Rechtsanwalt Wolf J. Reuter

Jacobsen Rechtsanwälte Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
10707, Berlin
13.09.2010

1,8 Cent Stromdiebstahl - Litigation-PR und der Auflösungsantrag nach § 9 KSchG

 Wer - wie wir - das Thema “Bagatelldelikte” endlich begraben wollte, wurde jetzt noch einmal aus der Totenstarre geschreckt. Das LAG Hamm hatte nämlich noch über das Bagatelldelikt zu entscheiden, das wir ursprünglich mal für eine Zeitungsente (zur Verschärfung der öffentlichen Debatte) gehalten haben: Netzwerkadministrator lädt Elektroroller am Arbeitsplatz für 1,8 Cent (nicht: Euro) auf und bekommt dafür die Fristlose. Stromdiebstahl ist strafbar (§ 248c StGB - Entziehung elektrischer Energie). Aber auch ohne “Emmely” hätte die Kündigung wohl nur unter außergewöhnlichen Bedingungen Aussichten auf Erfolg gehabt. Das LAG Hamm fand sie übertrieben. Interessanter als die ewige Diskussion um die Bagatelle ist, dass der Arbeitgeber hier einen sog. Auflösungsantrag gestellt hatte, mit dem er ebenfalls gescheitert ist. Für Juristen ist das so ähnlich wie die Lösung des eingeklemmten Holzfällers aus Kalifornien, der sich vor drei Jahren mit dem Taschenmesser das Bein amputierte. Eine Verzweiflungstat. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG sieht etwas Ungewöhnliches vor: Der Arbeitnehmer gewinnt den Prozess (die Kündigung ist unwirksam), auf Antrag des Arbeitgebers muss er aber trotzdem gehen. Allerdings mit Abfindung, die bis zu 12 oder gar 15 Monatsverdienste erreichen kann und vom Gericht festgesetzt wird. Der Auflösungsantrag ist ein echter Exot. Das liegt auch am Abfindungsrahmen, der mal zu hoch, mal zu niedrig erscheint und vor allem nicht verhandelbar ist. Es liegt aber auch an der notwendigen Begründung, die man für einen Erfolg braucht. Sie lautet in etwa, die Kündigung müsse zwar als ungerechtfertigt angesehen werde, aber trotzdem könnten diese beiden wohl nicht mehr miteinander arbeiten. Eigentlich systemwidrig und widersprüchlich, aber eben ein Notfallventil. Die wenigen Fälle, die dazu überhaupt dokumentiert sind, beschäftigen sich meist mit dem Verhalten während der Kündigungsschutzprozesse. Nicht selten fetzt man sich vor Gericht ja erst richtig, das verblieben Porzellan wird unter den peinlich berührten Augen aller beteiligten Juristen zerkloppt. Alle sind höchst angespannt. Bei verhaltensbedingten Kündigungen erleben wir auch regelmäßig, dass selbst sachliche Schriftsätze zivilisierte Menschen in die Schmollecke treiben (”…ich sage dem nicht mal mehr guten Tag!”…). Highlight eines Kollegen, der meist Arbeitnehmer vertritt und Folgendes berichtete: Kündigungsschutzklage. Der Gegenanwalt reicht seine Klageerwiderung ein. Was steht da am Anfang? Der Klageabweisungsantrag! Reaktion des Mandanten: Sofortiger Anruf beim Anwalt. Ob der schon gelesen habe, was die Gegenseite da geschrieben habe? Antwort des Anwalts - ich habe es Ihnen erst mal weitergeleitet, wir haben noch fünf Wochen, außerdem wollten wir doch einen Termin wegen des Schriftsatzes machen. Mandant: Können wir uns sparen. Der hat allen Ernstes Klageabweisung beantragt. KLAGEABWEISUNG! Ob der sie noch alle hätte! Der bestreite ja scheinbar alles! Da müsse doch auch ein Richter sehen…”. Das Missverständnis ließ sich nie mehr aufklären. Für einen Auflösungsantrag (diesmal arbeitnehmerseitig) reicht die Unverschämtheit, eine Klageabweisung zu beantragen, natürlich nicht. Beim Elektroroller ist aber etwas geschehen, das wir in Prozessen zunehmend beobachten: Die Einbindung und der Gebrauch/Missbrauch der Presse. Ob Bagatelle oder Ossi, ob Kachelmann oder Zumwinkel: Die Presse wird eingebunden und man versucht, sie für die eigene gerechte Sache einzuspannen. Da geht es auch schon mal darum, als “Opferanwalt” oder Verteidiger von Arbeitnehmerrechten in der Presse zu stehen. Verständlich: Wir armen Schweine (Arbeitgebervertreter) können so viel Presse haben, wie wir wollen. Kein Betrieb wechselt seine arbeitsrechtliche Betreuung aus, nur weil in der Presse steht, der Reuter habe diesen oder jenen Fall gewonnen. Hat man aber eine konsumentenorientierte Praxis, wird der Kunde natürlich eher den Weg zum berühmten Opferanwalt als zu einem anderen Kollegen finden. Es gibt dafür bereits ein eigenes Wort - “Litigation PR”. Wer mal von einem Medien-Tsunami (Wolfgang Nau) erwischt wurde, den die andere Prozesspartei bewusst inszeniert hat, weiß, wie unangenehm die Arbeit dann wird. Den Schaden hat fast immer der beteiligte Arbeitgeber (wenn es um das Arbeitsrecht geht, natürlich; im Fall Kachelmann etwa ist der Schaden breiter gestreut). Hier - im Elektrorollerfall - hatte der Betroffene nicht nur aggressive Presseinterviews gegeben, sondern z.B. auch Handzettel verteilt (im Betrieb), die auf den Prozess hinwiesen. Das LAG Hamm hat wohl (das ausformulierte Urteil ist noch nicht zugänglich) geurteilt, die “Pressearbeit” sei als Auflösungsgrund zwar prinzipiell geeignet, hier habe aber der Arbeitnehmer von sich aus nicht die Presse angegangen, so dass alles andere eine natürliche Folge des Verfahrens sei. Ob das stimmt? Pressearbeit setzt immer voraus, dass man auch mit der Presse redet. Die Initiative liegt fast immer bei der Presse. Aber jedem steht es ja offen, zu schweigen, auch auf Nachfrage. Natürlich: Wer kann schon etwas dafür, dass über seine Fall überhaupt berichtet wird. Aber gezielte Litigation PR als Auflösungsgrund - das scheint mir ein Thema zu sein, das noch entwicklungsfähig ist. Übrigens: Kaisers hatte bei Emmely keinen Auflösungsantrag gestellt. Bei der PR-Kampagne, die sie losgetreten hatte, wäre das “Grundsatzurteil” sonst vielleicht wirklich eins geworden. Denn auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätte Kaisers mit dem Antrag Erfolg haben müssen.