Urteil des VG Neustadt vom 27.10.2010

VG Neustadt: aufschiebende wirkung, wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, öffentliches interesse, angemessene frist, verfügung, aussetzung, vollziehung, interessenabwägung, behörde

VG
Neustadt/Wstr.
27.10.2010
5 L 1033/10.NW
Verwaltungsgericht Neustadt/Wstr.
Beschluss vom 27.10.2010 - 5 L 1033/10.NW
Baurecht, Verwaltungsprozessrecht
Verwaltungsgericht
Neustadt an der Weinstrasse
Beschluss
In dem Verwaltungsrechtsstreit
des Herrn …,
- Antragsteller -
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte Berberich, Friedrich, Schmucker & Partner, Hetzelgalerie 2,
67433 Neustadt,
gegen
die Stadt Neustadt an der Weinstraße, vertreten durch den Oberbürgermeister, Marktplatz 1, 67433
Neustadt an der Weinstraße,
- Antragsgegnerin -
wegen bauaufsichtlicher Verfügung
hier: Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO
hat die 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße aufgrund der Beratung vom
27. Oktober 2010, an der teilgenommen haben
Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgericht Dr. Cambeis
Richter am Verwaltungsgericht Wingerter
Richterin am Verwaltungsgericht Reitnauer
beschlossen:
Die Entscheidung der Antragsgegnerin vom 12.10.2010, mit der die Vollziehung der dem Antragsteller
am 16.04.2009 erteilten Baugenehmigung ausgesetzt wurde, wird aufgehoben.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Nutzungsuntersagung vom
12.10.2010 wird wiederhergestellt, jedoch nur so lange, wie der Klage gegen die Aufhebung der
Baugenehmigung vom 16.04.2009 im Verfahren 5 K 410/10.NW gem. § 80 b VwGO noch aufschiebende
Wirkung zukommt.
Im Übrigen werden die Anträge abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens tragen der Antragsteller und die Antragsgegnerin je zur Hälfte.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 30.000 € festgesetzt.
Gründe
I. Die Anträge des Antragstellers auf vorläufigen Rechtsschutz gegen die von der Antragsgegnerin am
11.12. bzw. 12.10.2010 getroffenen Maßnahmen, die darauf abzielen, mit sofortiger Wirkung die Nutzung
der „Musikwerkstatt“ auf dem Grundstück Lachener Straße 88 in Neustadt an der Weinstraße zu
unterbinden, sind zulässig.
Soweit sich der Antrag gegen Ziffer I. der Verfügung der Antragsgegnerin vom 12.10.2010 richtet -
Aussetzung der Vollziehung der bis dahin noch vollziehbar gebliebenen Baugenehmigung vom
16.04.2009 gem. § 80 a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 Satz 1 VwGO -, ergibt sich die Zulässigkeit aus § 80 a Abs.3
i.V.m. Abs. 1 Nr. 2, § 80 Abs. 5 Satz VwGO.
Gegen die in Ziffer II der Verfügung vom 12.10.2010 angeordneten und mit Sofortvollzug versehenen
Maßnahmen (Nutzungsuntersagung und Verbot, die Räume der Musikwerkstatt Dritten zum Betrieb einer
Gaststätte mit regelmäßigen Musikveranstaltungen zu vermieten oder in sonstiger Weise zu überlassen),
ist der Antrag auf Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom
12.10.2010 gem. § 80 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 Nr. 4 VwGO zulässig; bezüglich der damit verbundenen
Zwangsmittelandrohungen kann die Anordnung der aufschiebenden Wirkung gem. § 80 Abs. 5 i.V.m. Abs.
2 Nr. 3, § 20 AGVwGO beantragt werden.
II. Die Anträge haben auch teilweise Erfolg.
1) Hinsichtlich Ziffer I der Verfügung vom 12.10.2010 wird dem Antrag insoweit stattgegeben, als die
Aussetzungsentscheidung, mit der die Antragsgegnerin die bisher noch gemäß der gesetzlichen
Regelungen in § 212 a Abs. 2 BauGB und § 80 b Abs. 1 VwGO fortbestehende Vollziehbarkeit der
Baugenehmigung beenden will, aus formellen Gründen aufgehoben wird.
Die Aussetzungsentscheidung, die vorliegend nicht auf einem förmlichen Antrag des Nachbarn beruht,
der gegen die Baugenehmigung Widerspruch eingelegt hatte, durfte zwar grundsätzlich wohl in
entsprechender Anwendung von § 80 a Abs. 1 Nr. 2 VwO auch von Amts wegen im öffentlichen Interesse
erfolgen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 80 a Rn. 13, 7; OVG NRW, Beschl. vom 30.07.1999,
- juris -; ). Sie bedurfte dann jedoch analog § 80 Abs. 3 VwGO einer ausreichenden Begründung des
besonderen öffentlichen Interesses an der Aussetzung der Vollziehung der Baugenehmigung.
