Urteil des VG Stuttgart vom 27.08.2014

VG Stuttgart: rohbau, wehr, hauptsache, vereitelung, bad, grundstück, rechtsschutz, rechtsverletzung, verfahrensbeteiligter, verwaltungsgerichtsbarkeit

VGH Baden-Württemberg Beschluß vom 27.8.2014, 3 S 1400/14
Leitsätze
1. Bei der Klage eines Nachbarn gegen die Baugenehmigung für ein Ein- oder (kleineres)
Mehrfamilienwohnhaus im Hauptsacheverfahren ist in Anwendung des Rahmenvorschlags aus
Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs 2013 regelmäßig ein Streitwert von 10.000 EUR festzusetzen
(Anschluss an VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 13.8.2014 - 8 S 979/14 -).
2. Das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag des Baunachbarn nach §§ 80a Abs. 3 Satz 1,
Abs. 1 Satz 2, 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO entfällt mit der Fertigstellung des Rohbaus, wenn sich der
Baunachbar nur gegen Beeinträchtigungen zur Wehr setzt, die von der Errichtung der baulichen
Anlage als solcher ausgehen (Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung).
Tenor
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe
vom 3. Juli 2014 - 6 K 1388/14 - wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert für das Verfahren in beiden Rechtszügen wird - unter Abänderung der
Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts - auf jeweils 10.000 EUR festgesetzt.
Gründe
1 Die fristgerecht eingelegte (§ 147 Abs. 1 VwGO) und begründete (§ 146 Abs. 4 Satz 1
VwGO) Beschwerde der Antragstellerin bleibt in der Sache ohne Erfolg. Denn das
Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO
beschränkt ist, ist nicht geeignet, die Richtigkeit der Entscheidung des
Verwaltungsgerichts in Frage zu stellen, mit der das Gericht den Antrag der Antragstellerin
nach §§ 80a Abs. 3 Satz 1, Abs. 1 Satz 2, 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Anordnung der
aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen die der Beigeladenen erteilte
Baugenehmigung zum Umbau eines Gemeindehauses abgelehnt hat.
2 1. Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der
Antrag der Antragstellerin sei zulässig, auch wenn die im Zuge des Umbaus des
Gemeindehauses geplante Aufzugsanlage bereits im Rohbau errichtet worden sei, da sich
die Antragstellerin nicht nur gegen die Auswirkungen der Anlage auf die Belichtung,
Belüftung und Besonnung ihres Wohnhausgrundstücks wende, sondern sich auch darauf
berufe, dass es durch die Nutzung der Anlage zu Lärmimmissionen komme. Der Antrag
habe jedoch in der Sache keinen Erfolg, da das Interesse der Beigeladenen an der
sofortigen Vollziehbarkeit der Baugenehmigung das gegenläufige Interesse der
Antragstellerin überwiege. Zwar erscheine es als offen, ob die in geringer Entfernung zum
Grundstück der Antragstellerin geplante Aufzugsanlage den erforderlichen Grenzabstand
einhalte, was im Hauptsacheverfahren weiter aufzuklären sei. Das Interesse der
Beigeladenen an der sofortigen Vollziehbarkeit der Baugenehmigung habe dennoch
Vorrang vor dem gegenläufigen Interesse der Antragstellerin, da die geplante
Aufzugsanlage fast vollständig fertiggestellt und weder vorgetragen noch erkennbar sei,
weshalb es durch die Nutzung der eingehausten Anlage zu unzumutbaren
Lärmimmissionen auf das Wohngrundstück der Antragstellerin kommen solle.
3 2. Die Antragstellerin wendet hiergegen ein, das Verwaltungsgericht sei von falschen
Tatsachen ausgegangen, da zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die Aufzugsanlage noch
nicht vollständig im Rohbau errichtet gewesen sei. Fotografien belegten, dass die Anlage
zu einer Seite hin noch offen gewesen sei und der Dachabschluss gefehlt habe. Zudem
hätten die Antragsgegnerin und die Beigeladene das Verfahren missbräuchlich in die
Länge gezogen. Daher sei es unbillig, wenn das Verwaltungsgericht zwar anmahne, dass
die Frage, ob ein Abstandsflächenverstoß vorliege, im Widerspruchsverfahren geklärt
werden müsse, aber gleichwohl ihren Eilantrag ablehne und alleine ihr die Kosten des
Verfahrens auferlege. Letztlich komme es so zu einer Vereitelung vorläufigen
Rechtsschutzes.
4 3. Aus diesem Vorbringen ergeben sich keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der
Entscheidung des Verwaltungsgerichts.
5 a) Nach einheitlicher obergerichtlicher Rechtsprechung entfällt das Rechtsschutzbedürfnis
für einen Antrag des Baunachbarn nach §§ 80a Abs. 3 Satz 1, Abs. 1 Satz 2, 80 Abs. 5
Satz 1 VwGO mit der Fertigstellung des Rohbaus, wenn sich der Baunachbar nur gegen
Beeinträchtigungen zur Wehr setzt, die von der Errichtung der baulichen Anlage als
solcher ausgehen (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 13.8.2014 - 8 S 979/14 - juris; Beschl. des
Senats v. 15.1.2013 - 3 S 2259/12 - NVwZ-RR 2013, 300; OVG Niedersachsen, Beschl. v.
