Rechtsanwalt Wolf J. Reuter

Jacobsen Rechtsanwälte Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
10707, Berlin
19.02.2013

Der SOKA-Walzer

Walzer drehen sich ja eher langsam. Mit der SOKA und den um sie herum anbrandenden Rechtsfragen verhält es sich ähnlich.

Es ist ja kein Geheimnis: Seit Ihr Autor letztes Jahr die Bundesrepublik (gerichtlich) gezwungen hat, mal auf den Tisch zu legen, wie man eigentlich (zahlenmäßig) zur Allgemeinverbindlichkeit der Bautarife gekommen ist, lassen diese Unterlagen sich beim BMAS anfordern. Dass sie erschreckend dünn sind, hatte ich schon einmal erwähnt. Seither werden sie aber – mit sehr unterschiedlichen Begleiterläuterungen – immer wieder zum Gegenstand von SOKA-Prozessen bei den Arbeitsgerichten gemacht. Denen muss man zugutehalten, dass sie sich bewegen, wenn auch langsam. Was das BMAS da aufgelegt hat, kann übrigens auch keinen Richter kalt lassen. Es ist einfach entsetzlich. Vor allem bei den Arbeitsgerichten in Wiesbaden und Berlin schaut man in letzter Zeit aber allzu erwartungsvoll auf die derzeit bei den Berufungsgerichten (LAG Hessen und LAG Berlin-Brandenburg) anhängigen Verfahren. Um von dort Weisheit zu bekommen. Klappt aber eher nicht, denn jeder Fall ist anders. So hat heute die 11. Kammer des LAG Berlin-Brandenburg (11 Sa 1617/12) kein Urteil, sondern einen Auflagenbeschluss verkündet. Das ist positiv, zeigt es doch, dass man die z.T. massive Kritik am System ernst nimmt (und auch nehmen muss). Auch in den noch erstinstanzlich anhängigen Verfahren zeichnen sich aber Missverständnisse und Fehler ab, die man unbedingt korrigieren muss. Dazu gehören:

1. Wer trägt was vor?

Immer neue Auflagen an die Parteien zu immer genauerem Vortrag überfordern beide. Zu Unrecht. Es geht um Statistiken, deren wesentliches Ergebnis übrigens (m.E.) ist, dass man angesichts des überdehnten Anwendungsbereichs der Bautarife gar keine rechtssichere Feststellung im Sinne von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG treffen könnte. Keine Feststellung = keine Allgemeinverbindlichkeit, muss dann aber die rechtsstaatlich richtige Gleichung lauten. Es zu „lösen“, indem man die Parteien darauf verweist, jeden Stein in der Statistik umzudrehen, ist verfassungswidrig. Die Rechtsprechung verlangt auch seit 1965 (4 AZR 385/63 = NJW 1965, 1624) nur, dass „augenfällige Umstände“ Zweifel an der AVE begründen. „Zweifel“ sind aber eben nur das, nicht etwa der „Beweis“ einer oder der anderen Seite. Das BAG geht davon aus, dass bei Zweifeln eine Amtsermittlung zu erfolgen hat, nicht etwa neue Auflagen an die Parteien. Zweifel = Amtsermittlung, lautet die Gleichung deshalb. Die Zweifel ergeben sich bereits aus der Schlampigkeit der Ermittlungen des BMAS, das blind einer ungeprüften Zahl der SOKA vertraut.

2. Was ist eine „richtige“ AVE?

Das Verfahren zu AVE krankt an mangelnder Transparenz, sicher. Aber sie ist einfach ein staatlicher Hoheitsakt. Der hat keine „Richtigkeitsvermutung“, denn die Unterlagen des BMAS belegen, dass dieses nicht sorgfältig gearbeitet hat.

Das wirft aber ein Problem auf: Darf das Arbeitsgericht einfach „richtig“ zählen, die Arbeit des BMAS dann machen und daraus ableiten, ob es die AVE nun falsch findet? Volker Rieble hat in seinem TVG-Kommentar (Löwisch/Rieble, TVG, 3. Auflage 2012) zu Recht eine andere Haltung eingenommen. Hier gilt vielmehr, was bei jedem anderen staatlichen Akt auch gilt, bei dem die Behörde einen Ermessens- oder Beurteilungsspielraum hat. Das Gericht darf nicht seine Beurteilung an die Stelle der Behörde setzen. Ist die Ermittlung falsch, muss die Behörde entscheiden, ob sie aufgrund der „richtigen“ Zahlen den Hoheitsakt noch einmal erlassen würde. Das ist ein tragendes Prinzip des Verwaltungsrechts und ein Gebot der Gewaltenteilung, das hier nicht einfach durchbrochen werden darf.

3. Ab wann ist der „Zweifel“ über die Erheblichkeitsschwelle gelupft?

Man kann nicht für einen „Zweifel“ strengere oder ebenso strenge Anforderungen stellen, wie für einen Vollbeweis. Das ist eigentlich offensichtlich. Viele gerichtliche Auflagen erinnern aber genau daran. Das ist falsch und verletzt die prozessualen Grundrechte der in Anspruch genommenen Partei. Teil des Problems ist dabei, dass der SOKA bewusst oder unbewusst gelungen ist, das Wort „Anscheinsbeweis“ in ihre Verfahren einzuführen, dass die AVE ein Anscheinsbeweis für ihre Richtigkeit sei. Das ist schlicht ein Holzweg. Die – rechtsstaatlich bedenkliche – These einer „Richtigkeitsvermutung“ ist nicht dasselbe. Ein Anscheinsbeweis gründet sich auf typische Kausalverläufe, vor allem technischer Art. Für eine rechtmäßige AVE mit tatsächlichen, statistischen Voraussetzungen passt das schon im Grundsatz nicht. Der Begriff wurde auch bislang nie vom BAG verwendet, sondern ist ein verbale Anschärfung durch die SOKA-Prozessbevollmächtigten, die einfach falsch ist: Beweisrechtlich falsch und ohne Grundlage in der Rechtsprechung. Das LAG Hessen (Urteil vom 28.11.2005 – 16 Sa 611/04) hat dem sogar mal eine Absage ausdrücklich erteilt.

Es wird also – erstaunlicherweise – noch eine Weile dauern, bis die Erkenntnis sich auch im Allgemeinverbindlichkeitsrecht Bahn bricht, dass der Staat im Rechtsstaat nicht tun kann was er will und dabei jeder richterlichen Kontrolle entzogen ist. Wir bleiben dran. Und wenn es um Reformen geht: Statt am Quorum des § 5 TVG herumzufummeln, könnten auch klare Regeln und ein öffentliches Verfahren der AVE zum Überleben verhelfen. Nur nicht der für die Bautarife, zugegeben. Deren AVE ist einfach ein Skandal.