Urteil des VG Düsseldorf vom 18.08.2006

VG Düsseldorf: rechtskräftiges urteil, serbien und montenegro, duldung, ausreise, aufenthaltserlaubnis, geldstrafe, vollstreckung, abschiebung, familie, erwerbstätigkeit

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 24 K 4097/05
Datum:
18.08.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
24. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
24 K 4097/05
Tenor:
Der Beklagte wird verpflichtet, den Antrag des Klägers vom 17. Januar
2005 auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gemäß § 26 Abs. 4
AufenthG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu
bescheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger trägt ein Drittel, der Beklagte trägt zwei Drittel der Kosten des
Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden,
wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vor der Vollstreckung
Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand:
1
Der am 00.00.0000 geborene Kläger ist Staatsangehöriger von Serbien und
Montenegro. Er reiste im Mai 1993 mit seiner Ehefrau und drei Kindern in die
Bundesrepublik Deutschland ein. Als Zweck des Aufenthaltes wurde angegeben:
„Verfolgung durch die Polizei, Einberufung."
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Ein Asylantrag wurde nicht gestellt.
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Ab dem 12. Mai 1993 erhielt der Kläger vom Beklagten Duldungen und übte in der
Folgezeit auf der Grundlage von Arbeitserlaubnissen eine Erwerbstätigkeit aus.
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Durch Ordnungsverfügung vom 18. Mai 1998 drohte der Beklagte dem Kläger die
Abschiebung in die Bundesrepublik Jugoslawien an. Den dagegen gerichteten
Widerspruch wies die Bezirksregierung E durch Bescheid vom 21. Januar 1999 als
unbegründet zurück. Die dagegen gerichtete Klage wurde durch das erkennende
Gericht durch Urteil vom 17. Februar 2000 (24 K 1370/99) rechtskräftig abgewiesen.
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Eine an den Landtag Nordrhein-Westfalen gerichtete Petition mit dem Ziel der Erteilung
einer Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsaufnahme blieb erfolglos.
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Am 27. August 2001 erhielten der Kläger und seine Familie auf der Grundlage des
Beschlusses der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder
vom 9. und 10. Mai 2001 befristete Aufenthaltsbefugnisse, die in der Folgezeit verlängert
wurden, zuletzt am 4. März 2004 bis zum 18. März 2006.
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Durch rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts P vom 14. Februar 2003 wurde der Kläger
wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu
je Euro 10,-- verurteilt.
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Am 17. Januar 2005 beantragte der Kläger beim Beklagten die Erteilung einer
Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 in Verbindung mit § 102 Abs. 2 AufenthG.
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Am 25. August 2005 wurde der bisherige Aufenthaltstitel als Aufenthaltserlaubnis nach
§ 25 Abs. 4 Satz 2 in den UNMIK-Ausweis des Klägers übertragen.
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Am 28. August 2005 hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
Untätigkeitsklage erhoben, die durch Beschluss vom 8. September 2005 an das
erkennende Gericht verwiesen wurde.
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Der Kläger macht geltend: Die Voraussetzungen für die Erteilung einer
Niederlassungserlaubnis seien auch in zeitlicher Hinsicht erfüllt. Gemäß §§ 26 Abs. 4,
102 Abs. 2 AufenthG seien auch die Duldungszeiten anzurechnen. Er sei seit Jahren als
Polier erwerbstätig und habe zu keinem Zeitpunkt für sich und seine Familie Sozialhilfe
bezogen.
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Er benötige eine Niederlassungserlaubnis, um eine selbstständige Erwerbstätigkeit
aufzunehmen.
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Er sei nicht vorbestraft. Hierzu hat der Kläger die Kopie eines Führungszeugnisses des
Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof vom 14. September 2005 vorgelegt, in
dem es heißt „Inhalt: Keine Eintragung".
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Da es in § 102 Abs. 2 AufenthG heiße, Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltsbefugnis
oder einer Duldung seien anrechenbar, werde darin gerade kein strenges, sich
gegenseitig ausschließendes Alternativverhältnis begründet, sondern eine
gleichrangige Anrechenbarkeit. Ansonsten hätte es heißen müssen entweder- oder.
Diese Überlegung werde auch von der bislang ersichtlichen Kommentarliteratur geteilt.
