Rechtsanwalt Wolf J. Reuter

Jacobsen Rechtsanwälte Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
10707, Berlin
18.01.2012

Der Todesschütze von Dachau und die Gnadenlosigkeit des Systems

Rechtsanwalt Jens Hänsch aus Dresden hat den Mut besessen, etwas aufzuschreiben, das auch uns hier seit dem Mord am Dachauer Staatsanwalt umtreibt. Das man schwer ins rechte Verhältnis zur Tat setzen kann, die wohl strafrechtlich, sicher aber laienhaft nur als gemeiner Mord bezeichnet werden kann und darf. Jens Hänsch schreibt etwas auf, auf das die Anwaltschaft verpflichtet ist, in diesem Zusammenhang hinzuweisen. Wir möchten uns anschließen:

Ein Mann erschießt im Gerichtssaal den Staatsanwalt. Aus Frust. Über – wie er es sieht – eine Justiz, die ihn zum ewigen Verlierer gestempelt hat, wie auch Rechtsanwalt Christoph Nebgen, ein Strafverteidiger, es hier schildert. Ihm aber muss man widersprechen: Der Täter hier ist nicht der „beratungsresistente“ Typ. Sondern der, bei dem das System die Falle hat zuschnappen lassen, bevor ihm klar war, dass überhaupt etwas schieflaufen könnte.

Es handelt sich beim Täter nicht etwa um einen Karrierestraftäter, der sich von kleineren Diebereien und Raub schon in jugendlichem Alter zu Körperverletzung und schließlich zur Tötung emporgeschaukelt hat, bei dem Sozialarbeit, Resozialisierung und Strafjustiz keine Wirkung zeigten. Ganz und gar nicht.

Der Mann war Unternehmer (Transportunternehmer). Alles auf eigenes Risiko, wie das bei Unternehmern so ist. Er war – durch die bürokratische Brille einer Staatsanwaltschaft betrachtet – ein leicht zu fassender, ja schon durch seine Existenz überführter Wirtschaftskrimineller der unteren Kategorie. Kein großer Steuersünder, dessen millionenschweres Sparmodell doch nicht klappte und der sich mit dem Finanzamt und dem Gericht auf einen ebenso millionenschweren Deal geeinigt hätte.

Nein:

Der Mann war, so seine Erfahrung, einfach Dreck. Weil er Unternehmer war, mit beschränkten Horizont vielleicht, der die Gepflogenheiten seines Gewerbes zu kennen meinte. Der wegen der volatilen Auftragslage meinte, richtig zu handeln, als er nur selbständige Fuhrunternehmer beauftragte, um die schwankende Auftragslage auszugleichen, die knappe Marge, die ihn scheitern ließ am Ende, nicht zu gefährden, der nie eine Leistung hätte anbieten können, wenn er sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse geschaffen hätte. Der vielleicht daran verzweifelte, als ein Arbeitsrichter ihm eine Abfindung aufdrängen musste, die er zu zahlen hatte, als er schon mit der Umsatzsteuer in Verzug war, die Kredite nicht mehr bediente – und einfach nicht verstand, warum er Abfindungen zahlen sollte, aber die Miete nicht mehr bezahlen konnte. Der bei Gericht vielleicht auch, wie so oft, um „Mitleid“ bat und nicht verstand, dass man ihm gerade das nicht gewähren konnte.

Jemand, der sicher sehr verzweifelt war.

Kollege Hänsch schreibt, er habe Unternehmer weinen sehen in solchen Situationen.

Es sind diese Unternehmer, die nicht auf dem IHK-Ball sind, sondern gerade so über die Runden kommen, gerade so. Wenn sie am Boden liegen, kommen die Verfolger und treten nach. Wer selbständig und wer abhängig ist, wissen im Sozialversicherungsrecht meist nicht einmal Fachleute. Jahrelange Streitigkeiten vor den Sozialgerichten finden darüber statt.

Dem Gesetzgeber ist die Abgrenzung völlig misslungen, es ist nicht einmal klar, ob er sich an ihr überhaupt versucht hat. Solche Unternehmer, die am Ende sind, bekommen ihre Strafanzeigen eigentlich nur aus systemimmanenten Gründen. Ein Sachbearbeiter bei einer Krankenversicherung entscheidet in seinem gesicherten Büro, dass er anzeigen „muss“, weil er ohne Straftat nach § 266a StGB die fehlenden Beiträge nicht zivilrechtlich gegen den Unternehmer gelten machen kann. Kriminalisierung als Instrument der Forderungsdurchsetzung.

