil es nicht für alle Branchen einen entsprechenden „Mindestlohntarifvertrag“ gibt. Derzeit gibt es daher nur punktuelle Mindestlöhne. Das Grundkonzept von schwarz-gelb wäre also, das nach und nach behutsam auf alle Branchen auszuweiten.

Die Legel Tribune Online – längst eine der lesenswertesten und lebendigsten juristischen Onlinepublikationen – befasst sich in einem Artikel von Claudia Kornmeier mit den verfassungsrechtlichen Problemen, die ein flächendeckender Mindestlohn auslösen könnte, wenn der Gesetzgeber ihn einführt. Das ist lesenswert und interessant. Denn offenbar regt sich auch an der Verfassungsfront Widerstand gegen drohende gesetzliche Mindestlöhne.

Punktueller und flächendeckender Flickenteppich

Während jedenfalls wir aber die Verfassungsfrage für ein überflüssiges Rückzugsgefecht halten – wäre der gesetzliche Mindestlohn verfassungswidrig, etwa als Verstoß gegen Artikel 9 oder 14 GG, wäre das die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertragsgesetzes oder AEntG auch, sie hat aber stets Bestand gehabt beim BVerfG – ist die untergegangene Frage des „Flickenteppichs“ nicht nur in der Kanzlerdebatte zu kurz gekommen.

Wir müssen dabei ein paar grundsätzliche Gedanken ventilieren, um das Problem zu sehen:

Wer Lohn zahlt, zahlt Abgaben an die staatliche Sozialversicherung. Wissen Sie. Es gibt einen Arbeitgeber- und einen Arbeitnehmeranteil. Wissen Sie auch. Den Arbeitnehmeranteil nicht abzuführen, ist strafbar, § 266a StGB, ein oft perfide angewendeter Tatbestand. Vor allem, weil die Rechtspraxis jede Prüfung, ob eine Tat vorsätzlich geschieht, hier abgeschafft hat.

Was weniger bekannt ist:

Wenn man den „falschen“ Tariflohn zahlt – einen zu niedrigen etwa – dann gilt dasselbe. Stufe ich – in einem fiktiven Tarifsystem – z.B. Mitarbeiter X in Lohngruppe 1 ein und übersehe, dass in Lohngruppe 2 (höher) gehört, weil er eine abgeschlossene Ausbildung hat, muss ich eventuell über Jahre die Sozialversicherungszahlungen korrigieren. Und das strafrechtliche Risiko bleibt.

Tarifverträge haben einen persönlichen („alle Arbeitnehmer“, „alle Arbeitnehmer im Außendienst“ etc.) und betrieblichen Anwendungsbereich. Beide müssen erfüllt sein, um z.B. den Mindestlohntarifvertrag anzuwenden.

Betriebliche Anwendung von Mindestlöhnen – ein Bein im Knast

Der betriebliche Anwendungsbereich macht dabei Schwierigkeiten.

„Alle Betriebe des Hotel- und Gaststättengewerbes“ etwa klingt noch gut abgrenzbar. Man richtet sich nach dem wirtschaftlichen Schwerpunkt des Unternehmens, nach einem unverkennbar äußerlichen Bild. „Alle Betriebe des Baugewerbes“ ist schon schwieriger – am schwierigsten übrigens – wenn ich Ihnen sage, dass sich ca. 400 Entscheidungen des BAG nur damit befassen, wer dazugehört und wer nicht.

Da kommen Sie in Teufels Küche. Sehr schnell.

Wie ist es denn mit dem Zimmermädchen im Hotel?

Klare Sache, will man meinen – es sei denn, sie kommt von einer Drittfirma (wie in Berlin an der Tagesordnung). Die Drittfirma ist ein Reinigungsunternehmen. Es fühlt sich an den Tarif der Gebäudereiniger gebunden, der, z.B., in de gleichen Lohngruppe 2 EUR/Stunde weniger als der des Hotel- und Gaststättengewerbes hergibt. Jetzt muss man zwei bis drei Gerichtsinstanzen nehmen, um festzustellen, welcher Tarifvertrag anwendbar ist. Ein Streit, den nicht das Zimmermädchen lostreten muss: Im Falle der CGZP hat den z.B. eine Berliner Senatorin auf gewerkschaftlichen Druck losgetreten. Kommt man nach Jahren zu dem Ergebnis, der Hoteltarif sei der richtige, muss der Arbeitgeber des Zimmermädchens nachzahlen. Und sich eventuell mit dem Staatsanwalt treffen. Und vor dem Strafgericht. Verliert nach einer Verurteilung die Möglichkeit, an Ausschreibungen für die öffentliche Hand teilzunehmen („Lohndumpingschwein“). Fällt die Verurteilung zu hoch aus, kann er nicht mehr Geschäftsführer z.B. seiner GmbH bleiben. Obwohl er einen Tarifvertrag angewendet hat.

