Urteil des VG Minden vom 27.09.2001

VG Minden: jugendhilfe, behinderung, eltern, unterbringung, diplom, form, besuch, integration, rechtsgrundlage, erlass

Verwaltungsgericht Minden, 7 K 1210/00
Datum:
27.09.2001
Gericht:
Verwaltungsgericht Minden
Spruchkörper:
7. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
7 K 1210/00
Tenor:
Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Bescheides vom 21.01.2000
und des Widerspruchsbescheides vom 01.03.2000 verpflichtet, dem
Kläger Jugendhilfe für die Monate September 1999 bis März 2000 zu
gewähren durch Übernahme der Kosten für die Unterbringung des
Klägers in der D. -J. - T. /T. .
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger trägt 4/5 der Kosten des Verfahrens, der Beklagte trägt 1/5
der Kosten. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der
jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden
Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger zuvor
Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d :
1
Der am 29.12.1982 geborene Kläger begehrt Jugendhilfe in Form der
Internatsunterbringung in der D. J. T. (CIS) in T. , wo er seit September 1999 unterrichtet
wird.
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Die Eltern des Klägers fragten zunächst im August 1999 beim Beklagten an, ob die
Gewährung von Eingliederungshilfe für den Kläger möglich sei. Zur Begründung führten
sie an, der Kläger habe in verschiedenen Regelschulen Schwierigkeiten gehabt, was zu
einer psychischen Beeinträchtigung geführt habe. Die Ursache sei letztlich eine nicht
geförderte Hochbegabung. Unter dem 19.10.1999 stellte der Kläger auf dem dafür
vorgesehenen Formblatt den Antrag auf Hilfe zur Erziehung in Form von Heimerziehung
und Eingliederungshilfe gem. § 35 a SGB VIII. An diesem Tag fand auch ein erstes
Hilfeplangespräch mit dem Kläger, seinen Eltern und der Sachbearbeiterin des
Beklagten statt.
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Unter dem 29.10.1999 beauftragte das Jugendamt des Beklagten den Leitenden
Diplom- Psychologen K. von der Kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik des L. M. mit
der Erstellung eines Gutachtens, das am 07.01.2000 erstellt wurde und wegen dessen
Inhalts auf Bl. 39 bis 49 der Beiakte verwiesen wird. Dieses Gutachten gelangt unter
anderem zu dem Ergebnis, dass die IQ-Werte des Klägers so seien, dass von einer
Hochbegabung ausgegangen werden könne. Weiter wurde ausgeführt, hinsichtlich
seiner psychischen Auffälligkeiten scheine der Kläger eine deutlich positive
Entwicklung genommen zu haben, akute seelische Störungen seien zum Zeitpunkt der
Untersuchung nicht festgestellt worden. Trotz dieser positiven Feststellung müsse
ausdrücklich eine drohende seelische Behinderung bejaht werden. Weiter führte der
Gutachter seinerzeit aus, dass eine Beendigung der Maßnahme in T. mit Sicherheit
katastrophalen Einfluss auf die Entwicklung der Persönlichkeit und der sozialen
Integration des Klägers haben werde.
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Mit dem hier angefochtenen Bescheid des Beklagten vom 21.01.2000 lehnte dieser die
Gewährung von Eingliederungshilfe gem. § 35 Abs. 1 Nr. 4 SGB VIII ab. Zur
Begründung führte er aus, die Unterbringung im t. J. sei ohne Mitwirkung des
Jugendhilfeträgers vorgenommen worden, sodass ihm damit keine Möglichkeit der
Gestaltung im Sinne einer Hilfeplanung gem. § 36 Abs. 1 und 2 SGB VIII gegeben
worden sei. Des Weiteren könnten die geschilderten Probleme in der
Persönlichkeitsentwicklung des Klägers im Rahmen eines ambulanten Hilfekonzeptes
angegangen werden, ohne dass es dazu einer stationären Unterbringung bedürfe.
