Eva Engelken

Unternehmenskommunikation & Legal PR
41061, Mönchengladbach
12.10.2018

Der Fall Sigi Maurer: Frauen müssen nicht schweigen, um Täter zu schützen

Wenn der Rechtsschutz Lücken hat, müssen die obersten Gerichte sie schließen. Der Fall der wegen übler Nachrede verurteilten österreichischen Grünen-Politikerin Sigi Maurer ist so einer.

Was ist passiert? Eine junge Politikerin wird per Facebooknachricht in vulgärer Weise angemacht. Als sie sich per Strafanzeige wehren möchte, erfährt sie, dass die Attacke nach österreichischem Recht nicht strafbar ist, da sie nur im privaten Facebookpostfach gelandet ist und nicht in der öffentlichen Timelime.

Öffentlichkeit herstellen, wenn das Strafrecht nicht hilft

Schon bei dieser Information sträuben sich einem die Nackenhaare, doch Sigi Maurers Fall geht noch weiter. Wenn das Recht nicht hilft, hilft vielleicht öffentliche Kontrolle, dachte sich die Politikerin. Also veröffentlicht sie die schmierigen Facebooknachrichten und den Namen des mutmaßlichen Absenders auf Twitter. Der ist Inhaber eines Bierladens, vor dem sie unmittelbar vor Erhalt der Nachrichten „von Männern belästigt und angepöbelt worden“ war. Der Bierladenbesitzer verklagt sie wegen übler Nachrede und Kreditschädigung. Das erstinstanzliche Gericht verurteilt sie wegen übler Nachrede zu insgesamt 7000 Euro Straf- und Schmerzensgeld.

Was die nächste Instanz im Fall Sigi Maurer prüfen könnte: Notwehr

Zum Glück ist das Urteil noch nicht rechtskräftig und gottseidank will Sigi Maurer mit ihrer Anwältin in Berufung gehen. Es ist Zeit, dass Gerichte die Lücke im Rechtsschutz für Frauen schließen.

Die Frage, die sie klären müssen, lautet:

Dürfen sich Frau gegen anonyme sexistische Attacken in den sozialen Medien wehren?

Mein Rechtsgefühl sagt: Sigi Maurer durfte sich mit der Veröffentlichung der Facebooknachrichten auf Twitter wehren. Mehr noch: sie musste es sogar, um ihren Platz in der Gesellschaft als Frau und Politikerin zu behaupten.

Könnte die Politikerin vielleicht aus Notwehr gehandelt haben?

Der Gesichtspunkt, unter dem man die Twitter-Veröffentlichung betrachten sollte, ist der Rechtfertigungsgrund der Notwehr. Notwehr im strafrechtlichen Sinne ist eine Maßnahme, die geeignet, erforderlich und angemessen ist, einen rechtswidrigen Angriff abzuwehren. Begeht jemand aus Notwehr eine Straftat, ist die Tat gerechtfertigt und im Ergebnis nicht strafbar. Auf Sigi Maurer bezogen: War die “üble Nachrede” Notwehr, wäre sie nicht strafbar.

Sind obszöne Facebooknachrichten ein “rechtswidriger Angriff”?

Die erste Hürde ist die Frage: Lag überhaupt ein gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff vor? Bezogen auf Sigi Maurer: Waren die sexistischen Nachrichten ein solcher Angriff ? Von Juristinnen erfuhr Sigi Maurer , dass sie zumindest nach österreichischem Recht keine strafbare Beleidigung darstellten, weil diese Öffentlichkeit verlangt.

Die Berufsinstanz könnte aber prüfen: Lag nicht dennoch ein rechtswidriger Angriff auf Rechtsgüter der Politikerin und Frau Sigi Maurer vor?

Bedrohliche Gesamtsituation: Anpöbeln auf der Straße und “Einladen zum Schwanzlutschen”

Betrachten wir die Gesamtsituation. Laut Pressebericht wurden die obszönen Nachrichten an Sigi Maurer verschickt – vom Facebookaccount des Ladenbesitzers – , kurz nachdem sie persönlich bei diesem Geschäft war und von Männern angepöbelt wurde.

