Urteil des VG Düsseldorf vom 19.09.2006

VG Düsseldorf: bundesamt für migration, rechtshilfe in strafsachen, widerruf, anerkennung, rücknahme, anklageschrift, haftbefehl, strafbare handlung, persönliche daten, unmenschliche behandlung

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 26 K 3635/06.A
Datum:
19.09.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
26. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
26 K 3635/06.A
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht
erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf
die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110%
des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor
Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand:
1
Der gemäß seinen damaligen, durch Nüfus belegten, Angaben am 0.0.1966 in
Besni/Türkei geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer
Volkszugehörigkeit. Seinen damaligen Angaben zufolge war er im April 1988 auf dem
Landweg illegal in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hatte mit
Anwaltsschreiben vom 22. April 1988 einen Asylantrag gestellt. In dem Schreiben wird
ausgeführt, der Kläger sei 1984 der politischen Bewegung „Birlik Yolu" beigetreten und
habe sich seither an illegalen politischen Aktionen in der Stadt B beteiligt, indem er
Broschüren und Flugblätter verteilt und Plakate geklebt habe. Diese Tätigkeit sei im Ort
bekannt gewesen. Er habe auch die Parteizeitschrift „Birlik Yoglu" verteilt. Wohl auf
Denunziation von Nachbarn habe dann im Jahre 1985 eine Hausdurchsuchung in
seinem Elternhaus stattgefunden, bei der Flugblätter gesucht worden seien. Er habe
sich unwissend gestellt. Auch die Frage nach Parteigenossen habe er nicht beantwortet.
Daraufhin sei er von den Soldaten gefoltert worden. Im Oktober 1985 sei er ohne
Gerichtsverfahren für drei Monate ins Gefängnis gesteckt worden, wo er seine politische
Aktivität fortgesetzt habe. Im Gefängnis sei er auf brutalste Art, unter anderem durch
Verbrennungen und Elektroschocks, gefoltert worden, um von ihm den Namen von
Genossen in Erfahrung zu bringen. Ca. 30 Tage sei er so gefoltert worden. Während
dieser Zeit seien sechs seiner ebenfalls inhaftierten Mitgenossen an den Folgen der
Folter gestorben. Nach seiner Entlassung habe er seine politische Tätigkeit fortgesetzt
und habe hierbei erlebt, dass die Soldaten in Dörfer und Gemeinden nach Mitgliedern
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der Birlik Yorlu fahndeten. Im März 1986 habe eine neuerliche Fahndungsoperation der
Armee stattgefunden. Nachdem im Juli 1986 weitere 26 Genossen der Organisation
verhaftet worden seien, habe er sich zur Ausreise entschlossen.
Am 24. November 1988 war der Kläger persönlich zu seinen Asylgründen gehört
worden. Er gab an, nach dem Schulbesuch (Abbruch der Mittelschule) als Landarbeiter
auf fremdem Land gearbeitet zu haben. Vom Militärdienst sei er einmal zurückgestellt
worden, was daraus geworden sei, wisse er nicht. Auf Frage erklärte er, er sei nicht
Mitglied der Birlik Yorlu, sondern Sympathisant, und es sei auch keine Partei, sondern
eine Zeitschrift für die Masse, die zurzeit immer noch in der Türkei herausgegeben
werde, aber anders als früher nicht mehr monatlich, sondern ca. halbjährlich. Auf Frage,
wie man Sympathisant einer Zeitung sein könne, erklärte er, es sei die Zeitung der
Organisation namens Genc Emekciler Birligi (GEB). Er sympathisiere mit der Zeitung
und lese sie. Die GEB, so der Kläger auf Frage, habe früher Emegin Birlige geheißen,
diese wiederum sei als Abspaltung aus der THKO hervorgegangen. Birlik Yolu sei eine
Zeitschrift der TKEP, mit dieser Partei sympathisiere er sei deren Gründung 1980. Er
habe mit seinen Aktivitäten ab 1984 begonnen. Die TKEP wolle Bauern und Arbeiter
und kleine Leute vereinigen und mit ihnen die Volksrevolution gegen das
Großbürgertum durchführen nach Art der Entwicklung in der Sowjetunion. Ab 1984 habe
er Wände beschriftet, Parolen geschrieben, Plakate geklebt und Flugblätter verteilt
sowie Zeitungen wie Denge Kurdistan und alte Exemplare der Emegin Birligi verteilt.
Das Verteilen von Zeitungen sei illegal, in der Nacht, meistens im Sympathisantenkreis
erfolgt, sonst an Verwandte, von denen er gewusst habe, dass sie ihn nicht anzeigen
würden. Auf Frage, wer ihn dann denunziert haben könne, erklärte er, im Dorf gäbe es
verfeindete Stämme, die sich gegenseitig der illegalen politischen Betätigung
bezichtigen würden. Außerdem seien in ihrem Dorf nicht viele Leute politisch aktiv
gewesen. Wenn daher irgendwo Flugblätter oder Plakate aufgetaucht seien, hätte er zu
den Verdächtigen gezählt. Auf Frage, was genau zu der dreimonatigen Verhaftung
geführt habe, erklärte er, im Oktober 1986 seien die Militärs in ihr Dorf gekommen,
hätten ihn verhaftet und nach B mitgenommen. Im ersten Monat sei er gefoltert worden.