Vergleichbar der in § 80 Abs. 3 VwGO unmittelbar geregelten Konstellation, dass die Behörde den in §
80 Abs. 1 Satz 1 VwGO geregelten „Normalfall“ der aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen (§ 80
Abs. 1 Satz 1 VwGO) nach § 80 Abs. 2 Nr.4 im öffentlichen Interesse außer Kraft setzen will, wird auch bei
der Aussetzung der Vollziehbarkeit einer bauaufsichtlichen Zulassung der – hier in § 212 a Abs. 2 BauGB
geregelte - gesetzliche Regelfall der trotz Drittwiderspruchs fortgeltenden Vollziehbarkeit durchbrochen.
Das soll jedoch nur geschehen dürfen, wenn sich die Behörde des Ausnahmecharakters ihrer Maßnahme
bewusst ist und das öffentliche Interesse hieran nicht nur behauptet, sondern auch substantiiert, d.h. nicht
nur formelhaft, begründet. Die analoge Anwendung des Begründungserfordernisses in § 80 Abs. 3 VwGO
im Rahmen von § 80 a VwGO kann auch aus dem Gebot der „Waffengleichheit“ abgeleitet werden (vgl.
Kopp/Schenke, a.a.O., § 80 a Rn. 13 b).
Diesem Begründungserfordernis ist vorliegend nicht Genüge getan. Die Antragsgegnerin hat zur
Begründung nur angegeben, die Baugenehmigung stehe nicht in Einklang mit dem materiellen Recht,
weil die Nutzungsart (Vergnügungsstätte) gegen den nachbarschützenden Gebietserhaltungsanspruch
verstoße. Somit überwiege eindeutig das öffentliche Interesse an der Aussetzung der Vollziehung das
Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Anfechtungsklage. Damit ist aber
kein b e s o n d e r e s öffentliches Interesse analog § 80 Abs. 3 VwGO an der Aussetzung der
Genehmigungs-wirkung dargetan, sondern nur die Begründung für die Rechtswidrigkeit der
Baugenehmigung als solche in Bezug genommen.Das Begründungserfordernis ist jedoch im
vorliegenden Verfahren vor dem Hintergrund der vom Gesetzgeber selbst vorgebenen
Interessenabwägung zu sehen. Danach kann sich der antragstellende Bauherr hier auf eine vorläufig
gültige Baugenehmigung berufen, weil der dagegen erhobene Widerspruch der Nachbarn gerade
aufgrund der spezialgesetzlichen Regelung in § 212a BauGB keine aufschiebende Wirkung im Sinne von
§ 80 Abs. 1 VwGO entfaltet. Daran hat auch der stattgebende Widerspruchsbescheid vom 15. März 2010
nichts geändert. Dieser ist noch nicht bestandskräftig geworden, weil der Antragsteller dagegen Klage
erhoben hat und der Suspensiveffekt dieser Klage gemäß § 80 b Abs. 1 VwGO derzeit noch fortbesteht,
denn die Rechtsmittelfrist gegen das Urteil vom 23. August 2010 ist noch nicht abgelaufen.
Will die Baubehörde in dieser Situation die vorläufige Geltung der Baugenehmigung aussetzen, muss sie
dafür besondere Gründe anführen. Das ist hier, wie dargelegt, nicht geschehen. In diesem
Zusammenhang ist außerdem auch zu berücksichtigen, dass der Antragsteller hinsichtlich des für die
Aufhebung der Genehmigung maßgeblichen Verstoßes des Betriebs der Musikwerkstatt gegen den
einschlägigen Bebauungsplan mittlerweile einen Befreiungungsantrag gestellt hat, über den die
Baubehörde noch nicht entschieden hat.
Wie in den Fällen, in denen § 80 Abs. 3 VwGO unmittelbar Anwendung findet, führt der – formale - Mangel
einer unzureichenden Begründung allerdings nur zur Aufhebung der Aussetzungsentscheidung. Damit
bleibt der Antragsgegnerin – insofern anders als im Fall einer behördlich nicht abänderbaren gerichtlichen
Wiederherstellung der Vollziehung aufgrund einer gem. § 80 Abs. 5 VwGO vorgenommenen
Interessenabwägung in der Sache - die Möglichkeit, die Aussetzung erneut auszusprechen, sofern sie das
besondere öffentliche Interesse daran dann ausreichend zu begründen vermag.
2) Der Antrag auf Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs
gegen die in Ziffer II der Verfügung vom 12.10.2010 getroffenen, mit Zwangsmittelandrohungen
versehenen und für sofort vollziehbar erklärten Verwaltungsakte (Nutzungsuntersagung und Verbot, die
Räumlichkeiten zum Weiterführen einer Gaststätte mit regelmäßigen Tanzveranstaltungen einem Dritten
zu vermieten oder sonst zu überlassen) hat ebenfalls teilweise Erfolg.
