Urteil des VG Frankfurt (Main) vom 22.05.2009

VG Frankfurt: öffentliche sicherheit, europäischer gerichtshof für menschenrechte, aufenthalt, verfügung, emrk, eugh, dienstleistungsfreiheit, eheliche gemeinschaft, öffentliches interesse

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Gericht:
VG Frankfurt 7.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
7 K 3732/08.F, 7 K
3732/08.F (3)
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 14 AssoziierungsAbk
EWG/TUR, Art 49 EGVtr, § 55
Abs 1 AufenthG, § 154 Abs 1
VwGO
Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen
Leitsatz
Assoziationsabkommen EWG/Türkei
Zusatzprotokoll Assoziationsabkommen EWG/Türkei
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten
abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher
Höhe leistet.
Tatbestand
Der im Jahre 1975 geborene Kläger ist Staatsangehöriger der Republik Türkei und
lebte mit seiner Ehefrau in der Republik Frankreich. Dort verfügte er über eine bis
zum 30.04.2008 gültige Aufenthaltskarte (Carte de Séjour). Nach seinen Angaben
kam es in der Ehe zu Spannungen. Deshalb reiste er Ende September 2008 in das
Bundesgebiet ein. Vier seiner Brüder leben in XY; alle sind verheiratet, zwei von
ihnen haben Kinder und die deutsche Staatsbürgerschaft. Der Onkel des Klägers
lebt in O. Der Kläger beabsichtigte, seine Verwandten zu bitten, mit ihm einen
Ausgleich mit seiner Ehefrau herbei zu führen. Ein Visum für die Bundesrepublik
Deutschland besaß er nicht. Sein türkischer Reisepass war am 30.04.2008
abgelaufen.
Nach seinen eigenen Angaben stellte sich während des Aufenthaltes in der
Bundesrepublik Deutschland heraus, dass die eheliche Gemeinschaft von Seiten
der Familie seiner Ehefrau nicht weiter gewünscht wurde.
Am 16.10.2008 trafen ihn Polizeibeamte in der Wohnung eines seiner Brüder in XY
an und nahmen ihn wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das
Aufenthaltsgesetz fest.
Am gleichen Tage erfolgte die Anhörung des Klägers durch die zuständige
Ausländerbehörde. Am 17.10.2008 erließ die Beklagte eine
Ausweisungsverfügung, nach deren Inhalt der Kläger für dauernd aus der
Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen wurde (Ziffer 1). Die sofortige
Vollziehung der Ausweisung gem. § 80 Abs. 2 Ziffer 4 VwGO wurde angeordnet
(Ziffer 2). Unter Ziffer 3 wurde die Abschiebung in die Republik Türkei angedroht für
den Fall, dass der Kläger nicht innerhalb von 14 Tagen nach Zustellung der
Verfügung seiner Ausreiseverpflichtung nach § 50 Abs. 1 AufenthG nachkomme.
Gleichzeitig erging ein Hinweis, dass der Kläger auch in einen anderen Staat
abgeschoben werden könne, in den er einreisen darf oder der zu seiner
Rückübernahme verpflichtet ist. Zur Begründung führte die Beklagte im
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Rückübernahme verpflichtet ist. Zur Begründung führte die Beklagte im
Wesentlichen aus, dass die Einreise und der Aufenthalt des Klägers in der
Bundesrepublik Deutschland gemäß § 3 Abs. 1 AufenthG mangels gültigem
Nationalpasses sowie eines gemäß §§ 4 und 6 AufenthG gültigen Aufenthaltstitels
in der Form des Visums unerlaubt seien. Daher sei der Ausweisungstatbestand
des § 55 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Ziffer 2 AufenthG erfüllt.