Untergebracht habe man ihn in der Abteilung für politische Gefangene. Anschließend
sei er aus Mangel an Beweisen freigekommen. Er sei als Genosse denunziert worden.
Man habe ihn nach den Namen von Genossen gefragt und ihm vorgeworfen, Plakate
geklebt und Flugblätter verteilt zu haben. Wer ihn angezeigt habe bzw. als Zeuge in
Betracht komme, habe er nicht erfahren. Nachdem er nichts zugestanden habe, habe
man ihn freilassen müssen. Das Gefängnis sei ein Militärgefängnis gewesen. Einem
Richter oder Staatsanwalt sei er nicht vorgeführt worden. Auf Frage gab er an, über die
Haftzeit keinen Beleg zu haben. Er habe jedoch mittlerweile einen Beleg darüber, dass
er gesucht werde. Diesen habe er in L vergessen und werde er später zur Akte reichen.
Auf Frage, ob es einen Haftbefehl gebe, erklärte er, es existiere ein Suchbefehl. Auf
Vorhalt, ob die zuvor geschilderte Verhaftung im Oktober 1986 oder, wie schriftlich
mitgeteilt, im Oktober 1985 stattgefunden habe, erklärte der Kläger, er müsse sich
berichtigen, dies sei wohl im Oktober 1985 gewesen. Auf Frage nach der Art der
erlittenen Folter gab er an, mit Gummiknüppeln geschlagen und mit auf den Rücken
gebundenen Armen an der Decke aufgehängt worden zu sein, außerdem habe man ihn
in kaltes Wasser gesteckt. Nach seiner Freilassung habe er sich weiter betätigt, indem
er für die KKP, die Schwesterpartei der TKEP, zu jeweils bestimmten Anläsen 2 Mal
Flugblätter verteilt habe. Wenn er in der Türkei geblieben wäre, hätte man ihn mit
Sicherheit erneut eingesperrt. Er sei des öfteren erneut angezeigt worden; die Behörden
hätten ihn für die Flugblattaktionen und ähnliches verantwortlich gemacht. Auf Frage,
wann man ihn das letzte Mal verhaftet habe, gab er an, die geschilderte Festnahme sei
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seine einzige Festnahme gewesen. Auf Frage, warum er so spät nach der Festnahme
ausgereist sei, erklärte er, die Lage habe sich immer mehr verschärft. Die Unterdrückung
habe zugenommen und es hätten häufiger Razzien stattgefunden, woraufhin er auf
Anraten seiner Partei ausgereist sei. Er habe sich auch in Deutschland politisch betätigt.
Er sei Mitglied im Verein Isci Kültür Dernigi in L und habe sich in L an vielen
Protestaktionen beteiligt, unter anderem gegen die Massaker an Kurden im Irak sowie
für die Verbesserung der Bedingungen in türkischen Gefängnissen. Unter seinem
Namen habe gemäß einer (dem Bundesamt vorgelegten) Anmeldung am 00.00.1988
eine Kundgebung zum Thema „Solidarität mit politischen Gefangenen in der Türkei"
stattgefunden. Isci Kültür Dernegi sei ein politischer Verein, der aber keiner Partei direkt
zugehöre; jeder könne Mitglied werden. Innerhalb des Vereins würden
Solidaritätsaktionen mit den Gefangenen in der Türkei durchgeführt. Mit
Anwaltsschreiben vom 13. Dezember 1988 überreichte der Kläger diverse Dokumente,
darunter ein auf den 24. Oktober 1986 datiertes Dokument in türkischer Sprache mit der
Überschrift „Yakalama Müzekkeresi (Mahkumlara mahsus)". Nach der beigefügten
Übersetzung in die deutsche Sprache soll es sich hierbei um eine „Festnahmemitteilung
für den Verurteilten" handeln. Eine Person mit dem Namen des Klägers soll danach vom
Schwurgericht B zu 6 Jahren wegen Verstoß gegen § 142 des türkischen
Strafgesetzbuches verurteilt worden sein und zur Strafverbüßung gesucht werden.
Mit Bescheid vom 9. Januar 1989 erkannte das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge den Kläger als Asylberechtigten an, weil aufgrund des von
ihm geschilderten Sachverhaltes davon auszugehen sei, das dieser im Falle seiner
Rückkehr in sein Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zum gegenwärtigen
Zeitpunkt mit asylrechtlich relevanten Maßnahmen rechnen müsse. Der Bescheid ist
zeitnah bestandskräftig geworden.
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Der Kläger ist in der Bundesrepublik Deutschland strafrechtlich wie folgt in Erscheinung
getreten: Die 2. große Strafkammer des Landgerichts L verurteilte ihn mit am Tage der
Verkündung rechtskräftig gewordenem Urteil vom 29. März 1996 wegen unerlaubten
Handeltreibens mit Betäubungsmitteln als Mitglied einer Bande in 17 Fällen, davon in
nicht geringer Menge in 10 Fällen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Jahren. Nach
den Feststellungen der Strafkammer hatte der Kläger in der Zeit vom 14. Februar 1995
bis zum 30. März 1995 in insgesamt 17 Fällen von Bandenmitgliedern Heroin in
Mengen zwischen jeweils 10 bis 45 Gramm erhalten und selbst weiterverkauft.