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Den hiergegen eingelegten Widerspruch begründete der Kläger unter anderem damit,
dass der Antrag keinesfalls ausschließlich auf § 35 a SGB VIII gestützt worden sei. Der
Kläger machte weiter geltend, das vom Beklagten eingeholte Gutachten habe ergeben,
dass ohne die Förderung in dem J. in D. eine seelische Behinderung gedroht habe;
auch sei völlig unklar, welche Alternativen für die notwendige Förderung überhaupt zur
Verfügung ständen.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 01.03.2000 wies der Beklagte den Widerspruch des
Klägers gegen den Bescheid vom 20.01.2000 als unbegründet zurück. Zur Begründung
führte der Beklagte zunächst aus, ein Anspruch auf Eingliederungshilfe gem. § 35 a
Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 Nr. 4 SGB VIII bestehe schon deswegen nicht, weil sich der
Kläger bzw. seine Eltern ohne die notwendige Beteiligung des Jugendhilfeträgers eine
Unterbringung in der nach ihrer Auffassung dafür geeigneten Einrichtung, der CIS,
besorgt hätten. Das Kinder- und Jugendhilferecht enthalte keine Rechtsgrundlage für
eine bloße Erstattung der von Eltern oder Dritten aufgewandten Kosten; die vorrangige
Pflicht der Eltern, Pflege und Erziehung ihrer Kinder sicherzustellen, bleibe gem. § 1
Abs. 2 Satz 1 SGB VIII auch beim Vorliegen eines jugendhilferechtlich relevanten
Defizits bestehen. Dies komme insbesondere auch in der Ausgestaltung des
Hilfeverfahrens gem. § 36 Abs. 2 VIII zum Ausdruck. Im vorliegenden Fall hätte es auch
keinerlei Anhaltspunkte dafür gegeben, dass die Eltern nicht in der Lage gewesen
seien, den Kläger in ihrem Haushalt zu versorgen. Dass es sich um einen akuten Notfall
gehandelt habe, sei ebenfalls nicht zu erkennen gewesen. Es sei damit die Aufgabe der
Eltern als Personensorgeberechtigte gewesen, einen Antrag entsprechend rechtzeitig
zu stellen, bzw. mit der eventuell anstehenden Unterbringung bis zu einer von den
Beklagten zu veranlassenden Hilfeplanung zu warten. Zwar stelle auch der Beklagte
das Vorliegen einer drohenden seelischen Behinderung des Beklagten nicht
grundsätzlich in Frage; hier wäre jedoch zunächst eine ambulante Hilfe ausreichend
und angebracht gewesen, wobei in Detmold und Umgebung ausreichende
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Möglichkeiten für eine ambulante Therapie bestünden. Insbesondere bestehe kein
Anspruch auf Gewährung einer stationären Hilfe zur Erziehung in Form einer
Internatsunterbringung. Insoweit machte der Beklagte geltend, die Vorschrift des § 13
SGB VIII beziehe sich auf die Integration sozial benachteiligter und individuell
beeinträchtigter junger Menschen durch den Jugendhilfeträger. In Detmold seien
Einrichtungen, die diese Hilfestellung anböten, ausreichend vorhanden, vor allem das
SOS- Berufsausbildungszentrum und der anerkannte Jugendhilfeträger "inab" sowie die
Initiative der örtlichen Berufsschule. Demgegenüber beschreibe § 35 SGB VIII die
intensive sozialpädagogische Einzelförderung. Eine solche Hilfestellung sei dem Kläger
mit Bescheid vom 20.01.2000 angeboten worden. Bei dieser Hilfeart handele es sich
jedoch um eine ambulante Betreuung, sodass auch diese Anspruchsnorm vorliegend
nicht zur Begründung einer Kostenübernahme im Falle des Klägers herangezogen
werden könne.
