Urteil des VG Gelsenkirchen vom 09.06.2009

VG Gelsenkirchen: behinderung, erlass, radiologische untersuchung, behörde, erfüllung, amtshilfe, beschränkung, gleichbehandlung, unterliegen, gemeinschaftspraxis

Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 14 K 3637/07
Datum:
09.06.2009
Gericht:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
14. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
14 K 3637/07
Schlagworte:
Parkerleichterung, Behinderung, aG, aG light, Ausnahme,
Versorgungsamt, Versorgungsverwaltung, Bindung, Stellungnahme
Normen:
StVO § 46 Abs. 1 Nr. 11
Leitsätze:
Bei der Überprüfung der Ermessensentscheidung der
Straßenverkehrsbehörde über die Erteilung einer
Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 1 StVO ist auch das Gericht an
die tatsächlichen Feststellungen der Versorgungsverwaltung gebunden.
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des
Rechtsstreits. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der
Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
T a t b e s t a n d :
1
Der im Jahre 19** geborene Kläger ist schwerbehindert. Mit Änderungsantrag vom 14.
Dezember 2006 beantragte er beim Versorgungsamt E. die Feststellung eines höheren
Grades der Behinderung sowie die Feststellung des Nachteilsausgleichs „aG". Zur
Begründung verwies er auf eine Verschlechterung seiner gesundheitlichen Situation,
wobei er zur Begründung stichwortmäßig aufführte:
2
„Verschlechterung Nacken, Kopfschmerzen, Schultergelenke beidseits, starke
Schmerzen im LWS-Bereich mit Ischialschmerzen rechts, Lähmung im rechten Bein,
Blutdruck, Schwindel, Unterschenkelschmerzen beidseits, Krampfadern."
3
Mit Bescheid vom 19. April 2007 stellte das Versorgungsamt einen Grad der
Behinderung ( GdB ) von 100 sowie das Nichtvorliegen der gesundheitlichen
Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG" fest. Zur Begründung führte es aus, bei dem
Kläger lägen folgende Beeinträchtigungen vor:
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Kunsthüftgelenk beiderseits, Kunstkniegelenk links, Kniegelenksverschleiß beiderseits,
Krampfaderleiden, Senk- Spreizfüße
5
Hirndurchblutungsstörungen, Schwindelzustände
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degenerativer Verschleiß der Wirbelsäule, Plexusneuralgie, Bandscheibenschäden,
Wirbelkanalenge,
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Bluthochdruck
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Schultergelenksfunktionsstörungen, Handgelenksarthralgien,
9
Speiseröhren- und Magenschleimhautentzündung, Leberveränderungen,
Harnsäurestoffwechselstörungen
10
Schulter-Arm-Syndrom, Ellenbogengelenkssyndrom
11
Gicht
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Unter Berücksichtigung des Ausmaßes und des Zusammenwirkens dieser
Beeinträchtigungen sei nunmehr ein Grad der Behinderung von 100 angemessen. Das
Merkzeichen „aG" stehe dem Kläger hingegen nicht zu. Eine außergewöhnliche
Gehbehinderung liege nur bei Personen vor, die sich wegen der Schwere ihrer
Behinderung dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb
ihres Kraftfahrzeuges bewegen könnten. Die Auswirkungen der Behinderung müssten
also funktionell die Fortbewegung beim Gehen auf das Schwerste einschränken, wie
z.B. bei Querschnittgelähmten oder vergleichbar - dort im Einzelnen aufgeführten -
Schwerbehinderten, die nach versorgungsärztlicher Feststellung diesem Personenkreis
gleichzustellen seien. Der Kläger gehöre nicht zu diesem Personenkreis. Die
Auswirkungen seiner Behinderung seien funktionell nicht so schwerwiegend, dass
seine Fortbewegung beim Gehen auf das Schwerste eingeschränkt sei.
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Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 24. April 2007 Widerspruch ein, den die
Bezirksregierung N. mit Widerspruchsbescheid vom 30. Mai 2007 nach nochmaliger
Überprüfung der vorliegenden ärztlichen Unterlagen als sachlich unbegründet
zurückwies.