Hinweise auf eine eigene Abhängigkeit des Klägers ergeben sich aus dem Urteil nicht.
Nach den weiteren Feststellungen hatte der Kläger seit Januar 1995 eine Tätigkeit in
einer Imbissstube ausgeübt. Nach den weiteren Urteilsfeststellungen lebte der
geständige Kläger mit einer Lebensgefährtin zusammen, aus der Verbindung war 1992
ein Kind hervorgegangen. Der Kläger hatte angegeben, sich in L „politisch für sein
Heimatland und für die kommunistische Partei Kurdistans (KKP) sowie die in der Türkei
hergestellte und auch in der Bundesrepublik Deutschland vertriebene Zeitung „Newroz -
Unabhängiges Kurdistan" betätigt zu haben. Er habe entsprechende finanzielle Hilfe
geleistet. Der Kläger befand sich im Zeitpunkt dieser Verurteilung seit dem 1. August
1995 in Untersuchungshaft wegen eines anderen Drogendeliktes. In dieser Sache
verurteilte ihn das Landgericht N mit seit dem 29. Mai 1997 rechtskräftigem Urteil vom
23. Juli 1996 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht
geringer Menge in zwei Fällen und wegen Urkundenfälschung unter Einbeziehung der
vorerwähnten Strafe und Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe zu einer neuen
Gesamtfreiheitsstrafe von 10 Jahren. Nach den Feststellungen der Strafkammer hatte
der Kläger zwei Geschäfte betreffend jeweils 2 kg und 5 kg Heroin durch Mitverurteilte
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unterstützt. Der Kläger und weitere Beteiligte waren am 1. August 1995 bei dem
Versuch des Ankaufs von 5 kg Heroin festgenommen worden. Das Geschäft war von
einem Vertrauensmann der Polizei überwacht worden. Der Kläger, der sich bei der
Festnahme mit einem verfälschten Führerschein auszuweisen versucht hatte, hatte sich
zum Tatvorwurf nicht geäußert. Hinweise auf einen im weitesten Sinn politischen
Hintergrund der Straftat enthält das Urteil ebenso wenig wie für eine eigene
Abhängigkeit des Klägers.
Mit für sofort vollziehbar erklärter Ordnungsverfügung vom 5. März 2001 wies die
Ausländerbehörde des Oberbürgermeisters der Stadt L den Kläger wegen der von ihm
begangenen Straftaten aus der Bundesrepublik Deutschland aus und drohte ihm die
Abschiebung in die Türkei an. Am 22. November 2003 war der Kläger unter Aussetzung
eines Strafrestes zur Bewährung aus der Strafhaft entlassen worden. Den Widerspruch
des Klägers gegen die Ausweisung wies die Bezirksregierung E1 mit
Widerspruchsbescheid vom 19. März 2004 als unbegründet zurück. In dem dagegen
erhobenen Klageverfahren (Verwaltungsgericht Düsseldorf, 27 K 3058/04) hob der
Oberbürgermeister der Stadt L in der mündlichen Verhandlung vom 7. März 2006 die
Abschiebungsandrohung auf, während der Kläger die Klage gegen die
Ausweisungsverfügung zurück nahm.
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Unter dem 13. Februar 2006 teilte die Ausländerbehörde der Stadt L dem Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit, der Kläger sei wegen Handeltreibens mit
Betäubungsmitteln u.a. zu einer 10-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden und am 10.
November 2003 nach Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung aus der Strafhaft
entlassen worden. Aus mittlerweile vorliegenden Erkenntnissen ergäben sich Zweifel an
den Personenstandsangaben des Klägers. Nach dem anliegenden, aufgrund des
damals vom Kläger vorgelegten Nüfus recherchierten Register sei dort zwar ein 1966
geborener E verzeichnet mit den Elternvornamen N1 und I. Jedoch sei dieser E
verheiratet mit einer Frau namens O und es seien aus der Ehe drei 1990, 1991 und
1998 geborene Kinder hervor gegangenen. Der Kläger habe sich jedoch als ledig
bezeichnet. Es werde um Überprüfung des Asylstatus gebeten.
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Mit Verfügung vom 21. Februar 2006 leitete das Bundesamt ein Aufhebungsverfahren
ein. Die dem Kläger mit Schreiben vom 13. April 2006 eingeräumte Gelegenheit, sich zu
dem beabsichtigten Widerruf, der wegen der Straftaten des Klägers und wegen der
Veränderung der Verhältnisse in der Türkei beabsichtigt sei, schriftlich zu äußern, nutzte
der Kläger nicht.