Mit seiner Klage vom 07.04.2000 begehrt der Kläger weiterhin die Verpflichtung des
Beklagten zur Gewährung von Leistungen der Jugendhilfe mit Übernahme der durch die
Unterbringung und Beschulung an der D. entstehenden Kosten. Zur Begründung
verweist der Kläger zum einen auf sein bisheriges Vorbringen. Ergänzend legt er die
Verordnung von Krankenhausbehandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie E.
wegen Suizidgefährdung und eine ärztliche Stellungnahme der Ärztin für
Allgemeinmedizin Schmidt-Krause vom 23.03.2000 vor. Am 04.04.2000 hat in der
Kinder- und jugendpsychiatrischen L. E. ein Gespräch zwischen dem Kläger, seinen
Eltern und dem Beklagten stattgefunden, wegen dessen Inhalts auf Bl. 138 ff. der
Beiakte verwiesen wird. In einem Schreiben vom 20.04.2000 der L. für Kinder- und
Jugendpsychiatrie an den Beklagten wurde unter anderem ausgeführt, dass eine
Ablehnung der Förderung sehr überrasche, da in dem Gespräch vom 04.04.2000 die
Dringlichkeit der Angelegenheit sowie die Notwendigkeit einer stationären
Jugendhilfemaßnahme sehr deutlich geworden sei. Ambulante Jugendhilfemaßnahmen
seien dabei als nicht ausreichend eingeschätzt worden. Dieses Schreiben erfolge vor
dem Hintergrund, dass die Hausärztin des Klägers eine stationäre Einweisung in eine
jugendpsychiatrische L. auf Grund der Suizidgefährdung als notwendig erachtet habe. In
dem Gespräch vom 04.04.2000 sei diese Gefährdung nicht mehr akut gewesen, da
Hoffnung auf einen positiven Bescheid des Beklagten bestanden habe. Die
unterzeichnenden Ärzte Dr. K. und Dr. A. sowie der Leitende Diplom-Psychologe K.
führten dabei unter anderem aus, der Beklagte habe trotz wiederholter schriftlicher
persönlicher Stellungnahmen unterschiedlicher Fachleute eine in keiner Weise
nachvollziehbare Entscheidung getroffen.
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Unter dem 17.05.2000 legte die Diplom-Psychologin U. in einem Schreiben an die
Eltern des Klägers dar, auch aus ihrer Sicht sei beim Kläger eine Hochbegabung
festzustellen, verbunden jedoch mit verschiedenen Teilleistungsstörungen. Frau U.
führte weiter aus, die D. sei dafür bekannt, dass dort ein erfolgreiches Programm für
hoch begabte Legastheniker entwickelt worden sei. Bedingt durch den Lehrer-
Schülerschlüssel an dieser Schule und die störungsspezifische Schulung der Lehrkräfte
sei eine auf den Kläger zugeschnittene pädagogische Betreuung vorhanden, die derzeit
an keiner deutschen Schule geleistet werden könne. Ein weiterer Verbleib des Klägers
auf der in ihrer Art einzigartigen Schule scheine ihr zu seinem Wohle in
psychologischer/medizinischer Hinsicht unabdingbar. Würde der Kläger jetzt die Schule
in D. verlassen müssen, wäre nicht nur sein Leben in Gefahr, sondern er würde auch als
hoch Begabter mit seinen besonderen Fähigkeiten der Bundesrepublik nicht zur
Verfügung stehen.
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Unter Hinweis darauf, dass der Beklagte unter dem 17.05.2000 die Gewährung von
Eingliederungshilfe als sozial-pädagogisches Wohnen in der SOS-Wohngruppe E.
angeboten habe, legte der Kläger ein weiteres Schreiben der L. für Kinder- und
Jugendpsychiatrie E. vom 25.05.2000 vor, in dem unter anderem ausgeführt wird, dass
die SOS-Wohngruppe den spezifischen Betreuungsbedarf für den Kläger nicht
abdecken könne und nicht zu erkennen sei, wie diese - in anderen Fällen sehr förderlich
arbeitende Einrichtung - in dem hier gegebenen Fall eine Maßnahme darstellen könne,
die eine Entwicklung zum Wohle des Klägers Gewähr leisten könne.