22.10.2008 - 1 ME 134/08 - BauR 2009, 639; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v.
23.3.2006 - OVG 10 S 21.05 - juris; vgl. auch Saller, in: Grziwotz/Lüke/Saller,
Praxishandbuch Nachbarrecht, 2. Aufl., S. 483). Denn ab diesem Zeitpunkt kann eine
stattgebende gerichtliche Entscheidung im Eilverfahren dem Baunachbarn keinen
tatsächlichen oder rechtlichen Vorteil mehr verschaffen, da die behauptete
Rechtsverletzung mit der Fertigstellung des Rohbaus bereits eingetreten ist und nicht
mehr durch Anordnung der aufschiebenden Wirkung vorläufig - bis zur Entscheidung in
der Hauptsache - verhindert werden kann.
6 Ob die von der Antragstellerin vorgelegten Fotografien tatsächlich belegen, dass die allein
im Streit befindliche Aufzugsanlage in der Nähe ihrer Grundstücksgrenze im Zeitpunkt der
Entscheidung des Verwaltungsgerichts noch nicht im genannten Sinne im Rohbau
fertiggestellt war, kann dahinstehen. Denn jedenfalls im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt
der Entscheidung des Senats ist die Fertigstellung im Rohbau unstreitig erfolgt.
7 b) Diese Rechtsprechung führt entgegen der Ansicht der Antragstellerin nicht zu einer
Vereitelung vorläufigen Rechtsschutzes für den Baunachbarn. Der Fall der Antragstellerin
belegt vielmehr das Gegenteil. Nach ihren Angaben hat sie, auch wenn ihr die der
Beigeladenen erteilte Baugenehmigung nicht zugestellt wurde, bereits im Oktober 2013
von Abbrucharbeiten auf dem Grundstück der Beigeladenen Kenntnis erlangt. Im Januar
2014 begannen nach den von der Antragstellerin nicht bestrittenen Feststellungen des
Verwaltungsgerichts die Aushubarbeiten für das Fundament des Gebäudes der
Aufzugsanlage. Gleichwohl hat die Antragstellerin erst im April 2012 Widerspruch
erhoben. Um vorläufigen Rechtsschutz hat sie trotz anwaltlicher Vertretung zunächst in
unzulässiger Weise nachgesucht. Der zutreffende Antrag nach §§ 80a, 80 Abs. 5 VwGO
ist erst am 8.5.2014 gestellt worden. Der Umstand, dass die Aufzugsanlage im Zeitpunkt
der Entscheidung des Verwaltungsgerichts zumindest weitgehend fertiggestellt war, ist
danach auf das Verhalten der Antragstellerin selbst und nicht auf das anderer
Verfahrensbeteiligter oder des Verwaltungsgerichts zurückzuführen.
8 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Billigem Ermessen entspricht es,
der Antragstellerin auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, da
diese einen eigenständigen Prozessantrag gestellt und damit gleichzeitig - für den Fall
des Unterliegens - ein eigenständiges Kostenrisiko nach § 154 Abs. 3 VwGO
übernommen hat (§ 162 Abs. 3 VwGO).
9 Die Festsetzung und Abänderung des Streitwerts beruht auf den §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47
Abs. 1 Satz 1, 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Nrn. 1.5 und 9.7.1 des
Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
10 Nach Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs 2013 ist bei der Klage eines Nachbarn gegen eine
Baugenehmigung ein Streitwert zwischen 7.500 EUR und 15.000 EUR festzusetzen,
soweit nicht ein höherer wirtschaftlicher Schaden feststellbar ist. Daraus folgt nach der
Rechtsprechung des 8. Senats, dass bei der Klage eines Nachbarn gegen die
Baugenehmigung für ein Ein- oder (kleineres) Mehrfamilienwohnhaus im
Hauptsacheverfahren - sofern sich aus dem Vortrag der Beteiligten zum Streitwert (vgl. §
61 GKG) keine abweichenden Anhaltspunkte ergeben - ein Streitwert von 10.000 EUR
festzusetzen ist (Beschl. v. 13.8.2014 - 8 S 979/14 - juris). Dem schließt sich der Senat an.
11 Eine Reduzierung dieses Streitwerts für Hauptsacheverfahren in Verfahren des
vorläufigen Rechtsschutzes kommt nach Nr. 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs 2013 nicht
in Betracht, wenn diese die Entscheidung in der Hauptsache ganz oder zum Teil
vorwegnehmen. Das ist nach der ständigen Rechtsprechung der Baurechtssenate des
Verwaltungsgerichtshofs dann der Fall, wenn sich ein Baunachbar nicht allein gegen die
Auswirkungen der zukünftigen Nutzung des Nachbargrundstücks, sondern - wie hier -
gegen solche des Baukörpers zur Wehr setzt und einen vorläufigen Stopp dessen
Errichtung begehrt (vgl. Beschl. v. 13.8.2014 - 8 S 979/14 - juris; Beschl. des Senats v.
11.12.2013 - 3 S 1964/13 - VBlBW 2014, 275).
12 Dieser Beschluss ist unanfechtbar.