14
Daraufhin erhob der Kläger am 11. Juni 2007 beim Sozialgericht H. - S 15 SB 207/07 -
Klage, zu deren Begründung er darauf verwies, dass er nur mit starken Schmerzen
kurze Wege gehen könne, zwei- bis dreimal wöchentlich zum Arzt müsse und hierbei
auf sein Auto angewiesen sei.
15
Im Erörterungstermin am 27. September 2007 nahm der Kläger sodann auf den Hinweis
des Kammervorsitzenden, dass nach Lage der Akten und den bisherigen
Befundberichten die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich „aG" wohl noch nicht
gegeben seien, er werde aber auf die Möglichkeit, eine Parkerleichterung außerhalb der
„aG"-Regelung beim Straßenverkehrsamt zu beantragen, hingewiesen, die Klage
zurück.
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Sodann beantragte der Kläger beim Beklagten mündlich am 1. Oktober 2007, die
Erteilung einer Parkerleichterung für schwerbehinderte Menschen außerhalb der „aG"-
17
Regelung.
Unter demselben Datum bat der Beklagte unter Verweis auf den Erlass des
Ministeriums für Wirtschaft und Mittelstand, Energie und Verkehr des Landes Nordrhein-
Westfalen (MWMEV) vom 4. September 2001 - Az.: 6 B 3-78-12/6 - das Versorgungsamt
E. im Wege der Amtshilfe um Stellungnahme nach Aktenlage, ob der Kläger zu dem in
dem Erlass genannten Personenkreis gehöre, für den eine entsprechende
Ausnahmegenehmigung erteilt werden könne. Nach Einholung einer internen ärztlichen
Stellungnahme teilte das Versorgungsamt E. unter dem 30. Oktober 2007 mit, der Kläger
erfülle nach bisheriger Aktenlage die Voraussetzungen des vorgenannten Erlasses
nicht. Auch nach abermaliger Anfrage des Beklagten vom 12. November 2007 unter
Verweis auf das als Anlage beigefügte Sitzungsprotokoll des Sozialgerichts vom 27.
September 2007 verblieb das Versorgungsamt unter Verweis auf seine Auskunft vom
30. Oktober 2007 bei seiner bisherigen Einschätzung.
18
Mit Bescheid vom 20. November 2007 lehnte der Beklagte die Erteilung der beantragten
Parkerleichterung ab.
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Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 22. November 2007 zunächst Widerspruch
und sodann nach entsprechender Rechtsbehelfsbelehrung des Beklagten am 4.
Dezember 2007 die vorliegende Klage erhoben. Zur Begründung verweist er darauf,
dass in dem Erörterungstermin vor dem Sozialgericht der dortige Kammervorsitzende
ihm nach Erörterung der Sach- und Rechtslage mitgeteilt habe, dass er die
Voraussetzungen für die Anerkennung des Merkzeichens „aG" nur knapp verfehle. Nach
den geltenden Vorschriften könne Schwerbehinderten mit dem Merkzeichen „G" eine
Parkerleichterung erteilt werden, sofern die Voraussetzungen für die Zuerkennung des
Merkzeichens „aG" nur knapp verfehlt würden. Voraussetzung sei ein Gesamtgrad der
Behinderung von mindestens 70 bei einer Begrenzung der Gehfähigkeit auf ca. 100 m.
Aus dem von ihm vorgelegten Attest seines Arztes, Herrn L. , vom 18. Dezember 2007
ergebe sich, dass bei ihm, dem Kläger, die Gehstrecke deutlich unter 150 m liege.
20
Des weiteren hat der Kläger eine Bescheinigung der Radiologischen
Gemeinschaftspraxis I. vom 12. Mai 2009 über eine bei ihm durchgeführte radiologische
Untersuchung vorgelegt.