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Am 13.10.2000 unterzog sich der Kläger einem weiteren Test bei der Diplom-
Psychologin U. . Dieser kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass der Kläger in dem
I- S-T-2000 einen Gesamtintelligenzquotienten von 127 erzielt habe, bei einem
Standardmessfehler von 15 IQ-Punkten liege somit sein wahrer Intelligenzquotient
zwischen 112 und 142. Des Weiteren wird im Gutachten ausgeführt, der Kläger könne
außerhalb der D. keine auf ihn zugeschnittene adäquate Ausbildung erhalten. Wegen
des weiteren Inhalts dieses Gutachtens wird auf Bl. 50 ff. der Gerichtsakte verwiesen.
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Unter Vorlage von verschiedenen Schreiben der D. zum gegenwärtigen
Ausbildungsstand des Klägers trägt dieser vor, es bestehe eine große
Wahrscheinlichkeit, dass er im Juni 2002 das "Higher Examination" mit einem
hochschulfähigen Zeugnis abschließen werde. Schüler mit diesem Abschluss der D.
studierten auch in Deutschland auf Grund einer internationalen Anerkennung des t.
Abiturs. Mit Ausfertigung eines Standardanerkennungsschreibens des jeweiligen
Landeskultusministeriums seines Heimatbundeslandes für die Hochschulzugangs-
Gleichwertigkeit des D. -Abiturs mit einem deutschen Abitur habe der D. -Abiturient zum
Beispiel den deutschen Hochschulzugang. Die Schule weist jedoch des Weiteren
darauf hin, dass das Risiko für das Abitur 2002 das anhängige Gerichtsverfahren sei.
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Unter dem 07.09.2001 teilte der Kläger mit, an einer deutschen Hochschule wäre für ihn
keine Rücksichtnahme auf seine Legasthenie zu erwarten. Aus diesem Grund
beabsichtige er, in Sterling zu studieren und zwar das Fach J. Management Studies.
Aus seiner Sicht bestünden keine Schwierigkeiten, die von ihm begehrte Hochschulreife
in D. tatsächlich zu erreichen.
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Der Kläger beantragt,
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den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 21.01.2000 und des
Widerspruchsbescheides vom 01.03.2000 zu verpflichten, dem Kläger für den Zeitraum
von September 1999 bis August 2002 Jugendhilfe in Form der Eingliederungshilfe zu
gewähren und dabei die Kosten für die Unterbringung in der D. J. T. , Großbritannien,
einschließlich der notwendigen Nebenkosten zu tragen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung nimmt er zum einen Bezug auf den Inhalt der angefochtenen
Bescheide, den er wiederholt und vertieft. Ergänzend trägt er unter anderem vor, der
Kläger sei an der L. für Kinder- und Jugendpsychiatrie einem Test unterzogen worden,
der wohl nicht mehr geeignet sei, wissenschaftlich fundierte Ergebnisse zu liefern.
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Darüber hinaus falle auf, dass die Leistungen des Klägers in der D. zumindest in
einigen Fächern nicht ausreichend gewesen seien. Insbesondere dann, wenn der
Kläger als hoch begabt anzusehen sei, müsse er nach einem Zeitraum von 1 1/2 Jahren
Ausbildung an der D. weiter sein. Es liege dem Beklagten kein hinreichender Nachweis
vor, dass der Kläger zum einen überhaupt in der Lage sein werde, in D. das Abitur zu
erlangen. Ebenso sei völlig offen, wann mit dem Abschluss zu rechnen sei. Deswegen
sei weiter aufzuklären, wie der Leistungsstand des Klägers tatsächlich sei und wie ein
möglicher Schulabschluss an der D. tatsächlich genutzt werden könne.
Am 05.02.2001 hat der Berichterstatter als beauftragter Richter die Sachverständigen
Dr. K. und K. vernommen; wegen ihrer Aussagen im Einzelnen wird auf Bl. 95 der
Gerichtsakte verwiesen.