Die Anwesenheit des Klägers beeinträchtige die öffentliche Sicherheit und Ordnung
der Bundesrepublik Deutschland. Angesichts der hohen Zahl der sich im
Bundesgebiet illegal aufhaltenden Ausländer bestehe ein erhebliches öffentliches
Interesse daran, dass sich Einreise und Aufenthalt in geregelten Bahnen
vollziehen. Ausländerrechtliche Bestimmungen seien wesentliche
Ordnungsvorschriften, so dass ein Verstoß dagegen nicht nur als geringfügiger
Verstoß gegen Rechtsvorschriften zu werten sei. Die Ausweisung sei gerechtfertigt
und erforderlich, denn sie diene zu Abschreckung anderer Ausländer um den
ständigen Versuchen ausländischer Staatsangehöriger, in der Bundesrepublik
illegal Aufenthalt zu nehmen, nachhaltig entgegenwirken zu können.
Das persönliche Interesse des Klägers an einem weiteren Verbleib in der
Bundesrepublik Deutschland habe gegenüber dem öffentlichen Interesse an der
genauen Einhaltung und Beachtung der ausländerrechtlichen Gesetze und
Vorschriften zurückzustehen. Gründe nach § 55 Abs. 3 AufenthG seien nicht zu
erkennen, da der Kläger nicht über schutzwürdige Bindungen zu hier rechtmäßig
lebenden Personen verfüge, noch sonstige Belange zu erkennen seien, die ein
schutzwürdiges Interesse an einem weiteren Aufenthalt begründeten. Nachteilige
Folgen einer Ausweisung für eventuell hier rechtmäßig lebende Familienangehörige
des Klägers seien nicht zu befürchten.
Der Kläger hat am 27.10.2008 hiergegen Klage erhoben.
Zur Begründung trägt er vor, die Klage richte sich insbesondere gegen Ziffer 1 der
Verfügung. Insoweit dort eine unbefristete Sperrwirkung festgesetzt werde, sei
diese unverhältnismäßig. In Anbetracht des Ausweisungsanlasses sowie der
besonderen Interessen des Klägers sei - sofern man überhaupt den Erlass einer
Ausweisungsverfügung für verhältnismäßig erachte - allenfalls eine Befristung in
Höhe von sechs Monaten verhältnismäßig. Die Ausländerbehörde hätte prüfen
müssen, ob nicht mildere Mittel dem angestrebten öffentlichen Interesse genügen
würden.
Nach Aktenlage sei erkennbar gewesen, dass besondere familiäre Bindungen des
Klägers im Bundesgebiet bestünden. Aufgrund dieser familiären Umstände habe
der Kläger ein berechtigtes Interesse daran, nicht unverhältnismäßig lange von der
Möglichkeit von Besuchsreisen zu seinen in Deutschland lebenden Brüdern und
ihren Familien abgehalten zu werden. Der Kläger sei auch zu diesem Zweck in die
Bundesrepublik eingereist.
Darüber hinaus beabsichtige nunmehr der Kläger mit dem Studium in Deutschland
sich für eine Berufstätigkeit in der Republik Türkei weiter zu qualifizieren. Er
beabsichtige an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main
möglichst bald das Studium der Betriebswirtschaft aufzunehmen; über eine
einschlägige Ausbildung in der Republik Türkei verfüge er bereits.
Wegen dieser beiden Aspekte sei das Privatleben des Klägers im Sinne von Art. 8
Abs. 1 EMRK berührt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
verpflichte Art. 8 EMRK die Ausländerbehörde dazu, bereits in der
Ausweisungsverfügung zu prüfen, ob deren Wirkung nicht von vornherein zeitlich
zu befristen sei.
Der Kläger sei davon ausgegangen, dass er als Ehemann einer französischen
Staatsbürgerin mit einem für Frankreich gültigen Aufenthaltstitel ohne Erlaubnis
nach Deutschland einreisen und auch dort studieren dürfe.
Schließlich sei die Ausweisungsverfügung bereits kraft Gemeinschaftsrechts
rechtswidrig, da die Einführung der Visumspflicht für türkische Staatsangehörige
nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (Entscheidung
„Soysal“) gegen das Verschlechterungsverbot nach Art. 41 Abs. 1
ZPAssEWG/Türkei verstoße. Als Tourist sei der Kläger Empfänger von
Dienstleistungen und habe damit nach dieser Rechtsprechung nicht der
Visumspflicht unterlegen.