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Der Kläger beantragt,
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den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger auf seinen Antrag vom 17. Januar 2005 eine
Niederlassungserlaubnis gemäß § 26 Abs. 4 AufenthG zu erteilen,
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h i l f s w e i s e ,
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den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er trägt vor: Gemäß Erlass des Innenministeriums NRW seien nach § 102 Abs. 2
AufenthG nur solche Aufenthalte anzurechnen, die auf den in Kapitel 2 Abschn. 5
genannten völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen beruhten und die
nach neuem Recht zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis führten. Es sollten die
Personen begünstigt werden, die bereits in der Vergangenheit nicht hätten freiwillig
ausreisen können und insoweit lediglich eine Duldung erhalten hätten. Dem
gesetzgeberischen Willen sei deshalb durch eine an der Gesetzesbegründung
orientierte Auslegung des Wortlauts des § 102 Abs. 2 AufenthG Rechnung zu tragen,
indem nur solche Duldungen angerechnet würden, die auf der objektiven Unmöglichkeit
der freiwilligen Ausreise beruhten.
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Diese zeitlichen Voraussetzungen würden durch den Kläger nicht erfüllt. Folgende
Zeiten könnten ihm angerechnet werden:
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- Duldung vom 1. September 1993 bis 31. März 1995 (Abschiebungsstopp),
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- Duldung vom 9. September 1998 bis 9. Dezember 1998 (Flugverbot)
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- Aufenthaltsbefugnis vom 27. August 2001 bis 31. Januar 2006.
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Im Ergebnis sei somit ein anrechenbarer Zeitraum von fünf Jahren, zehn Monaten und
vier Tagen festzustellen.
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§ 102 Abs. 2 AufenthG spreche nicht umsonst von der Anrechenbarkeit von Zeiten des
Besitzes einer Aufenthaltsbefugnis oder einer Duldung. Ein Grund für diese
Differenzierung sei sicherlich darin zu sehen, dass der Gesetzgeber nicht diejenigen
quasi habe belohnen wollen, die Jahre lang - in Kenntnis der Unmöglichkeit einer
Abschiebung - hartnäckig die jedoch mögliche freiwillige Ausreise verweigert hätten.
Die so entstandenen Duldungszeiten könnten und sollten jetzt nicht als Rechtfertigung
für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis dienen.
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Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen
Verhandlung verzichtet.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Das Gericht kann gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung
entscheiden, weil die Beteiligten auf eine solche verzichtet haben.
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Die gemäß § 75 VwGO zulässige Klage ist hinsichtlich des Hilfsantrags begründet, im
Übrigen unbegründet.
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Der Kläger hat zwar keinen Anspruch auf Erteilung der beantragten
Niederlassungserlaubnis, aber einen Anspruch auf Bescheidung unter Beachtung der
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Rechtsauffassung des Gerichts (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).
Dieser Anspruch folgt aus § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit § 102 Abs. 2
AufenthG.
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Nach § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann einem Ausländer, der seit sieben Jahren eine
Aufenthaltserlaubnis nach dem Fünften Abschnitt des Gesetzes, also aus
völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen besitzt, eine
Niederlassungserlaubnis erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 - 9
bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. Auf diese Frist wird die Zeit des Besitzes
einer Aufenthaltsbefugnis oder einer Duldung vor dem 1. Januar 2005 angerechnet (§
102 Abs. 2 AufenthG).
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Der Kläger erfüllt diese Voraussetzungen. Er war vor dem 1. Januar 2005 im Besitz
einer Aufenthaltsbefugnis, nämlich vom 21. August 2001 bis zum 31. Dezember 2004.
Zuvor wurde der Kläger seit Mai 1993 geduldet.
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Unter Berücksichtigung der Duldungszeiten hat der Kläger die Siebenjahrsfrist des § 26
Abs. 4 Satz 1 AufenthG erreicht bzw. überschritten.
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Die vom Beklagten vertretene Auffassung, wonach solche Duldungszeiträume nicht
berücksichtigt werden könnten, in denen dem Ausländer die freiwillige Ausreise möglich
und zumutbar gewesen sei, findet im Gesetz keine Stütze. Hätte der Gesetzgeber auf
die Qualität bzw. den Rechtsgrund für die Duldung als maßgebliches Kriterium für die
Anrechenbarkeit im Sinne von § 102 Abs. 2 AufenthG abstellen wollen, hätte er dies tun
können, wie es bereits in § 35 Abs. 1 Satz 3 des am 1. Januar 2005 außer Kraft
getretenen AuslG geschehen ist. Der Umstand, dass sich in § 102 Abs. 2 AufenthG eine
solche Differenzierung nicht findet, spricht daher dafür, dass alle Duldungszeiten - ohne
Rücksicht auf den Duldungsgrund - auf die Frist des § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG
anzurechnen sind.