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Der Kläger beantragt,
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den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger, unter Aufhebung seines Bescheides vom
20. November 2007 eine Parkerleichterung außerhalb der „aG"- Regelung gemäß § 46
Abs. 1 Nr. 11 der Straßenverkehrsordnung - StVO - zu gewähren.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er verweist darauf, dass bei der Frage der Erteilung einer Parkerleichterung im Wege
einer Ausnahmegenehmigung die Straßenverkehrsbehörden auf die Amtshilfe der
Versorgungsämter angewiesen seien, denen die entsprechenden ärztlichen Befunde
vorlägen und die diese auswerten könnten. Das Versorgungsamt E. habe für den Kläger
zweimal eine negative Stellungnahme abgegeben. Da der Kläger in seiner
Antragsbegründung nichts vorgetragen habe, was die Entscheidung des
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Versorgungsamtes widerlegen könne, sei die Ablehnung der Parkerleichterung zu
Recht erfolgt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen
auf den Inhalt der Gerichtsakte einschließlich der vorgelegten Verwaltungsvorgänge des
Beklagten sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Versorgungsamtes E. .
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
28
Die auf die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 1 Nr. 11 der
Straßenverkehrsordnung - StVO - gerichtete zulässige Verpflichtungsklage gemäß § 42
Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - ist nicht begründet.
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Der ablehnende Bescheid des Beklagten vom 20. November 2007 ist rechtmäßig und
verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat
keinen Anspruch auf die von ihm erstrebte Ausnahmegenehmigung.
30
Nach § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO können die Straßenverkehrsbehörden in bestimmten
Einzelfällen oder allgemein für bestimmte Antragsteller Ausnahmen genehmigen von
den Verboten und Beschränkungen, die durch Vorschrift- und Richtzeichen,
Verkehrseinrichtungen oder Anordnungen erlassen sind. Das in § 46 Abs. 1 Satz 1
StVO enthaltene Merkmal der Ausnahmesituation ist nicht als eigenständige
Tatbestandsvoraussetzung verselbständigt, sondern Bestandteil der der Behörde
obliegenden Ermessensentscheidung. Dem Kläger steht insoweit ein Anspruch auf
ermessensfehlerfreie Entscheidung der Behörde zu, der sich dahingehend verdichten
kann, dass ein Anspruch auf Verpflichtung der Behörde zum Erlass des begehrten
Verwaltungsakts besteht, weil allein eine Entscheidung im Sinne des Antragsbegehrens
die ermessensfehlerfreie ist ( sog. Ermessensreduzierung auf Null ).
31
Als Ermessensentscheidung ist die Ablehnung der erstrebten Ausnahmegenehmigung
gemäß § 114 VwGO nur einer eingeschränkten richterlichen Überprüfung zugänglich.
Das Gericht prüft ausschließlich, ob die Behörde in der Erkenntnis des ihr eingeräumten
Ermessens alle den Rechtsstreit kennzeichnenden Belange in ihre Erwägung
eingestellt hat, dabei von richtigen und vollständigen Tatsachen ausgegangen ist, die
Gewichtung dieser Belange der Sache angemessen erfolgt ist und das
Abwägungsergebnis vertretbar ist, insbesondere nicht gegen höherrangiges Recht
verstößt.
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Ermessensfehler des Beklagten sind vorliegend nicht ersichtlich, so dass ein Anspruch
des Klägers auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung seines Antrags nicht mehr
besteht.
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Die als Voraussetzung einer Befreiung von den verkehrsrechtlichen Beschränkungen
gebotene Feststellung, ob ein besonderer Ausnahmefall vorliegt, der ein Abweichen von
der regelmäßig zu verlangenden Beachtung der in der Vorschrift genannten
Regelungen rechtfertigt, setzt den gewichteten Vergleich der Umstände des konkreten
Falles mit dem typischen dem generellen Verbot zugrundeliegenden Regelfall voraus.
Die zweckentsprechende Umsetzung der Ermessensermächtigung nach § 46 Abs. 1
Satz 1 Nr. 11 StVO setzt danach grundsätzlich voraus, dass die
Straßenverkehrsbehörde den mit dem Verbot verfolgten öffentlichen Interessen die
besonderen Belange des Einzelnen unter Beachtung des Grundsatzes der
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Verhältnismäßigkeit gegenüberstellt. Die Genehmigung einer Ausnahme kommt in
Betracht, um besonderen Situationen Rechnung zu tragen, die bei strikter Anwendung
der Bestimmungen nicht hinreichend berücksichtigt werden können. Die behördliche
Ermessensentscheidung hat einerseits zu beachten, ob die Auswirkungen einer
Ausnahmegenehmigung den Zielen des Verbots nicht zuwider laufen, andererseits hat
sie eine geltend gemachte und bestehende Ausnahmesituation in diesem Lichte zu
gewichten. Dabei wird das Ermessen durch die Verwaltungsvorschrift zur
Straßenverkehrsordnung im Sinne einer gleichmäßigen, am Gesetzeszweck orientierten
Anwendung gesteuert.