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Der Kläger beantragt,
die Verfügung der Stadt XY vom 17. Oktober 2008 aufzuheben. Die Beklagte
beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung wird auf den Inhalt der Behördenvorgänge Bezug genommen,
insbesondere auf die angegriffene Verfügung.
Ergänzend führt die Beklagte aus, dass weder der genaue Einreisezeitpunkt noch
der Aufenthaltszweck vom Kläger glaubhaft gemacht, noch dieser durch
entsprechende Unterlagen belegt worden sei. Auch ein Antrag auf Befristung sei
nicht aktenkundig.
Im Rahmen der erst noch im förmlichen Befristungsverfahren zu treffenden
Befristungsentscheidung sei zu berücksichtigen, dass der Kläger bereits 34 Jahre
alt sei und es sich bei den benannten besonderen familiären Bindungen im
Bundesgebiet um die erwachsenen Brüder des Klägers und deren Familien
handele. Eine Ehefrau oder eigene Kinder habe der Kläger nicht im Bundesgebiet.
Außerdem lasse der Sachvortrag des Klägerbevollmächtigten darauf schließen,
dass es dem Kläger nicht um einen gelegentlichen Besuch bei seinen Verwandten
in Deutschland gehe, sondern dass sein eigentliches Ziel sei, ein
Daueraufenthaltsrecht im Bundesgebiet anzustreben. Letztlich sei ein Zuzug zur
Familie der Brüder gewünscht.
Aufgrund des fortgeschrittenen Alters des Klägers erscheine schließlich im Falle
eines erfolgreichen Studienabschlusses der Erhalt eines adäquaten Arbeitsplatzes
längerfristig kaum erreichbar.
Der Kläger reiste am 29.10.2008 freiwillig in die Türkei aus.
Die Universität Frankfurt am Main bestätigte am 17.11.2008 das Vorliegen einer
ordnungsgemäßen Bewerbung des Klägers um Zulassung zum Studium zum
Sommersemester 2009.
Mit Schreiben vom 26.11.2008 hat der Kläger bei der zuständigen
Ausländerbehörde beantragt, die Wirkung der Ausreiseverfügung vom 17.10.2008
zu befristen.
Mit Beschluss vom 9.4.2009 hat die Kammer den Rechtsstreit auf den
Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.
Zum weiteren Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakte, die beigezogene
Behördenakte und die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 13.05.2009
verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
Mit der Verfügung der Beklagten vom 17.10.2008 wird der Kläger nicht in seinen
Rechten verletzt, § 113 Abs.1 Satz 1 VwGO. Die angegriffene Verfügung ist
rechtmäßig.
Insbesondere ist die unter Ziffer 1 der Verfügung ergangene Ausweisung
rechtmäßig.
Die Voraussetzungen für eine Ermessensausweisung gemäß § 55 Abs. 1 i.V.m.
Abs. 2 Ziffer 2 AufenthG liegen vor.
Der Kläger hat einen Verstoß gegen Rechtsvorschriften im Sinne des § 55 Abs. 2
Ziffer 2 AufenthG begangen. Er hat sowohl gegen die Passpflicht nach § 3 als auch
gegen die Visumspflicht nach § 4 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 Ziffer 1 AufenthG
verstoßen.
Zunächst liegt ein Verstoß gegen § 3 AufenthG vor, denn der türkische Reisepass
des Klägers war bei dessen Einreise in die Bundesrepublik Deutschland
abgelaufen.
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Dieser Verstoß erfüllt allerdings nicht ohne weiteres den Ausweisungstatbestand
des § 55 Abs. 2 Ziffer 2 AufenthG (Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und
Asylrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 1080).
Der Kläger verfügte jedoch auch über keinen Aufenthaltstitel in Form eines
Visums.
Als türkischer Staatsangehöriger hätte er grundsätzlich eines solchen Visums
bedurft.
Nach Art. 1 Abs. 1 VO 539/2001/EG i.V.m. deren Anhang I besteht für türkische
Staatsangehörige eine Visumspflicht für die Einreise in die und den Aufenthalt in
der Bundesrepublik Deutschland.
Etwas anderes ergibt sich nicht aus dem Assoziationsrecht zwischen der
Europäischen Gemeinschaft und der Republik Türkei.