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Mit am 30. Mai 2006 durch Niederlegung ersatzzugestelltem Bescheid vom 29. Mai
2006 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aus den im
Anhörungsschreiben genannten Gründen die mit Bescheid vom 9. Januar 1989
ausgesprochene Anerkennung als Asylberechtigter (Ziffer 1) und stellte fest, dass die
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Ziffer 2) und Abschiebungsverbote nach §
60 Abs. 2 bis 7 AufenthG (Ziffer 3) nicht vorliegen.
9
Am 12. Juni 2006 hat der Kläger Klage erhoben. Er trägt vor, die allgemeine Lage in der
Türkei rechtfertige den Widerruf nicht. Die Straftaten rechtfertigten den Widerruf
ebenfalls nicht, weil es an einer konkreten Wiederholungsgefahr erneuter Straftaten
durch ihn fehle. Er sei auf Grund positiver Sozialprognose bereits im Juni 2001 in den
offenen Vollzug verlegt und im November 2003 bedingt entlassen worden. Er stehe
mittlerweile in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis und habe soziale Bindungen an
10
seine Lebensgefährtin, die er 1992 nach islamisch religiösem Ritus geheiratet habe,
und das gemeinsame Kind. Mit diesen wohne er zwar nicht zusammen, weil die
Lebensgefährtin noch ihren Vater betreue, der ihn ablehne. Er und seine
Lebensgefährtin hofften auf eine baldige Rückkehr des 63-jährigen Vaters in die Türkei,
danach wollten sie zusammenziehen. Entgegen des gerichtlichen Hinweises komme
auch eine Rücknahme der Asylanerkennung nicht in Betracht. Seine Anerkennung sei
gerade nicht allein auf den Vollstreckungshaftbefehl vom 24. Oktober 1996 erfolgt,
sondern auf Grund seiner umfangreichen und detaillierten Angaben bei der Anhörung.
Den von ihm beim Bundesamt eingereichten Haftbefehl habe ihm sein Vater aus der
Türkei geschickt. Er habe den Inhalt nicht richtig verstanden und diesen beim
Bundesamt eingereicht. Sowohl der Entscheider als auch der Bundesbeauftragte hätten
den Inhalt des auch in Übersetzung vorgelegten Haftbefehls zur Kenntnis nehmen
müssen. Im übrigen habe er bei seiner Anhörung nicht nur politische Aktivitäten in der
Türkei, sondern auch in Deutschland vorgetragen; letztere seien ein Indiz dafür, dass er
sich auch in der Türkei politisch betätigt habe. Außerdem habe er seine Aktivitäten für
die KKP nach seiner Einreise nach Deutschland verstärkt. 1992 sei er Mitglied der KKP
geworden und habe bis zu seiner Verhaftung im Jahre 1995 auch verschiedene
Funktionen ausgeübt. Er sei zusammen mit den Herren F und E1 Mitglied im
Deutschlandkomitee der KKP gewesen. Hinsichtlich des F, der ebenfalls
Bandenmitglied der vom Landgericht L abgeurteilten Tat ist, habe das
Verwaltungsgericht T mit Urteil vom 17. März 1999 in Kenntnis dessen Straftaten das
Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festgestellt, weil dessen Straftat
und der politische Hintergrund den türkischen Sicherheitskräften im Wege des
Strafnachrichtenaustausches bekannt geworden sei. Von 1992 bis 1995 sei er mit der
Deutschlandvertretung der von der KKP herausgegebenen Zeitung „Newroz" beauftragt
gewesen, wie seine Namensnennung in der 00. Ausgabe des Jahres 1994 belege. Er
sei wegen Veröffentlichung verschiedener Artikel in der Zeitung Newroz in den Jahren
1993-1994 vor dem Staatssicherheitsgericht Istanbul angeklagt worden. In dieser Zeit
habe er über den Rechtsanwalt L1 die Verantwortlichkeit für mehr als 10 Artikel der
Zeitung Newroz übernommen und sei aus diesem Grund angeklagt worden. Was aus
den Verfahren geworden sei, wisse er nicht. Ferner sei er auch für den Vertrieb des
Zentralorgans der KKP „Denge Kurdistan" in Deutschland verantwortlich gewesen, dort
allerdings nicht namentlich genannt, sondern über ein Postfach. Von 1990 bis 1995 sei
er Mitglied des Vorstandes des Vereins „Kurdisches Volkshaus e.V. in L" gewesen.
1994 sei er zum Vorsitzenden des Vereins gewählt worden. Der Verein sei die
sogenannte Massenorganisation der KKP gewesen. Von 1990 bis 1992 sei er Mitglied
des Vorstandes der Föderation der Türkisch- Kurdischen Arbeitervereine in
Deutschland (AKTIF) und darin für die Finanzen der Föderation zuständig gewesen.