Vgl. BVerwG, Urteile vom 13. März 1997 - 3 C 5.97 und 3 C 2.97 -, BVerwGE 104, 154;
OVG NRW, Urteil vom 14. März 2000 - 8 A 5467/98 -, Städte- und Gemeinderat 2000,
29f; vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 12. Mai 2000 - 8 A 2698/99 - zu § 70 Abs. 1 StVO
m.w.N, www.nrwe.de.
35
Nach den hier einschlägigen bundesrechtlichen Verwaltungsvorschriften (VV) zu § 46
Abs. 1 Nr. 11 StVO können Parkerleichterungen im Wege von
Ausnahmegenehmigungen „für Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher
Gehbehinderung sowie für Blinde" erteilt werden.
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Vgl. zur Gültigkeit dieser VV auch nach der Modifizierung der zugrunde liegenden
Ermächtigungsgrundlage in § 6 Abs. 1 StVG durch das Gesetz zur Änderung des
Straßenverkehrsgesetzes und anderer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 11.
September 2002 (BGBl I 2002, S. 3573): BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002 - B 9 SB
7/01 -, BSGE 90, 180 = Behindertenrecht 2003, 112, zitiert nach JURIS.
37
Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind danach solche
Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit
fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges
bewegen können. Hierzu zählen:
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Querschnittsgelähmte, Doppelober-/-unterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und
einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu
tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unter-schenkel-
oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach
versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem
vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind.
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Bei Erfüllung dieser Voraussetzungen besteht ein Anspruch auf Eintragung des
Merkzeichens „aG" in den Schwerbehindertenausweis.
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Vgl. zur Erfüllung der Anforderungen der straßenverkehrs-rechtlichen
Verwaltungsvorschrift als Voraussetzung für die Zuerkennung des Merkzeichens „aG"
durch das ( frühere ) Versorgungsamt, BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, a.a.O.
41
Der Kläger unterfällt dem in der Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs.1 Nr. 11 StVO unter
Abs.II „Voraussetzungen der Ausnahmegenehmigung" in Nr. 1. und 2. näher
umschriebenen Personenkreis nicht. Diese Feststellung rechtfertigt sich vorliegend
allein und für das erkennende Gericht bindend daraus, dass in seinem - insoweit
verbindlichen - Schwerbehindertenausweis nicht das Merkzeichen „aG", sondern ( nur )
das Merkzeichen „G" eingetragen ist.
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Ein Anspruch des Klägers auf die begehrte Ausnahmegenehmigung folgt auch nicht aus
dem Runderlass des ( früheren ) Ministeriums für Wirtschaft und Mittelstand, Energie
und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen vom 4. September 2001 (VI B 3-78-12/6)
in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 GG.
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Aus Gründen einer einheitlichen Ermessenshandhabung sind in diesem Erlass gemäß
§ 46 Abs. 2 StVO nähere Kriterien für die Straßenverkehrsbehörden festgelegt, nach
denen eine auf das Land Nordrhein- Westfalen begrenzte „entsprechende
Ausnahmegenehmigung" ( kein Parkausweis für Behinderte ) auszugeben ist.
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Nach dem Runderlass werden in Fällen wie dem hier vorliegenden „die
Versorgungsämter [...] in Amtshilfe tätig und geben eine Stellungnahme nach Aktenlage
ab". Aus Gründen der Gleichbehandlung und wegen des fehlenden Fachwissens der
Straßenverkehrsämter in diesem Bereich ist es sachlich gerechtfertigt, wenn der
Nachweis für die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen nur durch entsprechende
Feststellungen der Versorgungsämter geführt werden kann. Dies ist auch in anderen
Bereichen des Schwerbehindertenrechts nicht anders.