Insbesondere folgt aus Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom
12.09.1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation
(abgekürzt ZPAssEWG/Türkei) nicht, dass für den Kläger keine Visumspflicht
besteht.
Bei der Bewertung dieser Bestimmung ist ihre Entstehungsgeschichte zu
berücksichtigen.
Am 12.09.1963 unterzeichneten die damalige Europäische
Wirtschaftsgemeinschaft und die Türkei das Abkommen zur Gründung einer
Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei
(abgekürzt AssAbkEWG/Türkei), das gemäß seinem Art. 2 Abs. 1 eine Verstärkung
der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien zum Ziel
hat.
Nach Art. 2 Abs. 3 AssAbkEWG/Türkei umfasst die Assoziation eine Vorbereitungs-,
eine Übergangs-, sowie eine Endphase.
Für die Festlegung der Bedingungen, die Einzelheiten und den Zeitplan für die
Verwirklichung der Übergangsphase wurde das ZPAssEWG/Türkei abgeschlossen.
Es wurde am 23.11.1970 beschlossen und von der Bundesrepublik Deutschland
am 01.01.1973 ratifiziert (Gesetz zum Zusatzprotokoll für die Übergangsphase der
Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei
vom 10.05.1972, BGBl. II, 385).
Nach Art. 41 Abs. 1 ZPAssEWG/Türkei verpflichten sich die Vertragsparteien des
AssAbkEWG/Türkei, „untereinander keine neuen Beschränkungen der
Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs“ einzuführen (sog.
Stillhalteklausel).
Art. 41 Abs. 1 ZPAssEWG/Türkei verleiht zwar selbst kein Aufenthaltsrecht (EuGH,
Slg. 2000, I-2927 - „Savas“; Slg. 2007, I-7415 - „Tum und Dari“). Die Vorschrift
bewirkt jedoch, dass die ausländerrechtliche Rechtslage im Zeitpunkt des
Inkrafttretens des ZPAssEWG/Türkei zu Grunde zu legen ist, wenn und soweit diese
günstiger ist als die gegenwärtige (vgl. VG Darmstadt, B. v. 28.10.2005 - 8 G
1070/05 (2) -, m.w.Nachw., InfAuslR 2006, 45 [50]). Zum Zeitpunkt des
Inkrafttretens dieser Bestimmung konnten nach der deutschen Rechtslage
türkische Staatsangehörige visumsfrei in die Bundesrepublik einreisen, sofern sie
nicht im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausüben wollten (Umkehrschluss aus
§ 5 Abs. 1 der Verordnung zur Durchführung des AusländerGi.V.m. deren Anlage).
Auf diese Vorschrift können sich nach der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs (abgekürzt EuGH) Betroffene unmittelbar berufen (EuGH, Slg. 2000, I-
2927 - „Savas“; Slg. 2007, I-7415 - „Tum und Dari“).
Gleichwohl kann sich der Kläger nicht auf diese, ihn begünstigende Auslegung
berufen.
Zwar kann die Europäische Union mit guten Gründen als Adressat der
Stillhalteklausel angesehen werden (vgl. Mielitz, NVwZ 2009, 276 [277] m.w.N.), so
dass die von ihrem Rat erlassene einschlägige Regelung der VO 539/2001/EG
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dass die von ihrem Rat erlassene einschlägige Regelung der VO 539/2001/EG
i.V.m. deren Anhang I eine gegenüber der deutschen Rechtslage am 01.01.1973
zusätzliche Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit darstellen kann.
Es spricht auch vieles dafür, dass Touristen türkischer Staatsangehörigkeit unter
die sog. Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 ZPAssEWG/Türkei fallen. Touristen sind
nach der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 49f. EGV Dienstleistungsempfänger im
Reiseland und sind unter die passive Dienstleistungsfreiheit zu fassen: Der freie
Dienstleistungsverkehr schließt die Freiheit der Leistungsempfänger ein, sich zur
Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben,
ohne durch Beschränkungen daran gehindert zu werden (EuGH, Slg. 1984, 377 =
NJW 1984, 1288 - „Luisi und Carbone“). Diese Rechtsprechung findet auch im
Assoziationsrecht Anwendung, welches keine eigenständige Definition des Begriffs
der Dienstleistungsfreiheit enthält, sondern vielmehr auf die Vorschriften des EG-
Vertrags verweist (Art. 14 AssAbkEWG/Türkei).