1992 habe er die Funktion niedergelegt. Er könne sich nicht erinnern, ob er damals im
Vereinsregister eingetragen gewesen sei. 1994 habe er als Vertreter der KKP bzw.
offiziell als Vertreter der Zeitung Newroz am Organisationskomitee der Protestaktion
gegen die Bombardierung des Büros der Zeitung „Özgür Gündem" in Ankara
teilgenommen. Vor etwa 6 bis 7 Jahren habe gegen ihn ein Auslieferungsverfahren vor
dem OLG E stattgefunden, in dem ihm eine Kopie einer Anklageschrift vom 3. Dezember
1998 in türkischer Sprache ausgehändigt worden sei. Weitere ihm damals
ausgehändigte Unterlagen habe er heute nicht mehr. Damals habe er die Aussage
verweigert. Allerdings habe der Generalstaatsanwalt mitgeteilt, dass dort keine
Unterlagen über die Auslieferung des Klägers vorhanden seien. Gegenstand der
Anklageschrift vom 3. Dezember 1998 seien - wie unter anderem aus den
Mitangeklagten ersichtlich - die in Deutschland zuletzt abgeurteilten Delikte. Auch wenn
die Staatssicherheitsgerichte in der Türkei im fraglichen Zeitraum wohl - neben den
großen Strafgerichten - auch für Drogendelikte zuständig gewesen seien, gehe er davon
aus, dass die Anklage deshalb bei dem Staatssicherheitsgericht Istanbul erhoben
worden sei, weil der Kläger die Einnahmen aus den Delikten der KKP zur Verfügung
gestellt habe. Im Falle seiner Abschiebung bestehe die konkrete Gefahr, dass er an der
Grenze festgenommen und unter Folter zu Geständnissen gezwungen werde. Es sei
auch nicht auszuschließen, dass er neben Betäubungsmitteldelikten wegen
Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation angeklagt und zu einer hohen
Freiheitsstrafe verurteilt werde, weil er die Straftat der Unterstützung einer illegalen
Organisation, hier der KKP, begangen habe. Insbesondere deshalb drohe ihm auch
Folter. Mit Schreiben vom 13. September 2006 überreicht der Kläger u.a. drei
Zeitungsartikel, für die er die Verantwortung übernommen haben will.
Der Kläger beantragt,
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Ziffer 1. des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Mai
2006 aufzuheben, hilfsweise, die Beklagte unter Aufhebung zu Ziffer 2. des Bescheides
des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Mai 2006 zu verpflichten,
festzustellen, dass in seiner Person in Bezug auf die Türkei die Voraussetzungen des §
60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, hilfsweise, die Beklagte unter Aufhebung zu Ziffer 3. des
Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Mai 2006 zu
verpflichten, festzustellen, dass in seiner Person in Bezug auf die Türkei
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.
12
Die Beklagte beantragt,
13
die Klage abzuweisen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge (Anerkennungs- und Widerrufsverfahren) und der
Ausländerbehörde sowie auf die Gerichtsakten der ausländerrechtlichen Verfahren (27
K 3058/04 und 27 L 2403/04) sowie auf die zum Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gemachten Auskünfte und Entscheidungen verwiesen.
15
Entscheidungsgründe:
16
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 29. Mai
2006, mit dem die - mit Bescheid vom 09. Januar 1989 erfolgte - Anerkennung des
Klägers als Asylberechtigter widerrufen und das Nichtvorliegen der Voraussetzungen
des § 60 Abs. 1 AufenthG sowie von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7
AufenthG festgestellt wird, ist im Ergebnis rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in
seinen Rechten (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 VwGO).
17
Bei der Überprüfung des Bescheides stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage
zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ab (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG). Dies gilt
abweichend von den allgemeinen verwaltungsprozessualen Regeln auch für
Anfechtungsklagen, insbesondere gegen Widerrufsbescheide.
18
Vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 1. November 2005, - 1 C 21.04 -, DVBl 2006,
511ff.
19
Erhebliche Verfahrensfehler liegen nicht vor. Ob der Widerruf unverzüglich i.S.v. § 73
Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erfolgt ist, ist unerheblich, weil die Vorschrift nach gefestigter
Rechtsprechung, der sich die Kammer anschließt, nicht dem Schutz des betroffenen
Ausländers dient, sondern allein dem öffentlichen Interesse an der alsbaldigen
Beseitigung seiner Rechtsposition.
20
Vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 23. Juli 2004, - 2 BvR 1056/04 -, Juris-
Dokument Nr. KVRE324700401 und Marx, AsylVfG, 6 Auflage 2005 § 73 Rn. 44 bis 46
und 236, m.w.N..
21
Der Widerruf der Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter durch Ziffer 1 des
angefochtenen Bescheides kann auf § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht gestützt werden
(I). Er findet seine Rechtsgrundlage jedoch in § 73 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG (II).
22
I. Gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die
Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen,
unverzüglich zu widerrufen sind, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr
vorliegen. Voraussetzung für den danach bei Vorliegen der tatbestandlichen
Voraussetzungen ohne Ermessen zu verfügenden Widerruf ist, dass sich die zum
Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht
nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in
seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen
Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit
ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht.
23
Vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 1. November 2005, - 1 C 21.04 -, a.a.O.