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Vgl. VG Köln, Urteil vom 24. September 2004 - 11 K 4727/03 -, m.w.N., Juris
46
Zweck dieses Erlasses ist es, atypische Sachverhalte zu erfassen, in denen zwar die
Erteilung eines Parkausweises nach der oben genannten Verwaltungsvorschrift nicht
möglich ist, etwa, weil die Tatbestandsvoraussetzungen für die Zuerkennung des
Merkmals „aG" (noch) nicht erreicht werden, aber dennoch aufgrund der Behinderung
Beeinträchtigungen bestehen, die eine Gleichstellung insoweit erfordern, dass eine
Ausnahmegenehmigung erteilt werden kann, um unbillige Härten im Einzelfall zu
vermeiden. Der Runderlass vom 4. September 2001 soll für den potentiell betroffenen
Personenkreis aus Gründen der Sicherstellung eines einheitlichen
Verwaltungshandelns, also im Sinne einer gebotenen Gleichbehandlung, ohne weiteres
zu überprüfende Kriterien festlegen, um trotz Fehlens einer in einem
Schwerbehindertenausweis ausgewiesenen „außergewöhnlichen Gehbehinderung"
ausnahmsweise gleichwohl die Erteilung einer Erlaubnis i.S.d. § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO
ermöglichen zu können.
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Als Personengruppe, für die „außerhalb der aG-Regelung" die Erteilung einer
Ausnahmegenehmigung in Betracht kommt, ist unter anderem die Gruppe der
Gehbehinderten mit dem Merkzeichen „G", sofern die Voraussetzungen für die
Zuerkennung des Merkzeichens „aG" nur knapp verfehlt wurden ( anerkannter Grad der
Behinderung mind. 70 und max. Aktionsradius ca. 100 m ), aufgeführt. Der Wortlaut des
Erlasses macht deutlich, dass hierbei in aller Regel die Voraussetzungen für die
Zuerkennung des Merkzeichens „aG" nur knapp nicht erfüllt sein dürfen. Insbesondere
die Formulierung „ca." soll erkennbar eine allenfalls geringfügige Abweichung „nach
oben" ermöglichen. Hiernach kommt dem Erlass unter Berücksichtigung der aktuellen
sozialgerichtlichen Rechtsprechung,
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vgl. zum Begriff der außergewöhnlichen Gehbehinderung BSG, Urteil vom 10.
Dezember 2002 - B 9 SB 7/01 -, a.a.O. und insbesondere LSG Baden- Württemberg,
Urteil vom 19. März 2002 - L 11 SB 942/01 -, JURIS,
49
eine Bedeutung im wesentlichen nur in solchen seltenen Fallkonstellationen zu, in
50
denen der Schwerbehinderte gerade noch 100 m ( maximal einige wenige Meter mehr,
soweit dies überhaupt einer Verifizierung zugänglich ist ) zurücklegen kann - also dem
Grunde nach auch eine außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne des
Schwerbehindertenrechts zu bejahen sein könnte -, die Zuerkennung des „aG"-
Merkzeichens im Schwerbehindertenausweis indessen ( noch ) nicht erfolgt ist.
Andernfalls wäre die im Erlass formulierte einschränkende Tatbestandsvoraussetzung
„max. Aktionsradius ca. 100 m" sinnlos und schiede der Erlass als Rechtsgrundlage für
einen ermessensgesteuerten Anspruch des Klägers ohnehin aus.
Die Formulierung des Erlasses („nach Aktenlage") macht deutlich, dass im Rahmen des
Verfahrens auf Erteilung einer Ausnahme nach § 46 Abs.1 Nr. 11 StVO nicht außerhalb
der dafür zuständigen Versorgungsverwaltung eine gesonderte oder erneute Prüfung
des Grades der Behinderung oder der Voraussetzungen für die Zuerteilung von
Merkzeichen erfolgen soll. Die Straßenverkehrsbehörde soll sich vielmehr der -
besonders sach- und fachkundigen - Versorgungsverwaltung bedienen, die ihre
Feststellung nach Maßgabe der vorhandenen Unterlagen ohne weitere
Sachverhaltsermittlung trifft. Auch dort soll nicht außerhalb des im SGB IX vorgesehen
Verfahrens ein „paralleles" Verwaltungsverfahren durchgeführt sondern allein nach
Aktenlage auf der Grundlage der vorhandenen Erkenntnisse entschieden und nicht etwa
von Amts wegen eine weitere Aufklärung ggfls. in Form der Einholung weiterer
Gutachten getätigt werden.