Zur Überzeugung des Gerichts ist der Kläger allerdings nicht als
Dienstleistungsempfänger im Sinne des Art. 49 EGV zu sehen. Der Aufenthalt des
Klägers in der Bundesrepublik Deutschland ist kein touristischer gewesen.
Die Zuordnung von Touristen zum Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit hat
nämlich nach der Rechtsprechung des EuGH Einschränkungen erfahren. Die
passive Dienstleistungsfreiheit ist demzufolge nicht einschlägig, wenn sich ein
Staatsangehöriger eines Mitgliedsstaats dauerhaft in das Hoheitsgebiet eines
anderen Mitgliedstaats begibt, um dort für unbestimmte Zeit Dienstleistungen zu
empfangen (EuGH, Slg. 1988, 6159 - „Steymann“; Slg. 1997, I-3395 = EuZW
1998, 124 - „Sodemare“). Verlagert der Dienstleistungsempfänger seinen
Hauptaufenthalt in den Mitgliedstaat des Dienstleistungserbringers, fehlt der
erforderliche Auslandsbezug (EuGH, Slg. 1994, I-3395 = EuZW 1998, 124 -
„Sodemare“). Entscheidendes Abgrenzungskriterium ist damit, ob der Aufenthalt
des Dienstleistungsempfängers nur zeitlich begrenzt und für eine im Voraus
bestimmte Dauer ist, oder aber ständig oder auf unbestimmte Zeit (vgl.
Schlussanträge des GA Fenelly vom 06.02.1997, Slg. 1997, I-3395 = EuZW 1998,
124 - „Sodemare“). Der tatsächliche Aufenthalt muss geprägt sein vom
touristischen Zweck, der nicht in einen Daueraufenthalt umschlagen darf (Mielitz,
NVwZ 2009, 276 [279]). Nur dann ist die Dienstleistungsfreiheit einschlägig.
Das ist hier nicht der Fall. Der touristische Zweck prägte nicht den Aufenthalt des
Klägers. Der Kläger strebt zumindest zum für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit
einer Ausweisung maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (BVerwG,
U. v. 15.11.2007 - 1 C 45/06 -, NVwZ 2008, 434) einen Daueraufenthalt in der
Bundesrepublik Deutschland aus Studiengründen an. Es geht ihm nicht darum,
sich zum Zwecke des Besuchs bzw. mit der Absicht der zeitlich begrenzten
Entgegennahme einer bestimmten Art von Leistungen vorübergehend in der
Bundesrepublik aufzuhalten. Das ergibt sich aus dem eigenen Vortrag des Klägers.
Es drängt sich überdies auf, dass der Aufenthalt nach dem oben erläuterten
Maßstab nicht zu einem touristischen Zweck erfolgt ist. Der Kläger hat sich
nämlich zu Besuchszwecken bei seiner Familie in XY bzw. XX aufgehalten.
Unterstellt man seinen Vortrag als wahr, ist er in einer schwierigen Lebenssituation
eingereist und erhoffte sich Beistand in dieser Krise von seinen Verwandten. Weder
das Motiv der Einreise noch der Zweck des Aufenthaltes waren geprägt von einem
Dienstleistungsempfang. Hierfür genügt nicht, dass der Kläger auch gelegentlicher
Empfänger von Dienstleistungen in der Bundesrepublik gewesen sein mag.
Erforderlich ist vielmehr, dass der Aufenthalt vom Dienstleistungsempfang geprägt
ist und andere Zwecke in den Hintergrund treten.
Insoweit ist vorliegend der zwischenzeitliche Motivwechsel des Klägers durch die
geplante Studienaufnahme nicht Streit entscheidend. Er ist aber erhellend für die
Beurteilung, dass ein touristischer Aufenthalt zum Zwecke des
Dienstleistungsempfangs seitens des Klägers in einem nach außen erkennbaren
Verhalten bis zum Ergehen dieser Entscheidung nicht vorgelegen hat.
