Rechtsanwalt Wolf J. Reuter

Jacobsen Rechtsanwälte Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
10707, Berlin
10.06.2013

Der Deich hält. Im AGG.

Es ist wirklich Zufall, dass es heute wieder um Bayern geht. Und es geht nicht um die aktuellen Fluten (in Passau etwa), sondern um das AGG. Und die bayerische Justiz steht ganz gut da – wir reden ja auch von der Arbeits- nicht der Strafjustiz. Das kann einen erheblichen Unterschied machen.

Bevor Sie jetzt abschalten, weil ich den rechten Weg verlasse, lassen Sie mich mal etwas fragen:

Was ist im Sinne von § 1 AGG eigentlich unter “Weltanschauung” zu verstehen?

Man darf nicht diskriminiert werden, heißt es ja im Gesetz, wegen seiner:

Religion oder Weltanschauung

Das sind also zwei verschiedene Sachen. Ausprobiert wurde es ja für den Marxismus. Das Arbeitsgericht Berlin (Urteil vom 30.07.2009 – 33 Ca 5772/09) hat, so kann man in der Literatur vielfach nachlesen, dieses Geschwurbel als „Weltanschauung“ gesehen. Steht so bei Schlachter in der 13. Auflage der Erfurter Kommentars (§ 1 AGG Rd.-Nr. 9). Stimmt aber nicht ganz. Das Arbeitsgericht hat dahinstehen lassen, ob es eine Weltanschauung sein könne, weil auch dann kein Anspruch gegeben sei. Und sich den Schweiß von der Stirn gewischt. Die Frage ist also ungeklärt und vor allem umstritten.

Durch eine Beitrag von Ralph Sauer Ralph Sauer bin ich auf eine mir bisher unbekannte Entscheidung des LAG München (Urteil vom 10.01.2012 – 7 Sa 851/11) aus dem Januar 2012 aufmerksam geworden.

Sie werden es nicht glauben, aber da wollte einer 120.744,00 EUR haben, weil er sich weltanschaulich diskriminiert fühlte. Denn seine Weltanschauung bestand darin, dass in betriebsratsfähigen Betrieben (mehr als fünf Arbeitnehmer) auch Betriebsräte zu bilden sein. Sein Arbeitgeber war nicht seiner Meinung.

Böse Situation.

Deshalb musste das LAG München tiefer bohren als seinerzeit unser Arbeitsgericht in der Hauptstadt. Dass der Kläger daran glaubte, das BetrVG gebe nicht nur die Möglichkeit, sondern geradezu den Auftrag, Betriebsräte einzurichten, konnte man dem Mann wirklich schwer absprechen. In den USA konnte man 1977 auch einem Kläger nicht absprechen, dass er daran glaubte, Katzenfutter essen zu müssen (vor seinen Kollegen). Aber wann wird eine noch so absurde Überzeugung eine Weltanschauung? Überzeugungen lassen sich ja atomisieren und auf den Einzelfall beschränken; der Arbeitnehmer mag daran glauben, dass es der Seele des Vorgesetzten guttut, ihn gerade jetzt mit der Faust ins Gesicht zu schlagen – vielleicht transzendental zu erwecken – oder ihn mit dem A…-Wort zu belegen. Ist er dann gleich diskriminiert, wenn man das nicht hinnehmen will?

Es wundert nicht:

Die Frage, was eine „Weltanschauung“ sein kann, ist zutiefst umstritten. Das LAG München musste als erstes Farbe bekennen. Seine Lösung sieht wie folgt aus:

Der Begriff der Weltanschauung meint eine nichtreligiöse Sinndeutung der Welt im Ganzen, getragen von einem mit dem einer Religion vergleichbaren Geltungsanspruch

Das heißt: Irgendwie alles oder fast alles muss die „Weltanschauung“ erklären. Erklärt sie nur meinen gegenwärtigen Ärger auf einen Chef oder Kollegen, dann versucht sie ja erst gar nicht, die Welt zu erklären.

Andererseits – das hat der Kläger hier auch ins Feld geführt – ist die Übersetzung der einschlägigen Richtlinie in andere Unionssprachen nicht mit einem Begriff erfolgt, der den spezifisch deutschen Begriff der „Weltanschauung“ reflektiert, den vermutlich auch nur wir kennen (weil wir die meisten davon im 20. Jahrhindert erfunden haben?); andere übersetzen eher mit „Überzeugung“ („belief“), was viel weniger ist und Raum für Überzeugungen auch nur in Teilbereichen des Lebens einschließt. Dem steht, so das verzweifelte Argument des LAG, dann aber der Wortlaut des deutschen Gesetzes im Weg, denn „Weltanschauung“ ist halt umfassend:

Die Berufungskammer sieht sich aber auch bei einer Auslegung des § 1 AGG „im Lichte der Richtlinien der Europäischen Union“ wie vom Kläger postuliert nicht in der Lage, über den möglichen Wortsinn des Begriffs der Weltanschauung hinauszugehen. Aus diesem möglichen Wortsinn ergibt sich zur Überzeugung der Berufungskammer im Einklang mit der zur Verfügung stehenden Literatur, dass die Menschen nach dem Willen des Deutschen Gesetzgebers vor Benachteiligungen wegen Überzeugungen geschützt sein sollen, die auf einem der Religion ähnlichen Niveau und einer ganzheitlichen Weltsicht beruhen.

Da mag man zustimmen, aber Jurastudenten werden die Lektion in Gerichtslogik schwer verdauen. Diskriminiert fühlte sich der Kläger nämlich durch mehrere unwirksame Kündigungen ihm gegenüber. Nach § 2 Abs. 4 AGG ist das ganze Gesetz nicht auf Kündigungen anwendbar. Dazu meint das LAG in Rd.-Nr. 81 seiner Entscheidung, dass

das Kündigungsrecht entweder unionsrechtskonform auszulegen ist oder § 2 Abs. 4 AGG europarechtswidrig ist und aus diesem Grund die Anwendung des AGG für Kündigungen aus einem der in § 1 AGG genannten Gründe nicht ausschließen kann

und bestätigt damit den Befund, dass nicht deutsches Recht, gilt, sondern im Zweifel europäisches. Daran haben wir uns von Kündigungsfristen bis Urlaubsrecht ja gewöhnt. Schwer verdaulich bei so viel Leichtigkeit mit den Gesetzes des Deutschen Bundestags ist, dass es eben dann drei Randnummern weiter heißt, es tut uns leid, aber es mag „Überzeugung“ gemeint sein, der deutsche Gesetzgeber hat indes „Weltanschauung“ geschrieben, puh, Gottseidank, das können wir halt nicht anders entscheiden, Weltanschauungen sind ganzheitlich (gedacht: „Basta!“). Wieso, wenn Europa es doch anders gemeint hat? Der Gesetzgeber wollte auch einen Urlaubsverfall zum Jahresende, Europa aber nicht.

So ist das LAG für die Abwehr dieses hanebüchenen Schwachsinns Arguments zu loben. Aber ein intellektuelles Loch bleibt und irgendwann wird jemand durch die Lücke brechen wollen.

Ich pflege deshalb mal so lange die persönliche Weltanschauung, dass ich immer im Recht bin, auch wenn ich zu etwas keine Meinung haben sollte. Ab heute probiere ich das an Kollegen, Mitarbeitern, Mandanten und Gegnern, vor allem aber Richtern aus. Mal sehen, wohin das führt…