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Diese Beschränkung der Prüfung durch die Versorgungsverwaltung auf die zum
Zeitpunkt der Antragstellung vorliegende Aktenlage stellt sich nicht als Verstoß gegen
rechtsstaatliche Grundsätze dar. In Fällen der vorliegenden Art ist eine weitergehende
Sachverhaltsermittlung bereits deshalb weder geboten noch erforderlich, weil sich aus
den der Versorgungsverwaltung vorliegenden Akten regelmäßig ergibt, warum es zu der
Zuerkennung des Merkmals „aG" nicht gekommen ist. Wie bereits ausgeführt, kann und
soll das Verwaltungsverfahren über die Erteilung einer Ausnahme nach § 46 StVO nicht
dazu dienen, Entscheidungen nach dem SGB IX einer tatsächlichen Überprüfung zu
unterziehen.
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Allein auf der so vorgegebenen Tatsachengrundlage findet eine nochmalige
eingehende Prüfung durch das Versorgungsamt statt, die allerdings in der
Stellungnahme an die Straßenverkehrsbehörde mit Rücksicht auf die zu schützenden
Sozialdaten des Betroffenen - bewusst - keinen Niederschlag findet. Die regelmäßig
verfasste ausführliche Stellungnahme der Versorgungsverwaltung, wie auch vorliegend
in den beigezogenen Verwaltungsvorgängen des Versorgungsamtes E. vorhanden,
verbleibt hingegen innerhalb der versorgungsamtlichen Vorgänge.
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Ausweislich der in den vom Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgängen enthaltenen
Stellungnahmen der Versorgungsverwaltung vom 30. Oktober und 14. November 2007
liegen die oben dargestellten Voraussetzungen für die Annahme einer vergleichbar
schwerwiegenden Gehbehinderung in der Person des Klägers nicht vor.
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Die Kammer hat in Fällen der vorliegenden Art bereits mehrfach entschieden, dass die
einzuholenden Stellungnahmen der Versorgungsverwaltung (früher Versorgungsämter)
für den Beklagten und das Gericht grundsätzlich verbindlich sind und diesen eine
Überprüfung der versorgungsamtlichen Stellungnahmen in der Sache grundsätzlich
ebenso verwehrt ist, wie es hinsichtlich der Eintragung des die Art der Behinderung
festlegenden Merkzeichens („aG" bzw. „G") bzw. des anerkannten Grades der
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Behinderung im Schwerbehindertenausweis der Fall ist
VG Gelsenkirchen, Beschlüsse vom 18. März 2004 - 14 L 317/04 - und vom 29. März
2004 - 14 K 4497/03 -, www.nrwe.de, unter Anlehnung an die zur Bindungswirkung der
Eintragungen in den Schwerbehindertenausweisen ergangene Rechtsprechung: OVG
NRW, Beschluss vom 22. August 1996 - 25 A 5167/94 - und BVerwG, Urteile vom 17.
Dezember 1982 - 7 C 11.81 -, DÖV 1983, 509 sowie vom 27. Februar 1992 - 5 C 48.88 -,
BVerwGE 66, 315.
56
Anlass zu weiteren gerichtlichen Überprüfungen kann nur dann bestehen, wenn sich
Anhaltspunkte ergeben, die darauf hindeuten, dass die allein streitgegenständliche
Ermessensentscheidung des Beklagten an Fehlern leidet, weil sie auf einer falschen
Tatsachengrundlage beruht. Dies kann unter anderem dann der Fall sein, wenn die
Stellungnahme der Versorgungsverwaltung offensichtlich auf einer unvollständigen
Erfassung oder aber einer willkürlichen und deshalb nicht mehr nachzuvollziehenden
Bewertung der vorhandenen Aktenlage beruht.
57
Auch in dieser Einschränkung der gerichtlichen Überprüfung liegt kein Verstoß gegen
rechtsstaatliche Grundsätze.