Lächerlich:

Vom Unternehmer ist meist ohnehin nichts mehr zu holen. Während sich die Versäumnisurteile häufen, die Gegenwehr zusammenbricht, eidesstattliche Versicherungen abgegeben werden und am Ende gar nichts für die Kasse herauskommt, kann ganz am Ende die langsamste Justiz, die Strafjustiz, ja noch einen Strafanspruch vollstrecken.

Gegen jemanden, der nichts falsch gemacht zu haben meint. Der die Welt nicht versteht, in der er nach Pleite, Existenzverlust und schließlich meist auch familiärer Katastrophe als unrasierter, rötäugiger Sozialversicherungsbetrüger vor einem Amtsrichter und einem Staatsanwalt steht, die ihn bereits verurteilt haben. Denn die Rechtsprechung, worauf Kollege Hänsch hingewiesen hat, hat § 266a StGB dicht gemacht: Es handelt sich um ein Delikt, bei dem in der Praxis weder Vorsatz noch Motiv geprüft werden. Es wird alleine aufgrund der Nichtzahlung verurteilt. Objektiver Tatbestand belegt – unwiderlegbar – den angeblichen Vorsatz. Ende: Freiheitsstrafe.

Reizvoll, wenn, wie oft in der Zeitarbeit oder am Bau, die Anklage nur darauf basiert, dass nicht genug (Mindest-)lohn gezahlt wurde, so dass – logisch! – die Differenz sozialversicherungspflichtig war. Klar! Ein Hinterzieher! Ob das aufgrund eines dubiosen Tarifvertrags angenommen wird, der allgemeinverbindlich ist, dessen gesetzliche Voraussetzungen (eben im Hinblick auf die Allgemeinverbindlichkeit) nicht feststehen, ist einem Strafrichter egal. Er weiß im Zweifel über die Komplexität der sozial- und arbeitsrechtlichen Materie ebenso wenig, wie er die Lebenswelt des Unternehmers einschätzen kann. Er kommt aus einer anderen Welt. Aber der Unternehmer, der kommt vor den Strafrichter, als alles andere schon vorbei ist. Einen Anwalt kann er sich allzu oft schon nicht mehr leisten. Abgestumpft, ausgelaugt.

So ein Unternehmer hat hier geschossen. Die absolute rote Linie überschritten. An seiner Tat wird er zu tragen haben. Der junge Staatsanwalt hat davon nichts mehr. Der Fehler ist irreversibel und unentschuldbar.

Die Tragödie kann aber auch zum Umdenken anstoßen. Eine atrophierte, irrelevante Vorschrift, die nur aus Gewohnheit angewandt wird – und weil sie so leicht zu beweisen ist – und deren Sinn unerkennbar ist. Sie muss ebenso auf den Prüfstand wie ein System, das denjenigen, der sich vergeblich angestrengt und alles verloren hat, als Kriminellen brandmarkt, statt seinem Scheitern einen letzten Respekt zu zollen. Und ihn ziehen zu lassen.

Junge, talentierte Juristen wie das Opfer der Tat hätten bei den Staatsanwaltschaften andere Betätigungsfelder bekommen können. Ihren Intellekt einsetzen, um der antiquierten Behörde, in der manchen vor einem „Zwölfseiter“ (Verteidigungsschrift in Wirtschaftsstrafsachen) Angst haben und einen „Wirtschaftsreferenten“ brauchen, um eine Bilanz zu verstehen, auf die Beine gegen wahrhaft schädliche Wirtschaftskriminalität helfen.

Eine rein moralische, immanente Mitschuld trägt dieses System an der Tat, durch seine gnadenlose Härte gegenüber solchen, die längst gefallen sind. Es wird Zeit, einzusehen, dass die typischen §266a StGB-Täter ihre Entsprechung nicht in den Zumwinkels, Ackermanns oder Pierers haben. Sondern allenfalls in den Drogenjunkies, die einen Ladendiebstahl begehen.

Keine Entschuldigung. Aber eine Gelegenheit, es laut anzuprangern. Kollege Hänsch macht es, Kollege Nebgen übersieht es. Wie es bei Hänsch heißt: Das Urteil wird im Namen des Volkes gesprochen. Das muss auch eine Chance haben, zu verstehen, warum es eigentlich ein Urteil geben muss.

Ebenso nachdenklich und lesenswert wie bei RA Hänsch: RA Schöne im R24Blog: http://www.r24.de/strafrecht/4173.html