Das ist jetzt schon Realität – nach der CGZP-Entscheidung etwa in der Zeitarbeit. Denn zahle ich nach einem Tarifvertrag, der sich nach drei Instanzen in einem Verfahren, an dem ich nicht beteiligt bin, als rechtlich unwirksam herausstellt, sitze ich auch in der Tinte – falls es einen gültigen, höheren Tarif gibt, den ich dann „hätte“ zahlen müssen. „Hätte“. Und die Unwirksamkeit einer Tarifregelung kann Ursachen haben, die keiner erkennen konnte. Die GGZP-Rechtsprechung hat völlig neue Regeln aufgestellt, die es zuvor nicht gab: Deshalb konnte sie auch keiner berücksichtigen.

Also sind rückwirkende Zahlungspflichten und strafrechtliche Risiken das größte Problem nebeneinander existierender, divergierender Tarifregeln.

Tarifvertrag als Preiskartell

Im Bau, wo die Abgrenzung zum Albtraum geraten kann, müssen Sie außerdem die Konkurrenzsituation sehen – und damit den Druck, den Wettbewerber und ihre Verbände ausüben. Ein Elektrohandwerker hat einen tariflichen Mindestlohn von knapp 9 bis knapp 10 EUR (der Zoll gibt hier Übersichten über die existierenden Mindestlohnregelungen). Das gilt für einen Facharbeiter mit Berufsabschluss. Der Bau kennt für ungelernte (!) einen Mindestlohn von ca. 11 EUR.

Wenn Betrieb E. jetzt in Mecklenburg ein Windrad ans Stromnetz anschließt, welchen Tarif muss er anwenden? Nach der jetzt geltenden arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung muss er Stunden zählen: Gräben für das Anschlusskabel ausheben: Bau (aber strittig…). Anschluss: Elektro (unstr.). Kabel in den Graben legen: Strittig, Theorie 1: Bau, a.A.: Elektro.

Hat er am Ende Pech, der E., und muss er den Baulohn anwenden: Nun, siehe oben.

Allgemeinverbindliche Lohntarife wirken sich so wie – verboten – Preiskartelle aus. So sind sie auch gemein. Wer die Allgemeinverbindlichkeit durchsetzt, kann für seien Mitglieder die Konkurrenz kleinhalten, wenn diese droht, billiger zu sein.

Das ist er nun, der „Flickenteppich“ – auch wenn ich nicht glaube, dass Herr Steinbrück ganz genau wusste, was er da sagt: Richtig war es. Und ich gebe ihm sehr ungern Recht.

Das Opfer ist – eigentlich – jedermanns Liebling

Die Abgrenzungsschwierigkeiten des Modells „Mindestlohns durch Tarifvertrag“ sind ein Arbeitsbeschaffungsprogramm. Für Rechtsanwälte, Gerichte und Staatsanwaltschaften. Fatal sind sie für kleine und mittelständische Unternehmer, die doch alle immer so lieb haben. Auf dem Papier. Nur müsste ihnen mal jemand sagen, dass der gesetzliche Mindestlohn ihnen die echte Dumpingkonkurrenz vom Leib hält und sie vor Verfolgung schützt.

Das aber habe ich noch nie irgendwo gehört.

FDP-Wirtschaftsfachmann Martin Lindner hat letztes Jahr aber dazu etwas sehr Treffendes gesagt: Der Charme des Tarifmodells liegt ganz woanders: Jede Regierung, die über Mindestlöhne im Gesetz zu entscheiden hätte, wäre einem immensen Wahlversprechens- Erwartungs- und Kritiksturm ausgesetzt. Die Linke fordert ja jetzt schon 10 EUR, obwohl es den Mindestlohn noch gar nicht gibt. Warum sollten sich aber Politiker von allen Seiten verprügeln lassen? Das können doch die Tarifpartner besser einstecken.

Die Lösung dafür gibt es aber auch: Nicht die Regierung beschließt den gesetzlichen Mindestlohn, sondern die Höhe wird von einer unabhängigen Kommission bestimmt. So macht man es im Mutterland des Kapitalismus (Großbritannien) und es funktioniert.

Lieber jedenfalls sähe ich es aus Unternehmersicht, wenn wir das jetzige Modell beibehielten, als wenn wir systematisch alle Brachen mit Mindestlohntarifen zupflastern. Dem Preisgefälle unter das Existenzminimum (die „Betondecke“ nennt Claudia Kornmeier sie) kann man indes nur mit einem bundeseinheitlichen, gesetzlichen Mindestlohn in den Griff bekommen. Ausschließlich.