Die Baubehörde kann gem. § 81 LBauO die Nutzung einer baulichen Anlage, die gegen baurechtliche
Vorschriften verstößt, untersagen, wenn nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden
können. Dabei genügt es nach der ständigen Rechtsprechung des OVG Rheinland-Pfalz grundsätzlich,
dass die Nutzung formell illegal ist, d.h. dass die dafür erforderliche Genehmigung nicht besteht, es sei
denn, die Genehmigungsfähigkeit ist offensichtlich. In solchen Fällen darf regelmäßig auch gleichzeitig
der Sofortvollzug der Nutzungs-unter-sagung angeordnet werden. (OVG RP, Urt. vom 22.05.1996, 8 A
11880/95.OVG; vgl. auch Lang in Jeromin, LBauO Rh-Pf, 2. Aufl. 2008, Rn. 71). Auf diese Grundsätze
beruft sich auch die Antragsgegnerin.
Es bestehen hier jedoch besondere Gründe, die der sofortigen Nutzungsuntersagung entgegenstehen.
Dabei kann offen bleiben, ob der Antragsteller nicht vor Erlass der Anordnungen in Ziffer II der Verfügung
vom 12.10.2010 hätte förmlich angehört werden müssen (§ 28 VwVfG) bzw. ob ihm angesichts der
verschiedenen beachtlichen Gesamtumstände nicht im Rahmen ordnungsgemäßer Ermessensausübung
jedenfalls eine angemessene Frist zur Befolgung der Nutzungsuntersagung hätte eingeräumt werden
müssen.
Die im Rahmen des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung hat jedenfalls
deshalb zu dem aus dem Tenor ersichtlichen Aufschub zugunsten des Antragstellers zu führen, weil die
ihm erteilte Baugenehmigung gemäß § 212 a BauGB weiterhin vorläufige Geltung beanspruchen kann
und diese – wie oben ausgeführt - durch die Antragsgegnerin auch nicht wirksam ausgesetzt ist, so dass
der Betrieb der Musikwerkstatt derzeit nicht als formell illegal angesehen werden kann.
Dass das Verwaltungsgericht – wie bereits der Stadtrechtsausschuss – die Baugenehmigung in seinem
Urteil vom 23. August 2010 im Verfahren 5 K 410/10.NW als materiell rechtswidrig
angesehen hat, weil die Zulassung der mit der mit der Gebietsfestsetzung des Bebauungsplans
unvereinbaren Vergnügungsstätte gegen den Gebietserhaltungsanspruch der im Verfahren 5 K
410/10.NW beigeladenen Nachbarn verstößt, bleibt aber im Rahmen der Interessenabwägung nicht
außer Betracht. Dem trägt die vorliegende Entscheidung vielmehr gem. § 80 Abs. 5 Sätze 4 und 5 VwGO
dadurch Rechnung, dass die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zeitlich an den Fortbestand
der aufschiebenden Wirkung der Klage gem. § 80 b Abs. 1 VwGO gekoppelt wird. Vorbehaltlich einer
erneuten Aussetzungsentscheidung durch die Antragsgegnerin oder einer Entscheidung des OVG gemäß
§ 80 b VwGO wird nämlich die Aufhebung der Baugenehmigung mit dem gesetzlich bestimmten Ende des
Suspensiveffekts der Anfechtungsklage wirksam, so dass dann die Nutzung der Musikwerkstatt auch
formell illegal wird.
Die Vollziehbarkeit der Nutzungsuntersagung und der weiteren Anordnungen unter Ziffer II. der Verfügung
vom 12.10.2010 tritt also aufgrund der hier getroffenen Entscheidung automatisch ein, sobald die
aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Aufhebung der Baugenehmigung endet. Das ist nach § 80 b
VwGO spätestens drei Monate nach Ablauf der zweimonatigen Begründungsfrist für den Antrag auf
Zulassung der Berufung gegen das dem Antragsteller am 7. Oktober zugestellte Urteil vom 23. August
2010 der Fall, sofern das OVG Rheinland-Pfalz nicht die Fortdauer der aufschiebenden Wirkung
anordnet.
Für den Fall, dass zwischenzeitlich die Antragsgegnerin eine erneute Aussetzungsentscheidung nach §
80 a VwGO erlassen sollte, weist die Kammer vorsorglich darauf hin, dass dann dem Antragsteller
wenigstens eine kurze Abwicklungsfrist (etwa bis Ablauf des ersten Montags nach Zustellung der
Aussetzungsentscheidung) eingeräumt werden sollte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Sat z 1 VwGO.
Die Wertfestsetzung beruht auf §§ § 53 Abs. 3 Nr. 2 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG, wobei das Gericht die Hälfte
des Streitwerts im Klageverfahren angesetzt hat, weil es im Verfahren insgesamt – wie auch die von der
Antragsgegnerin als Voraussetzung für die Nutzungsuntersagung getroffene Aussetzungsentscheidung
zeigt - im Wesentlichen um die Frage des Fortbestands oder Wegfalls der Baugenehmigungswirkung
geht.
Rechtsmittelbelehrung …
gez. Dr. Cambeis
gez. Wingerter
gez. Reitnauer