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Wegen der Gewährung von Jugendhilfe an den Kläger sind verschiedene Verfahren des
vorläufigen Rechtsschutzes geführt worden. In dem Ersten dieser Verfahren ist mit
Beschluss vom 21.02.2000 (7 L 98/00) der Erlass einer einstweiligen Anordnung durch
die Kammer abgelehnt worden. In den Verfahren 7 L 624/00, 7 L 1025/00, 7 L 7/2201
und 7 L 596/01 ist mit Beschlüssen des erkennenden Gerichts vom 13.06.2000,
14.11.2000, 23.04.2001 und 22.08.2001 der Antragsgegner im Wege der einstweiligen
Anordnung zur vorläufigen Erbringung von Leistungen nach dem SGB VIII verpflichtet
worden. Wegen der Begründung im Einzelnen wird auf die genannten Beschlüsse
verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, hier insbesondere zu
dem Inhalt der vorliegenden Gutachten, wird auf die Gerichtsakten sowie die
beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig, jedoch nur zum Teil begründet.
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Hierbei war die Klage abzuweisen, soweit der Kläger auch für den Zeitraum nach Erlass
des Widerspruchsbescheides (März 2000) Leistungen nach dem Kinder- und
Jugendhilfegesetz begehrt. Insoweit folgt die Kammer der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts, die davon ausgeht, dass bei einem Rechtsstreit um
Gewährung von Jugendhilfe ein Hilfeanspruch grundsätzlich nur in dem zeitlichen
Umfang in zulässiger Weise zum Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle
gemacht werden kann, in dem der Träger der Jugendhilfe den Hilfefall geregelt hat. Dies
ist regelmäßig der Zeitraum bis zur letzten Behördenentscheidung, also bis zum Erlass
des Widerspruchsbescheides.
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Vgl. dazu: BVerwG, Beschluss vom 17.06.1996 - 5 B 222/95 - in: Buchholz 436.511, §
27 KJHG/SGB VIII Nr. 2.
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Besondere Umstände, auf Grund derer hier ein anderer Zeitraum zu wählen wäre,
liegen nicht vor. Insbesondere vermag das Gericht den angefochtenen Bescheiden im
Wege der Auslegung nicht zu entnehmen, dass der Beklagte den Hilfefall für einen
bestimmten Zeitraum nach Ablauf des Monats, in dem der Widerspruchsbescheid
ergangen ist, regeln wollte. Auch der zu Grunde liegende Antrag bezog sich nicht auf
ein festgelegtes Enddatum der begehrten Hilfe.
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Im Übrigen erweist sich die Klage jedoch als zulässig und begründet, sodass die
angefochtenen Bescheide des Beklagten aufzuheben waren und der Beklagte zur
Leistung von Jugendhilfe zu verpflichten war.
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Rechtsgrundlage hierfür ist § 35 a Abs. 1 SGB VIII in der Fassung des Gesetzes vom
15.12.1998 (BGBl. I S. 3545). Nach dieser Vorschrift haben Kinder und Jugendliche, die
seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Anspruch auf
Eingliederungshilfe. Absatz 2 der Vorschrift verweist in Bezug auf Aufgabe und Ziel der
Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie die Art der Maßnahme auf einzelne
Bestimmungen des BSHG. Auf dieser Rechtsgrundlage hat der Kläger einen Anspruch
auf Gewährung von Jugendhilfe. Hierbei geht die Kammer auf Grund der vorliegenden
Gutachten und ärztlichen Stellungnahmen, insbesondere aber auch auf Grund der von
dem Berichterstatter durchgeführten Beweisaufnahme davon aus, dass der Kläger zu
der relativ kleinen Gruppe von Personen gehört, die als hoch Begabte bezeichnet
werden. Insoweit weisen alle durchgeführten Untersuchungen auch unabhängig von
den im Einzelnen angewandten Testverfahren eindeutig aus, dass der Kläger
tatsächlich zu den hoch Begabten oder überdurchschnittlich intelligenten Jugendlichen
zählt. Hierbei kann insbesondere auf das Gutachten des Therapiezentrum U. (Bl. 50
d.GA) und die Stellungnahme der Ärztin Dr. M. vom 06.04.2000 (Bl. 28 d.GA) verwiesen
werden. Dass bei dem Kläger trotz dieser Hochbegabung darüber hinaus auch
Teilleistungsstörungen festgestellt worden sind, wobei hier insbesondere die
Legasthenie zu nennen ist, steht insoweit der Einstufung als Hochbegabten nicht
entgegen. Hierzu verweist z.B. auch die Stellungnahme der Ärztin Dr. M. vom
06.04.2000 darauf, dass Schwächen im Bereich der Konzentration und
Konzentrationsdauerleistung für hoch begabte Kinder, die über längere Zeit unterfordert
sind und psychische Probleme haben, typisch sind.