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Dies bestätigt die Entstehungsgeschichte des Gesetzes. Im zweiten Gesetzentwurf der
Bundesregierung sollten noch Duldungen, die insbesondere auf Identitätstäuschung,
anderweitigen falschen Angaben (auch zur Staatsangehörigkeit) oder Nichterfüllung
zumutbarer Anforderungen zur Beseitigung des Abschiebungshindernisses beruhten,
aus der Anrechnung ausgenommen werden (BT-Drs. 14/7987 S. 24). Das konnte sich in
den Verhandlungen um das Zuwanderungsgesetz jedoch nicht durchsetzen (BT-Drs.
15/420 S. 100),
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vgl. hierzu Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Zimmermann-Kreher, Kommentar zum
Zuwanderungsgesetz, 2005, § 102 Rdnr. 7.
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Demgemäss kommt es hier nicht darauf an, ob die dem Kläger vor seinem Besitz der
Aufenthaltsbefugnis erteilten Duldungen ganz oder teilweise auf Zeiträume entfielen, in
denen ihm eine freiwillige Ausreise in seine Heimat zumutbar gewesen wäre.
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Soweit in Nr. 102.2.1 der Vorläufigen Anwendungshinweise des BMI zum
Aufenthaltsgesetz eine andere Auffassung zum Ausdruck kommen sollte, wäre dies für
das Gericht unverbindlich.
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Dass die Voraussetzungen des von § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG in Bezug
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genommenen § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 - 9 AufenthG der Erteilung der beantragten
Niederlassungserlaubnis entgegen stehen könnten, ist weder vom Beklagten
vorgetragen worden noch sonst erkennbar.
Der Kläger ist zwar nicht, wie von ihm behauptet, unbestraft. Denn er ist durch
rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts P vom 14. Februar 2003 wegen unerlaubten
Entfernens vom Unfallort zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je Euro 10,--
verurteilt worden. Die Höhe des Strafmaßes unterschreitet jedoch die Geldstrafe von
mindestens 180 Tagessätzen, die erst gemäß § 26 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit § 9
Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis entgegen
stehen würde.
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Die Erteilung der Niederlassungserlaubnis ist jedoch nicht die zwingende Rechtsfolge
bei der Erfüllung aller erforderlichen Voraussetzungen, sondern „kann" dann erteilt
werden. Dies bedeutet, dass die Erteilung im pflichtgemäßen Ermessen der
Ausländerbehörde steht.
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Ebenso Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Stand: April 2006, § 102 Rdnr. 15.
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Für die Ermessensausübung gelten die gleichen Grundsätze, wie wenn über die
Erteilung einer Niederlassungserlaubnis auf Grund von Aufenthaltserlaubniszeiten nach
In-Kraft-Treten des Aufenthaltsgesetzes zu entscheiden wäre. Ungeachtet der
allgemeinen Anrechnung von Zeiten der Aufenthaltsbefugnis oder der Duldung vor In-
Kraft-Treten des Zuwanderungsgesetzes kann berücksichtigt werden, inwiefern der
Ausländer die für die Niederlassungserlaubnis typischerweise vorausgesetzten
Integrationsanforderungen erfüllt. Zu prüfen ist, inwieweit bei der Anrechnung der
Siebenjahresfrist anzurechnende Duldungen in Verbindung mit den sonstigen
Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Nr. 2-9 AufenthG eine Integration in die Rechts- und
Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland erkennen lassen. Dabei kann
auch berücksichtigt werden, inwiefern Zeiten der Duldung bei Annahme der Geltung des
Aufenthaltsgesetzes für die Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nicht
berücksichtigungsfähig wären. In die Ermessensausübung kann demnach auch
einfließen, dass der Ausländer unter der Geltung des Ausländergesetzes nur deshalb
geduldet werden musste, weil er der Verpflichtung zu einer ihm zumutbaren freiwilligen
Ausreise nicht nachgekommen ist,
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vgl. Hailbronner, a.a.O., § 102 Rdnrn. 15, 19.
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Letztlich ist eine umfassende Abwägung aller Umstände des Einzelfalls geboten.
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Da insoweit von einer Ermessensreduzierung auf Null und damit von einem Anspruch
des Klägers auf die begehrte Niederlassungserlaubnis nicht ausgegangen werden
kann, war der Beklagte zu der - bisher noch nicht erfolgten - Bescheidung des vom
Kläger gestellten Antrags zu verpflichten (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ist nach §§ 167 VwGO, 708 Nr.
11, 711 ZPO erfolgt.
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