58
Wenn - wie bereits dargelegt - den Straßenverkehrsbehörden bewusst eine eigene
Überprüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen versagt bleiben soll, kann für das
gerichtliche Verfahren, das die auf dieser Grundlage zu treffende
Ermessensentscheidung des Straßenverkehrsamtes auf Fehler zu überprüfen hat,
nichts anderes gelten.
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Dies entspricht auch dem Sinn und Zweck sowohl des § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO als auch
des ihn für die Behörde verbindlich hinsichtlich der Ermessensausübung aus-füllenden
Erlasses vom 4. September 2001. Würden die einschlägigen Bewertungen der
Versorgungsämter im Verfahren auf Erteilung einer straßenverkehrsrechtlichen
Ausnahme einer vollen verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung bis hin zu einer
Beweiserhebung über den Gesundheitszustand des jeweiligen Antragstellers - hier des
Klägers -, etwa über seinen aktuellen Grad der Behinderung und/oder über den
maximalen Aktionsradius unterliegen, würde nicht nur die in der vorzitierten
Rechtsprechung herausgearbeitete alleinige Zuständigkeit der Versorgungsverwaltung
zur Feststellung der in Rede stehenden gesundheitlichen Merkmale negiert. Eine
sachliche Überprüfungsmöglichkeit bzw. -verpflichtung würde auch dazu führen, dass
im Ergebnis über die Qualität der gesundheitlichen Beeinträchtigungen in zwei
verschiedenen Gerichtsbarkeiten, nämlich der Sozial- und der
Verwaltungsgerichtsbarkeit, mit der nicht auszuschließenden Möglichkeit divergierender
Ergebnisse entschieden werden könnte bzw. müsste. Ein solches Verständnis dürfte
weder dem § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO noch (erst Recht) dem Erlass vom 4. September
2001 beigemessen werden können.
60
Diese Beschränkung führt auch nicht dazu, dass dem Betroffenen kein ausreichender
Rechtsschutz im Sinne des Art 19 Abs. 4 GG zur Verfügung stünde. Im Gegenteil würde
ein „paralleles" Prüfungsverfahren außerhalb des im SGB IX geregelten Verfahrens erst
recht zu Rechtsschutzlücken führen. Denn mit ihrer Stellungnahme zu der Frage, ob die
Voraussetzungen zur Zuerkennung des Merkzeichens „aG" nur knapp (oder deutlich)
verfehlt werden, wird die Sozialverwaltung nicht auf Antrag des Betroffenen im Rahmen
des SGB IX tätig, so dass eine sachliche und rechtliche Überprüfung des Ergebnisses
61
der Aktenprüfung durch die Sozialgerichtsbarkeit nicht erfolgen kann. Im
verwaltungsgerichtlichen Verfahren gegen die Straßenverkehrsbehörde kann aber eine
unmittelbare inhaltliche Überprüfung der Feststellungen der Versorgungsverwaltung
schon deshalb nicht erfolgen, weil der Verwaltungsrechtsweg gegen Entscheidungen
der Versorgungsverwaltung nicht eröffnet ist. Eine „Inzidentkontrolle" der Feststellungen
der Versorgungsverwaltung würde zu dem oben bereits angeführten „Parallelverfahren"
und der unter Rechtsstaatsgesichtspunkten unerwünschten Gefahr divergierender
Entscheidungen führen.
Vorliegend hat der Kläger die vorbeschriebene Plausibilität der Bewertung der
Versorgungsverwaltung weder durch das vorgelegte Attest seines Arztes, Herrn L. , vom
18. Dezember 2007, das dem Kläger eine Gehstrecke von „...deutlich unter 150 m"
bescheinigt, noch durch den Untersuchungsbericht der Radiologischen
Gemeinschaftspraxis I. vom 12. Mai 2009, der keinerlei Beschreibung einer
quantifizierbaren Gehwegseinschränkung enthält, in maßgeblicher Weise erschüttert.
Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Versorgungsverwaltung bei der
Bewertung der eingereichten Unterlagen von einer unzutreffenden oder unvoll-
ständigen Aktenlage ausgegangen ist oder diese willkürlich fehlerhaft gewürdigt hat.