Ging es also nicht nur gegen die schmierigen Chatmitteilungen, sondern auch um die Belästigung durch den Ladenbesitzer und die Männer vor dem Laden? Könnte beides zusammen den Tatbestand einer Nötigung erfüllen?

Wurde Sigi Maurer genötigt? Halt den Mund oder du wirst attackiert?

Eine Nötigung im strafrechtlichen Sinne liegt vor, wenn der Täter sein Opfer durch das In-Aussicht-Stellen eines Übels zu einem bestimmten Verhalten bringt. Bevor Sigi Maurer die Facebooknachrichten erhielt, wurde sie vor dem Bierladen von Männern angepöbelt, dann wurde sie via Facebook “eingeladen”, beim nächsten Besuch des Bierhändlers einen “Schwanz” zu “lutschen”. Als Frau übersetze ich das mit: „Wenn du dich nochmal bei meinem Bierladen zeigst, wirst du wieder angepöbelt, sexistisch beleidigt oder konkret sexuell attackiert.“

Ich brauche nicht viel Fantasie, um in dem Gesamtkomplex eine Bedrohung von Sigi Maurer zu erkennen: auf ihre Gesundheit und im weiteren Sinne auf ihre Bewegungsfreiheit und ihre Arbeit als Politikerin.

War die Bedrohung für Sigi Maurer “gegenwärtig”?

Eine besondere Anforderung des Notwehrrechts ist es, dass der Angriff „gegenwärtig“ sein muss. Man darf sich nicht präventiv gegen zukünftige Angriffe wehren. Ich glaube aber, die Berufungs- oder Revisionsinstanz könnte die Gegenwärtigkeit des rechtswidrigen Angriffs durchaus bejahen. Und zwar weil die “Bedrohungslage” fortbestand. Ihr war implizit angedroht worden, dass Angriffe folgen könnten, wenn sich sich nochmal in die Nähe des Bierladens begeben würde.

Geeignet, erforderlich und angemessen?

Die zweite Hürde, die die Twitterveröffentlichung überwinden müsste: War sie die Notwehrhandlung geeignet, erforderlich und angemessen, um den Angriff zu beenden? An der Geeignetheit dürfte das höhere Gericht keine allzugroßen Zweifel hegen. Eine anonyme Bedrohung publik zu machen, um den Bedroher dazu zu bringen, von seiner Bedrohung abzulassen, ist ein gangbarer Weg.

Welche Wahl haben Frauen: Rückzug aus der Öffentlichkeit oder Gegenwehr?

Interessant wird’s bei der Prüfung der Erforderlichkeit der Notwehr. Denn hier müsste das Gericht erörtern, was eine Frau in der Gesellschaft darf.

Erforderlich im juristischen Sinne ist eine Notwehrhandlung, wenn es kein milderes, gleich geeignetes Mittel gibt, den Angriff zu stoppen.

  • Eine Strafanzeige war keine Möglichkeit für Sigi Maurer, weil die Facebooknachrichten als Privatnachrichten nach österreichischem Recht keine justiziable Beleidigung darstellten.

Was hatte sie sonst für Möglichkeiten?

Eine sichere Methode, sich einer Nötigung und künftigen Belästigung durch den Bierladenbesitzer oder andere  Männer zu entziehen, ist der Rückzug. Hätte Sigi Maurer aufgehört, sich politisch zu äußern oder Orte zu meiden, wo sie beleidigt wird, hätte sie mit einer gewissen Logik weitere Attacken  ausgeschlossen.

Kurze Röcke zu vermeiden und abends nicht auszugehen, bietet keinen Schutz vor sexueller Belästigung

Diese Logik erinnert fatal an Ratschläge an Frauen, doch besser keine kurzen Röcke anzuziehen, damit sie nicht vergewaltigt werden. Wie die Erfahrung lehrt, liegt es jedoch nicht am kurzen Rock, ob Frauen vergewaltigt werden oder nicht, sondern am mangelnden Respekt. Folgerichtig hat Sigi Maurer das Richtige gemacht, als sie sich gewehrt hat, anstatt sich als Politikerin mundtot machen und ihren Bewegungsradius als Frau einengen zu lassen.