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Darüber hinaus steht zur Überzeugung der Kammer auch fest, dass die bei dem Kläger
festgestellte Hochbegabung, die als solche nicht zwangsläufig zu einer Störung der
Persönlichkeit führt, beim Kläger dennoch zu einer seelischen Störung geführt hat,
sodass der Kläger zu dem Personenkreis gehört, der durch § 35 a SGB VIII geschützt
und gefördert werden soll. Auch insoweit ergeben alle vorliegenden Gutachten und
Stellungnahmen ein einheitliches Bild: Hierzu kann zum einen verwiesen werden auf
die Stellungnahme der Frau Dr. M. vom 21.01.2000 (vgl. S. 64 der Beiakte I),
insbesondere aber auf die gutachterliche Stellungnahme des Diplom-Psychologen K.
vom 07.01.2000 (Bl. 39 der Beiakte I). Dieses auf Veranlassung des Beklagten
eingeholte Gutachten gelangt nach Auswertung der durchgeführten Tests und auf der
Grundlage der bisherigen Lebensumstände des Klägers zu dem Ergebnis, dass sich
retrospektiv schon sehr frühzeitig aufgetretene und massive seelische Probleme
erfassen ließen, nämlich psychosomatische Erkrankungen, erhebliche
Selbstwertprobleme, emotionale Labilität und Drogenmissbrauch. Ausdrücklich wird in
diesem Gutachten, das zu einem Zeitpunkt erstellt wurde, in dem der Kläger sich bereits
einige Zeit in der D. aufhielt, eine drohende seelische Behinderung bejaht, während
akute seelische Störungen sich nicht mehr feststellen ließen. Eine weitere ausführliche
Darlegung enthält die Aussage des Diplom-Psychologen K. als Sachverständigen in
dem Beweistermin. Hier wurde vor dem Hintergrund der Familienstruktur, der engen
Bindung des Klägers an seine Mutter und seine häufigen Erkrankungen ausgeführt,
dass der Sachverständige den Kläger von einer seelischen Behinderung bedroht sah.
Ohne die Einleitung von Maßnahmen wäre abzusehen gewesen, dass der Kläger
keinen Schulabschluss erlangt hätte und dass er keine berufliche und soziale
Integration hätte schaffen können. Auch das Thema der Suizidalität hätte sich dann
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konkret gestellt. Diese Feststellungen, die in überzeugender und eindeutiger Weise
abgegeben worden sind und auf einer fundierten fachlichen Grundlage beruhen, sind
auch von dem Beklagten nicht nachhaltig in Zweifel gezogen worden. Insoweit bestand
für das erkennende Gericht auch keine Veranlassung, die vom Beklagten
zwischenzeitlich angeregte Einholung eines weiteren Fachgutachtens zu veranlassen,
da hier unter keinem Gesichtspunkt zu erkennen ist, warum die bereits vorliegenden
Erkenntnisse nicht ausreichen und welche darüber hinaus gehenden Erkenntnisse bei
einem weiteren Gutachten zu erwarten gewesen wären.
Nach alledem ist festzustellen, dass der Kläger ungeachtet einer gewissen
Stabilisierung, die mit dem Aufenthalt an der D. verbunden war, auch in dem hier
fraglichen Zeitraum von einer seelischen Behinderung zumindest bedroht war, wenn
nicht sogar der Schluss gezogen werden muss, dass eine seelische Behinderung
weiterhin festzustellen war.