24
1. Die veränderten Umstände in der Türkei tragen den Widerruf nicht. Ein vorverfolgt aus
der Türkei ausgereister türkischer Staatsangehöriger ist im Falle einer Rückkehr in sein
Heimatland vor erneuter Verfolgung auch gegenwärtig nicht hinreichend sicher. Die
erforderliche hinreichende Verfolgungssicherheit folgt insbesondere nicht aus den in
dem angegriffenen Bescheid angeführten zahlreichen in der Türkei in den letzten
Jahren durchgeführten Reformen und die dadurch sicherlich gegebene deutliche
Verbesserung der allgemeinen Menschenrechtslage. Denn die türkische Reformpolitik
hat bislang nicht dazu geführt, dass asylrelevante staatliche Übergriffe in der Türkei
nicht mehr vorkommen. Selbst nach dem neuesten Lagebericht des Auswärtigen Amtes
vom 27. Juli 2006 hat der Mentalitätswandel in der Türkei noch nicht alle Teile der
Polizei, Verwaltung und Justiz vollständig erfasst und ist es noch nicht gelungen, Folter
und Misshandlungen vollständig zu unterbinden, wobei eine der Hauptursachen für
deren Fortbestehen in der nicht effizienten Strafverfolgung liegt.
25
Vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27. Juli 2006, S. 33-35.
26
Deshalb sind auch gegenwärtig vorverfolgt ausgereiste Flüchtlinge vor erneuter
Verfolgung nicht hinreichend sicher.
27
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, S. 21 ff..
28
Zugunsten des Klägers ist aber durch Bescheid vom 9. Januar 1989 festgestellt, dass
dieser vorverfolgt ausgereist ist. Ob diese Feststellungen zutreffen, mithin ob der Kläger
tatsächlich vorverfolgt ausgereist ist, ist im Rahmen des Widerrufs unerheblich, weil der
29
Bescheid zugunsten des Klägers bestandskräftig geworden ist.
2. Auf die schweren Straftaten des Klägers kann der Widerruf der Asylanerkennung
nicht gegründet werden. § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG verbietet nach seinem klaren,
einer Erweiterung unzugänglichem Wortlaut nur die Feststellungen nach § 60 Abs. 1
Satz 1 AufenthG. Die Anerkennung als Asylberechtigter und der Bestand hierzu früher
getroffener Feststellungen steht - entgegen der Rechtsauffassung des angefochtenen
Bescheides - nicht unter einem allgemeinen „Kriminalitätsvorbehalt". Soweit das
Asylgrundrecht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
30
vgl. hierzu die Nachweise im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. März 1999
- 9 C 23.98 - BverwGE 109, 12-24
31
unter der verfassungsimmanenten Schranke des sogenannten Terrorismusvorbehalt
steht, kann die Kammer nicht feststellen, dass diese einschlägig ist. Eigene
terroristische (im Sinne von gewalttätige) Aktivitäten des Klägers in der Türkei oder in
Deutschland sind nicht bekannt. Die vom Kläger der Türkei behaupteten Aktivitäten, als
bloßer Sympathisant der GEB und später der KKP „Plakate geklebt und Zeitungen
verteilt" zu haben, können bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände des einzelnen
Falles schon deshalb nicht als „aktive Unterstützung terroristischer Aktivitäten" i.S.d.
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
32
a.a.O., Urteil vom 30. März 1999
33
gewürdigt werden, weil die unterstützten Organisationen nicht terroristisch geprägt sind,
aber auch, weil den Unterstützungshandlungen kein erhebliches Gewicht zukommt.
Auch die Aktivitäten des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland sind nicht geprägt
durch die Betätigung in oder für Organisationen und Vereinigungen, die ihrerseits die
Durchführung oder Unterstützung terroristischer Aktivitäten zum Ziel haben. Die von den
Verfassungsschutzbehörden nicht beobachtete KKP, für die sich der Kläger eingesetzt
haben will, ist (bzw. war) nach den in das Verfahren eingeführten Auskünften orthodox-
kommunistisch, jedoch nicht gewalttätig orientiert. Ungeachtet dessen hat sich der
Kläger aus diesem Umfeld gelöst. Mit der Klagebegründung räumt er ausdrücklich ein,
seine politische Auffassung grundlegend geändert zu haben und seine früheren
Handlungen mittlerweile zu verabscheuen. Insoweit sieht die Kammer keinen Grund,
den Angaben des Klägers nicht zu folgen. Seine Straftaten im Übrigen resultieren aus
dem Bereich der Betäubungsmitteldelikte. Soweit der Kläger sich gegenüber dem
Landgericht L dahingehend eingelassen hatte, einen Teil der Erlöse auch für politische
Aktivitäten gespendet zu haben, begründet dies, zumal die unterstützten Parteien und
Organisation dem terroristischen Umfeld nicht zuzuordnen sind, keine im Sinne des
Terrorismusvorbehalts relevanten Handlungen.