Insoweit ist darauf zu verweisen, dass erkennbarer Anlass für den vom Kläger beim
Beklagten gestellten Antrag auf Gewährung einer Parkerleichterung war, dass er
unmittelbar zuvor - vergeblich - einen Änderungsantrag beim Versorgungsamt E. mit
dem Ziel der Erlangung des „aG"-Merkzeichens gestellt hatte und ihm auch in dem von
ihm angestrengten nachfolgenden sozialgerichtlichen Verfahren keine
Erfolgsaussichten eingeräumt worden sind. Angesichts des Umstandes, dass bereits
der gutachtlichen Stellungnahme vom 4. Juli 2007 in den von der Kammer
beigezogenen und vom Kläger eingesehenen Verwaltungsvorgängen des
Versorgungsamtes E. ( Band II, Bl.76 ) zu entnehmen ist, dass „...für aG gemäß
Befunden und AHP keine erkennbaren Voraussetzungen" gegeben sind, sieht die
Kammer auch keine Veranlassung zur Prüfung, ob dem Kläger - ggfls. mit welcher
Bedeutung - durch den Kammervorsitzenden des Sozialgerichts über den Inhalt des
Sitzungsprotokolls hinaus tatsächlich bestätigt worden ist, er verfehle die
Voraussetzungen des Merkzeichens „aG" nur knapp. Die in der Niederschrift tatsächlich
enthaltene Formulierung, „...dass nach Lage der Akten und den bisherigen
Befundberichten die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich „aG" wohl noch nicht
gegeben sind.", bestätigt die Interpretation des Klägers jedenfalls nicht in einer Weise,
die geeignet wäre, die Annahme einer offensichtlichen Fehlerhaftigkeit der
versorgungsamtlichen Stellungnahme zu begründen.
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Wie bereits ausgeführt, soll das Verfahren zur Erteilung der Ausnahmegenehmigung
nach § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO kein „Ersatz-" oder „Zweitverfahren" für die Feststellung
einer außergewöhnlichen Gehbehinderung nach dem SGB IX sein. Daraus folgt die
Beschränkung der tatsächlichen Prüfung der Versorgungsverwaltung auf die
„Aktenlage". Ärztliche Befunde, welche bislang nicht Gegenstand eines Verfahrens
nach dem SGB IX gewesen sind, können zwar im Verfahren auf Erteilung einer
straßenverkehrsrechtlichen Ausnahmegenehmigung dazu dienen, die von der
Versorgungsverwaltung bislang getroffenen Feststellungen zu ergänzen oder zu
erläutern. Eine Abänderung der maßgeblichen Merkmale, wie etwa des Grades der
Behinderung oder der Merkzeichen ist in diesem Verfahren jedoch, wie bereits
ausgeführt, nicht möglich. Zwar ist in diesem Zusammenhang grundsätzlich zu
berücksichtigen, dass der Gesundheitszustand und die Qualität der Schwerbehinderung
naturgemäß einem ständigen Wandel unterliegen können und ( wiederholte ) Anträge
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von Menschen mit Behinderung gegenüber dem Versorgungsamt auf Festsetzung eines
höheren Grades der Behinderung bzw. eines anderen „gewichtigeren" Merkzeichens mit
- bei abschlägiger Bescheidung - nachfolgendem sozialgerichtlichen Verfahren
geradezu typisch sind. Unter Würdigung der in der vorzitierten obergerichtlichen
Rechtsprechung herausgearbeiteten alleinigen Zuständigkeit der
Versorgungsverwaltung zur Feststellung der in Rede stehenden gesundheitlichen
Merkmale - namentlich des Aktionsradius des jeweiligen Schwerbehinderten - und zur
Vermeidung divergierender Entscheidungen in der Sozial- und
Verwaltungsgerichtsbarkeit sind, wie die Kammer in ihrer oben zitierten Rechtsprechung
im Einzelnen dargelegt hat, die betroffenen Kläger allerdings darauf zu verweisen, bei
einer erheblichen Veränderung ihres Gesundheitszustandes die Zuerkennung des
Merkmals „aG", gegebenenfalls auf dem Klageweg vor dem Sozialgericht, zu erreichen.
Die Kostenentscheidung der nach alledem abzuweisenden Klage beruht auf § 154 Abs.
1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i. V. m.
mit den §§ 708, 711 der Zivilprozessordnung.
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