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Damit hat der Kläger grundsätzlich Anspruch auf die erforderlichen und geeigneten
Maßnahmen, um der (drohenden) Behinderung entgegen zu wirken. § 35 a SGB VIII
verweist insoweit zunächst auf §§ 39 Abs. 3, 40 BSHG. Nach der erstgenannten
Bestimmung ist es dabei Aufgabe der Eingliederungshilfe, (1.) eine drohende
Behinderung zu verhüten oder eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu
beseitigen oder zu mildern und (2.) den Behinderten in die Gesellschaft einzugliedern.
Zu den Maßnahmen der Eingliederungshilfe gehört insbesondere dabei auch die Hilfe
zu einer angemessenen Schulausbildung, § 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG, § 12
Eingliederungshilfe VO. Auf dieser Grundlage ist denn weiterhin - wie schon in den
Beschlüssen vom 13.06.2000 und 23.04.2001 ausgeführt - davon auszugehen, dass für
den Kläger der Besuch der D. die geeignete und auch notwendige Maßnahme war, um
der (drohenden) seelischen Behinderung zu begegnen.
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Hierbei ist zunächst auf Grund der Schwere der festgestellten Störungen in der Person
des Klägers, aber auch insbesondere bei Berücksichtigung der familiären Situation, die
nach den Feststellungen der Sachverständigen nicht unwesentlich zu der
Persönlichkeitsstörung beigetragen hat, davon auszugehen, dass eine ambulante
Maßnahme unter Verbleib des Klägers in der Familie zu keiner grundlegenden
Änderung der Situation des Klägers geführt hätte. Dieser Ansicht hat sich im Laufe des
Verfahrens offensichtlich auch der Beklagte angeschlossen, da auch er jedenfalls unter
dem 17.05.2000 die Gewährung von Eingliederungshilfe als sozial-pädagogisches
Wohnen in der SOS-Wohngruppe E. angeboten hat. In Bezug auf dieses Angebot des
Beklagten gelangen jedoch die Gutachter, soweit sie sich dazu überhaupt geäußert
haben, zu der eindeutigen Stellungnahme, dass diese Wohngruppe auf Grund der
besonderen Persönlichkeitsstruktur des Klägers hier nicht die geeignete und
notwendige Maßnahme hätte sein können. Insoweit führt insbesondere der
Sachverständige Dr. K. aus, dass der Besuch der D. eindeutig notwendig gewesen ist.
Er begründet dies damit, dass der Kläger den Belastungen, die auch eine Wohngruppe
mit sich bringe, nicht gewachsen gewesen wäre. Hier sei für ihn besonders wichtig
gewesen, eine adäquate schulische Betreuung zu erfahren, was in der Wohngruppe in
E. so nicht möglich gewesen wäre.
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Der Sachverständige K. hat dies dahingehend ergänzt, für ihn sei entscheidend
gewesen, was der Kläger außerhalb dieser Wohngruppe noch hätte machen können. Zu
dem damaligen Zeitpunkt hätte er ihm allenfalls eine relativ kurzfristige Aufnahme im
Krankenhaus anbieten können, wobei dann jedoch das Behandlungsziel unklar
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gewesen wäre.
Auf Grund dieser Aussagen, aber auch bei Berücksichtigung der Stellungnahmen von
Dr. M. und des Therapiezentrums U. verbleibt die Kammer daher bei der von ihr in den
bereits genannten Beschlüssen geäußerten Ansicht, dass eine andere Form der
stationären Jugendhilfe, die zumindest gleich hohe Erfolgschancen wie die D.
versprochen hätte, weder in dem entscheidungserheblichen Zeitraum zu erkennen war
noch in nachträglicher Betrachtung heute zu erkennen ist. Es muss daher bei der
Einschätzung verbleiben, dass die D. auf Grund der besonderen Persönlichkeitsstruktur
des Klägers und seiner familiären Verhältnisse die Einrichtung war, von der am ehesten
Erfolge bei seiner Eingliederung zu erwarten waren. Angesichts der eindeutigen
Aussagen aller in diesem Verfahren beteiligten Sachverständigen sieht das erkennende
Gericht auch insoweit keine Notwendigkeit zu weiterer Sachaufklärung, da auch
insoweit das Vorbringen des Beklagten nicht geeignet ist, die fachkundigen
Stellungnahmen auch nur ansatzweise in Zweifel zu ziehen.