34
II. Ziffer 1. des angefochtenen Bescheides findet - ohne dass es insoweit einer
Umdeutung bedarf - durch Rechtsanwendung
35
vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 27. Oktober 1993, - 8 C 33.92 -, KStZ 1994,
72 ff
36
seine erforderliche Rechtsgrundlage in § 73 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG, wonach die
Anerkennung als Asylberechtigter zurückzunehmen ist, wenn sie auf Grund unrichtiger
Angaben oder infolge Verschweigens wesentlicher Tatsachen ergangen ist und die
37
Feststellung auch nicht aus anderen Gründen aufrecht erhalten werden kann. Der
Widerruf nach § 73 Abs. 1 AsylVfG und die Rücknahme nach § 73 Abs. 2 AsylVfG sind
auf dieselbe Rechtsfolge, nämlich Beseitigung des Status „Asylberechtigter" gerichtet
und jeweils bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen - vorbehaltlich des hier
nicht einschlägigen § 73 Abs. 2 a AsylVfG
- der am 1. Januar 2005 in Kraft getretene § 73 Abs. 2 a AsylVfG galt zwar im Zeitpunkt
des Erlasses des Bescheides, begründet eine Überprüfungspflicht für Altfälle - wenn
überhaupt - jedoch nicht vor Ablauf von drei Jahren nach seinem Inkrafttreten, vgl.
BayVGH, Beschluss vom 22. März 2006, - 13a B 05.30749 -, Juris-Dokument Nr.
JURE060085294,
38
- ohne Ermessen zwingend zu verfügen. Anders als die insoweit gleichlautenden (vgl.
§§ 48, 49) Regelungen der Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes und der Länder
beschränkt das AsylVfG die Folgen des Widerrufs auch nicht auf die Zukunft. Für die
Möglichkeit der Bestätigung einer als Widerruf ausgesprochenen Entscheidung über
den Entzug einer asylrechtlichen Rechtsposition als Rücknahme spricht das
Beschleunigungsgebot, welches auch im Widerrufs- und Rücknahmeverfahren Geltung
beansprucht. Die Aufhebung eines als Widerruf ergangenen Bescheides in Kenntnis
des Vorliegens der Voraussetzungen für eine Rücknahme führt allein zu
Verfahrensverzögerungen. Eine Rechtsordnung, die sich ernst nimmt, darf nicht
Prämien auf die Missachtung ihrer selbst setzen. Sie schafft sonst Anreize zur
Rechtsverletzung, diskriminiert rechtstreues Verhalten und untergräbt damit die
Voraussetzungen ihrer eigenen Wirksamkeit.
39
So wörtlich Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 24. Mai 2006, - 2 BvR 669/04 -
(abgelehnte Verfassungsbeschwerde gegen die Rücknahme einer Einbürgerung), Juris
40
Das Bedürfnis für eine zügige Beseitigung zu Unrecht erlangter Rechtspositionen
erlangt im Asylverfahren umso stärkere Bedeutung, als gerade dort regelmäßig außer
den Angaben des Asylbewerbers keine objektiven, überprüfbaren Tatsachengrundlagen
zur Verfügung stehen. All dies rechtfertigt es zur Überzeugung der Kammer, einen zu
Unrecht als Widerruf bezeichneten Bescheid aufrecht zu erhalten, wenn die
Voraussetzungen für eine Rücknahme vorliegen.
41
Bejahend für die Aufrechterhaltung einer Rücknahme, wenn die Voraussetzungen des
Widerrufs vorliegen: Verwaltungsgericht Düsseldorf, Urteil vom 23. März 2006, - 8 K
2311/05.A (nicht veröffentlicht); im Ergebnis wie hier, wenn auch über den - nach
Ansicht der Kammer nicht erforderlichen - „Umweg" der Umdeutung: Verwaltungsgericht
Stuttgart, Urteil vom 4. November 2003, - A 5 K 11945/03, Juris, unter weiteren
Voraussetzungen verneinend: Verwaltungsgericht Göttingen, Urteil vom 18. April 2006, -
2 A 319/04 -, Juris.
42
Der Kläger hat die zu seinen Gunsten ausgesprochene Asylanerkennung zur vollen
Überzeugung des Gerichts auf Grund unrichtiger Angaben erlangt. Denn er hatte sich
anlässlich seiner damaligen Anhörung beim Bundesamt auf eine angebliche Suche
nach ihm auf Grund eines laufenden Ermittlungsverfahrens berufen und durch
nachgereichten Haftbefehl belegen wollen. Der von ihm später zur Akte des
Bundesamtes gereichte Haftbefehl deckt jedoch seinen Vortrag nicht. Bei dem
vorgelegten Haftbefehl handelt es sich gemäß der beigefügten Übersetzung um einen
Vollstreckungshaftbefehl, gemäß dessen eine Person mit dem Namen des Klägers
43
zwecks Verbüßung einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren, verhängt durch das
Schwurgericht in B, gesucht wird. Der wesentliche Inhalt des Vollstreckungshaftbefehls
findet im mündlichen Vortrag des Klägers keinen Hintergrund. Die Kammer geht davon
aus, dass es sich bei dem Vollstreckungshaftbefehl entweder um eine Fälschung
handelt oder aber der Vollstreckungshaftbefehl deshalb mit dem Kläger nichts zu tun
hat, weil der Kläger über seine wahre Identität täuscht. Von einer Verurteilung zu 6
Jahren Freiheitsstrafe durch das Schwurgericht B hätte der Kläger zwingend berichten
müssen, weil er nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnissen nicht in
Abwesenheit verurteilt worden sein konnte. Weder damals noch heute behauptet der
Kläger, dem Vollstreckungshaftbefehl liege ein tatsächlich gegen ihn ergangenes Urteil
zugrunde. Mit dem von ihm vorgelegten Vollstreckungshaftbefehl hat der Kläger seinen
Vortrag betreffend seine angebliche Vorverfolgung in der Türkei glaubhaft gemacht.