Daher kann auch die vom Kläger angeführte Entscheidung des Europäischen
Gerichtshofes vom 19.02.2009, Rechtssache C-228/06 - „Soysal“ nicht zu einer
anderen Betrachtung führen. Der Kläger fällt nicht unter den von der Entscheidung
betroffenen Personenkreis.
Zwar hat der Europäische Gerichtshof in dieser Vorabentscheidung über die
Auslegung von Art. 41 Abs. 1 ZPAssEWG/Türkei im Ergebnis eine Visumspflicht der
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Auslegung von Art. 41 Abs. 1 ZPAssEWG/Türkei im Ergebnis eine Visumspflicht der
am Ausgangsverfahren Beteiligten türkischen Staatsangehörigen aufgrund der
genannten Bestimmung des ZPAssEWG/Türkei verneint. Diese Vorlagefrage betraf
jedoch nur einen Fall der aktiven Dienstleistungsfreiheit; der EuGH hat keine
Aussage zur Rechtslage von Dienstleistungsempfängern gemacht.
Auf die Frage, ob diese Auslegung des Art. 41 Abs. 1 des ZPAssEWG/Türkei auf die
passive Dienstleistungsfreiheit übertragen werden kann, kommt es hier jedoch gar
nicht an. Denn der Kläger fällt mangels Touristeneigenschaft nicht unter die
Dienstleistungsfreiheit nach Art. 49 EGV.
Der Verstoß ist auch nicht geringfügig.
Er ist gemäß § 95 Abs. 1 Ziffer 1, 2 und 3 AufenthG eine Straftat, die mit einer
Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft werden kann.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist eine vorsätzlich
begangene Straftat grundsätzlich kein geringfügiger Rechtsverstoß i.S.d. § 55 Abs.
2 Ziffer 2 AufenthG, sondern ein beachtlicher Ausweisungsgrund (BVerwG, U. v.
24.09.1996 - 1 C 9.94 -, BVerwGE 102, 63; BVerwG, U. v. 17.01.1998 - 1 C 27.96,
BVerwGE 107, 58).
Ihr Ermessen hat die Beklagte im Ergebnis rechtsfehlerfrei ausgeübt, insbesondere
ist die Ausweisung verhältnismäßig.
Die Beklagte hat mit der angegriffenen Verfügung von ihrem durch § 55 Abs. 1
AufenthG eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht und den Kläger für dauernd
ausgewiesen. Sie hat die Ausweisung auf general- und spezialpräventive Aspekte
gestützt.
Mit der Ausweisung wird einer erneuten Verletzung der Vorschriften des AufenthG
durch den Kläger in geeigneter Weise vorgebeugt. Dies ist im Hinblick auf den nicht
geringfügigen Rechtsverstoß des Klägers als erforderlich anzusehen.
Ein besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG kommt dem Kläger nicht
zugute. Er fällt nicht unter die in dieser Vorschrift aufgeführten Konstellationen.
Die Ausweisung steht auch nicht außer Verhältnis zu dem Zweck, künftige
Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Bundesrepublik
Deutschland auf Grund des Aufenthalts bzw. der illegalen Einreise von Ausländern
zu verhindern.
Insbesondere ist sie auch mit den Anforderungen des § 55 Abs. 3 Ziffer 1
AufenthG (schutzwürdige persönliche Bindungen im Bundesgebiet) vereinbar.
Seine Bindungen im bzw. an das Bundesgebiet sind als gering anzusehen. Der
Kläger ist nicht in Deutschland aufgewachsen. Er hat nie in der Bundesrepublik
Deutschland gelebt. Auch gibt es hier keine von ihm abhängigen
Familienmitglieder.
Dem stehen das öffentliche Interesse an der Kontrolle von Einreise und Aufenthalt
von Ausländern und an der Einhaltung der aufenthaltsrechtlichen Vorschriften
gegenüber.
Allerdings ist zu berücksichtigen, dass enge Familienangehörigen des Klägers mit
ihren Familien im Bundesgebiet leben.