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Gegen die Geeignetheit der Maßnahme an der D. spricht letztlich auch nicht, dass der
Kläger nicht in der Lage war, den zunächst gesetzten Abschlusstermin (August 2001)
einzuhalten oder dass es für ihn nunmehr nicht mehr möglich sein dürfte, mit einem
Schulabschluss, der für August 2002 von ihm erwartet wird, an einer deutschen
Hochschule zu studieren. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Ziel einer
Eingliederungsmaßnahme im Rahmen des § 35 a SGB VIII jedenfalls nicht in erster
Linie ein bestimmter Schulabschluss ist und auch nicht, innerhalb eines bestimmten
Zeitraumes einen Abschluss zu erlangen. Entscheidend ist vielmehr, dass die im
Rahmen des § 35 a SGB VIII eingeleitete Maßnahme geeignet erscheint, einer
(drohenden) seelischen Behinderung entgegen zu wirken und den betroffenen
Jugendlichen in die Gesellschaft soweit wie möglich einzugliedern, wobei eine
Erfolgsgarantie ohnehin nicht gegeben werden kann. Dann jedoch zeigen alle
vorliegenden Stellungnahmen, insbesondere auch die Mitteilungen der D. aus jüngster
Zeit, dass der Kläger trotz der weiter bestehenden Teilleistungsstörungen in der Lage
ist, Teil einer Gemeinschaft zu sein und sich dort zu bewähren. Ebenso ist er nunmehr in
der Lage, Perspektiven für sein weiteres Leben zu entwickeln, sodass insoweit
wesentliche Ziele der Eingliederungsmaßnahme auch tatsächlich erreicht worden sind.
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Liegen nach alledem alle Voraussetzungen für die Gewährung von Jugendhilfe in Form
der Eingliederungshilfe gem. § 35 a SGB VIII durch Besuch der D. vor, kann dem
Anspruch des Klägers auch nicht entgegen gehalten werden, dass es an einem
rechtzeitigen Antrag an den Beklagten gefehlt habe. Insoweit geht die Kammer in
Übereinstimmung mit der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
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vgl. Urteil vom 28.09.2000 - 5 C 29.99 - in: ZFSH/SGB 2001, S. 558
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davon aus, dass Leistungen der Jugendhilfe grundsätzlich eine vorherige
Antragstellung gegenüber dem Träger der Öffentlichen Jugendhilfe voraussetzen. Hier
zeigen die vorliegenden Unterlagen, dass ein (formloser) Antrag auf Gewährung von
Jugendhilfe im August 1999 und damit noch vor Beginn der Maßnahme
(Schuljahresbeginn am 29.08.1999) gestellt worden ist. Ein derartiger Antrag ist
ausreichend, da eine förmliche Antragstellung gesetzlich nicht vorgeschrieben ist.
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Soweit der Beklagte die Auffassung vertritt, die Voraussetzungen der Hilfe für junge
Volljährige gem. § 41 Abs. 1 SGB VIII hätten nicht vorgelegen, ist darauf hinzuweisen,
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dass der Kläger in dem hier entscheidungserheblichen Zeitraum das 18. Lebensjahr
noch nicht vollendet hatte. Im Übrigen vermag die Kammer den diesbezüglichen
Bedenken auch nicht zu folgen, wie den spätere Zeiträume betreffenden Beschlüssen in
Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu entnehmen ist.
Nach alledem war der Klage in dem oben bestimmten Umfang stattzugeben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
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