Rechtsanwalt Wolf J. Reuter

Jacobsen Rechtsanwälte Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
10707, Berlin
23.09.2010

Der EGMR schießt das deutsche Kirchenarbeitsrecht sturmreif - Oder: Menschenrechte auch für Kirchenmitarbeiter

 Beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hat sich heute - weitegehend unbemerkt - der denkbare Anfang vom Ende des deutschen Kirchenarbeitsrechts angebahnt. Das Kirchenarbeitsrecht ist zunehmend Gegenstand heftiger Kontroversen.  Seit es auch über Fachkreise hinaus bekannt ist, dass in den Kirchen aufgrund der Verweisung des Grundgesetzes auf die Weimarer Reichsverfassung (die den beiden großen christlichen Kirchen de facto als einzigen Religionsgemeinschaften ein absolutes Selbstbestimmungsrecht einräumt) nicht nur keine Tarifverträge, sondern auch einen “besonderen” Kündigungsschutz gibt. Die Arbeitsgerichtsbarkeit schützt das. Deshalb kommt es zu so eigenwilligen Fällen wie dem hier berichteten des Arztes, der ein zweites Mal heiratete und deshalb aus einem kirchlichen Krankenhaus heraus fristlos gekündigt wurde. Unter Geltung katholischer Moralvorstellungen ist eine Wiederheirat eben ausgeschlossen. Mindestens ebenso problematisch ist, wenn ein Organist sich von seiner Frau trennt, eine neue Beziehung eingeht und aus dieser ein Kind entsteht. Berhard Schüth verlor genau deshalb seine Anstellung als Organist. Er klagte sich durch alle Instanzen - bis zum Bundesarbeitsgericht, ja bis zum Bundesverfassungsgericht; und unterlag, notwendigerweise: Nach deutschem Arbeitsrecht ist es das Recht der Kirchen, ihren Mitarbeitern die eigenen Moralvorstellungen als verbindlich vorzuschreiben. Die Kollision mit anderen Fundamentalrechten ist offensichtlich. Sie würde bereits unser Grundgesetz in Art. 6 die “Neufamilie” des Organisten ebenso schützen wir die “alte”. Wäre er nicht bei einer Kirche, sondern einem gewöhnlichen Arbeitgeber beschäftigt, dürfte die Kündigung nicht nur unwirksam sein, sondern wäre als sittenwidrig (§ 138 BGB) einzustufen - das schärfste Urteil über eine rechtliche Willensäußerung. In der Kirche ist es aber eben diametral anders. Die Kritik daran ist nicht neu. Sie basiert auch auf einem sehr überraschenden internationalen Vergleich: Das scheinbar oder gefühlt säkulare Deutschland leistet sich dieses Sonderrechtsgebiet, in gefühlt besonders religiösen Ländern sind dagegen alle Arbeitnehmer vor dem Gesetz meist gleich. Deutschland ist Signatarstaat der europäischen Menschenrechtskonvention. Verstöße gegen dieses internationale Abkommen können daher vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (nein. Nicht dem “Europäischen Gerichtshof”, wie jetzt wieder in der Presse zu lesen ist) gerügt werden. Die Entscheidung des BAG in seinem Fall nahm Herr Schüth daher zum Anlass, die Bundesrepublik vor dem EGMR zu verklagen. Und kann nun einen Erfolg verbuchen, der vielleicht den Weg zu einer Revolution des Arbeitsrechts ebnet. Nach Auffassung der “kleinen Kammer” des EGMR stellt das deutsche Kirchenarbeitsrecht tatsächlich eine Verletzung von Art. 8 der EMRK dar. Damit scheint der Weg in den Tod des Kirchenarbeitsrechts durchaus vorgezeichnet. Das Urteil liegt derzeit nur auf Französisch vor und ist erst am heutigen Tage um 11.00 Uhr veröffentlicht. Wer will, kann es sich hier ansehen. Die englischsprachige Pressemitteilung ist ebenfalls informativ. Was heißt das für Deutschland? Nun, der EGMR hat dem BAG vorgehalten, sich kritiklos auf die Seite der Kirche geschlagen zu haben. Der Gerichtshof meint hingegen, die deutschen Gerichte hätten die eventuell legitimen Interessen der Kirche abzuwägen gegen die aus der EMRK folgenden Menschenrechte der Betroffenen. Ausgerechnet dem BAG - dem deutschen Abwägungsweltmeister - eine fehlende Abwägung vorzuhalten - das ist alleine eine Nachricht wert: Der EGMR meint wörtlich, “… The labour courts had moreover made no mention of Mr Schüth’s de facto family life or of the legal protection afforded to it. The interests of the Church employer had thus not been balanced against Mr Schüth’s right to respect for his private and family life, but only against his interest in keeping his post. A more detailed examination would have been required when weighing the competing rights and interests at stake…” Das ist aber jedenfalls das Ende der absoluten Selbstbestimmung im Individualarbeitsrecht. Das BAG hat seine Position nicht deshalb eingenommen, weil es zu unfähig zum Abwägen ist, sondern weil bislang das Dogma galt, dass es die Kirchen in ihrer Selbstbestimmung sind, die ihre Regeln aufstellen. Die Gerichte können demnach nur noch die Verletzung dieser Regeln feststellen, aber sie nicht relativieren oder hinterfragen. Damit ist Schluss. Überspitzt ausgedrückt: Menschenrechte gelten auch für Kirchenmitarbeiter. Das ist ein gutes Ergebnis. P.S. Ein bisschen erinnert das ja an Emmely, unseren Lieblingsfall. Da war es das BAG, das mehr Abwägung gefordert hat. Jetzt muss es selbst ran. Glückwunsch dem Kläger, der diesen Riesenweg durchgehalten hat.