Insoweit bietet jedoch § 11 Abs. 2 AufenthG ausreichende Handhabe, mögliche
Härten zu mildern. Danach kann dem Ausländer ausnahmsweise Erlaubnis erteilt
werden, kurzfristig in das Bundesgebiet einzureisen. Den familiären Bindungen des
Klägers an seine Geschwister, die deswegen belegt sein dürften, weil er sie in einer
wohl als bedrängend empfundenen Lebenskrise aufsuchte, dürften durch eine
Befristung der Wirkung der Ausweisung, die nicht unerheblich unter der
Regelbefristung von drei Jahren liegen sollte, Rechnung getragen werden.
Die Entscheidung der Beklagten ist auch mit Art. 8 EMRK vereinbar.
Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person u.a. das Recht auf Achtung ihres Privat-
und Familienlebens. Nach Art. 8 Abs. 2 EMRK darf eine Behörde in die Ausübung
dieses Rechts nur in gesetzlich vorgesehenen Fällen eingreifen und nur, „soweit
der Eingriff gesetzlich vorgesehen und [...] notwendig ist für die nationale oder
öffentliche Sicherheit [...]“.
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Die Ausweisung als Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK ist hier durch ein hinreichendes
soziales Bedürfnis gerechtfertigt und auch als im Hinblick auf das verfolgte Ziel als
im engeren Sinne verhältnismäßig anzusehen.
Von den zwei Schutzbereichen des Art. 8 EMRK ist hier nur das Privatleben des
Klägers in schwacher Intensität betroffen.
Als zu berücksichtigender Belang des Klägers liegt hier allein seine Beziehung zu
den im Inland lebenden Geschwistern vor. Eine solche ist jedoch nicht von Gewicht,
dass die entsprechende Verfügung zwingend unverhältnismäßig ist. Insbesondere
sind die Geschwister erwachsen und nicht auf Grund besonderer Umstände auf
gegenseitige Unterstützung und Hilfe angewiesen ( vgl: EGMR, InfAuslR 1996, 1 -
„Nasri“; Urt. v. 17.04.2003 - 52853/99 - „Yilmaz“).
Auch dass die Ausweisung für dauernd erfolgte, ist als rechtmäßig anzusehen.
In der angegriffenen Verfügung vom 17.10.2008 wurde eine
Befristungsentscheidung nicht getroffen. Zu einer Prüfung von Amts wegen, ob
eine solche gemeinsam mit der Ausweisungsentscheidung zu erfolgen hatte, war
die Beklagte aus den bereits genannten Gründen auch nicht verpflichtet.
Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1, 1, Var. AufenthG darf ein Ausländer, der ausgewiesen
worden ist, nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten.
Nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG werden die in den Sätzen 1 und 2 bezeichneten
Wirkungen erst auf Antrag hin befristet. Der Rechtsprechung zufolge ist es zulässig
und insbesondere mit Art. 8 EMRK vereinbar, wenn die Behörde eine
Ausweisungsverfügung erlässt, ohne zugleich von Amts wegen über eine
Befristung zu entscheiden (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, InfAuslR
2007, 325 - „Kaya“; VGH Mannheim, B. v. 10.01.2007 - 11 S 2616/06 -, NVwZ
2007, 609).
Etwas anderes gilt nur, wenn die Unverhältnismäßigkeit der Nichtbefristung sich
aufdrängt. Das ist hier nicht der Fall. Der Kläger ist nach den bisherigen
Ausführungen nicht gravierend in seinem Recht auf Privatsphäre aus Art. 8 Abs. 1
EMRK betroffen. Die auf Seiten des Klägers zu berücksichtigenden Belange sind
vielmehr von einem nicht erheblichen Gewicht.
Auch die Androhung der Abschiebung in die Türkei gem. § 59 AufenthG (Ziffer 3
der angegriffenen Verfügung) ist rechtmäßig.
Sie ist schriftlich und unter Fristsetzung erfolgt. Als Zielstaat im Sinne von § 59
Abs. 2 AufenthG wurde der Heimatstaat des Klägers, die Republik Türkei benannt.
Auch der nach dieser Norm erforderliche Hinweis ist ergangen.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.