Angemessenheit: in der Waagschale liegen Bewegungs- und Redefreiheit der Frau gegenüber dem guten Ruf ihres Agressors

Nehmen wir an, auch das Berufungs- oder Revisionsgericht käme zu der Ansicht, dass die Twitterveröffentlichung eine erforderliche Notwehrhandlung war, bleibt immer noch dritte Hürde: Die Notwehrhandlung müsste angemessen gewesen sein.

Wenn Juristen die Angemessenheit einer Notwehrhandlung prüfen, wägen sie kollidierende Rechtsgüter gegeneinander ab. Rechtsgüter, die auf Sigi Maurers Seite in der Waagschale liegen, sind, wie schon erwähnt, ihre sexuelle Selbstbestimmung, ihre körperliche Unversehrtheit und ihre Bewegungs- und Redefreiheit als Frau und Politikerin. Was für den Bierladenbesitzer in der Waagschale liegt, sind sein guter Ruf und seine Kreditwürdigkeit, beides unverzichtbare Faktoren für seine berufliche Existenz.

US-Richter Brett Kavanaugh hatte kein Recht auf das Schweigen von Blaisey Ford

Hätte Sigi Maurer also lieber schweigen sollen, um das Geschäft eines sie mutmaßlich belästigenden Mannes nicht zu gefährden? Es gehört nicht viel dazu, hier Parallelen zum Fall Kavanaugh zu erkennen. Den mittlerweile vereidigten Richter am US-Supreme Court nahm US-Präsident Trump in seiner ganzen Frauenfeindlichkeit zum Anlass, von einer Gefährdung der Männer “Scary times” zu sprechen, und zwar durch Frauen, die die Karrieren der Männer gefährden, indem sie sexuelle Attacken publik machen. In Trumps irrem Universum hatte Brett KavanauAbergh ein Recht darauf, nicht für seine mutmaßlichen sexuellen Attacken zur Schau gestellt zu werden?

Die Europäische Menschenrechtscharta gibt Tätern kein Recht auf das Schweigen ihrer Opfer

Nach Trumps Meinung hätte Blaisey Ford schweigen müssen, um Kavanaughs Karriere nicht zu gefährden. Aber Trumps frauenfeindliches Weltbild ist nicht das der europäischen Menschenrechtscharta, die in letzter Instanz für Sigi Maurers Notwehr gilt. Nach unserer Rechtsordnung haben Täter kein Recht darauf, dass Opfer schweigen, um ihnen eine rechtsstaatliche Sanktionierung zu ersparen. Im Gegenteil.

Es ist Zeit, dass Frauen sich zur Wehr setzen

Wir haben das Jahr 2018, und Frauen haben lange genug geschwiegen: über sexuelle oder sonstige Attacken auf ihre Körper, ihre Redefreiheit und letztlich auf ihre gesamte Teilhabe an der Gesellschaft. 100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland ist es an der Zeit, dass Frauen den Mund aufmachen und Attacken oder Bedrohungen öffentlich machen. Das gilt für Österreich genau so wie für Deutschland, Frauen wie die Moderatorin Dunja Hayali, die Publizistin Alice Schwarzer, die Komikerin Carolin Kebekus,  und viele andere reflexartig mit Attacken überzogen werden, sobald sie den Mund aufmachen.

Auch wenn Angriffe nicht strafbar sind, bleiben sie dennoch Angriffe

Frauen dürfen und sollten sich wehren dürfen. Das gilt auch, wenn Angriffe wie im Fall von Sigi Maurer durch eine rechtlich nicht geschützte Lücke kommen, wie über eine sogenannte Privatnachricht im Facebook-Account.  Denn das Attacken auf Frauen via Social Media und „Privatnachrichten“ gefahren werden, macht sie nicht zu Nicht-Attacken.  Entsprechend müssen sich Frauen dagegen wehren, um ihre Rechte zu verteidigen. Sigi Maurer hat alles richtig gemacht. Es ist Zeit, dass Gerichte das bestätigen.

The post Der Fall Sigi Maurer: Frauen müssen nicht schweigen, um Täter zu schützen appeared first on Klartext-Anwalt.