Andere erhebliche Dokumente betreffend seine Vorverfolgung konnte er nicht vorlegen.
Die drei von ihm vorgelegten Briefe von Gefängnisinsassen sind in türkischer Sprache
vorgelegt und zu keiner Zeit übersetzt worden. Abgesehen davon, dass ihr potentieller
Inhalt keine hoheitlichen Handlungen gegen den Kläger beweisen kann, ist dieser auch
vom Bundesamt - mangels Übersetzung der Briefe - zu keiner Zeit zur Kenntnis
genommen worden. Damit beruht die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter
gerade auf der Vorlage des Vollstreckungshaftbefehls, der vom Entscheider des
Bundesamtes irrtümlich als Beleg über die angebliche Vorverfolgung des Klägers
angesehen worden war. Dass der Kläger ohne Vorlage des Vollstreckungshaftbefehls
anerkannt worden wäre, schließt die Kammer aus. Der - seinerzeit noch nicht
vorliegende - Haftbefehl war nicht nur Gegenstand der Anhörung geworden; der Kläger
war vom Einzelentscheider sogar unter Fristsetzung ausdrücklich aufgefordert worden,
den Haftbefehl vorzulegen. Hätte dem Entscheider der Vortrag des Klägers ausgereicht,
so hätte es dieser Aufforderung nicht bedurft. Nach dem durch die Aufforderung zur
Vorlage dokumentierten Vorstellungsbild des Entscheiders kam es diesem für die
Überzeugungsgewinnung vom klägerischen Vortrag auf die Vorlage des Haftbefehls
maßgeblich an. Die Ursächlichkeit des Vollstreckungshaftbefehls für die
Asylanerkennung entfällt auch nicht dadurch, dass der Entscheider des Bundesamtes
den Irrtum hätte vermeiden können. Die Kammer lässt offen, ob die Rücknahme voraus
setzt, dass der Asylbewerber bedingt vorsätzlich gehandelt hat, es also insoweit auf ein
„Verschulden" des Asylbewerbers ankommt.
Verneinend Marx, AsylVfG Rn. 73 Rn 189.
44
Insoweit spricht allerdings viel für die Annnahme, dass es einem Asylbewerber immer
zuzurechen ist, wenn er Dokumente zum Beleg eines bestimmten, die angebliche
Verfolgung begründenden Sachverhaltes einreicht, die vorgelegten Dokumente jedoch
einen anderen Sachverhalt belegen. Dass der Kläger den Vollstreckungshaftbefehl
„gutgläubig" eingereicht haben könnte, nimmt ihm die Kammer nicht ab. Sein Vortrag, er
habe den Inhalt des Haftbefehls nicht richtig verstanden, ist eine Schutzbehauptung. Der
Kläger ist des Lesens mächtig und durchaus nicht unintelligent. Da er den Haftbefehl
gelesen hat (nur dann konnte er ihn „nicht richtig verstehen"), hätte er zwingend
erkennen müssen, das dessen Inhalt mit seinem eigenem Vortrag beim Bundesamt im
Ansatz nichts zu tun hatte und er mithin durch Vorlage desselben eine Täuschung
beging. Der Kläger konnte den Haftbefehl auch zur Überzeugung des Gerichts nicht
missverstehen; dieser ist weder verklausuliert noch sonst unverständlich, sondern klar
und eindeutig.
45
Selbständig tragend wäre die Rücknahme auch dann gerechtfertigt, wenn der Kläger
46
über seine wahre Identität getäuscht hätte und bis heute täuschen würde. Hierfür liegen
allerdings gewichtige Indizien vor. Der Kläger hat sich in der Bundesrepublik
Deutschland durch Nüfus ausgewiesen. Ausweislich der Ermittlungen der
Ausländerbehörde der Stadt L, die über die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland
in Ankara Erkundigungen eingeholt hat, ist die Person, zu der nach dem
Familienregister der vom Kläger vorgelegte Nüfus gehört, in der Türkei verheiratet und
sind aus der Ehe drei 1990, 1991 und 1998 geborene Kinder hervorgegangen. Da keine
Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Recherchen der Ausländerbehörde falsch sein
könnten, drängt sich auf, dass der Kläger den von ihm vorgelegten Nüfus
missbräuchlich verwendet (er bezeichnet sich als ledig und kann haftbedingt jedenfalls
nicht Vater des 3. Kindes sein) und tatsächlich eine andere, bis heute den Behörden
verheimlichte Identität besitzt. Das würde zwanglos eine etwaige Echtheit des
Vollstreckungshaftbefehls erklären: Der Kläger würde Dokumente betreffend eine
Person benutzen, deren persönliches Schicksal ihm unbekannt ist. Weiteres Indiz für
eine Identitätstäuschung durch den Kläger ist die angeblich den Kläger betreffende
Anklageschrift vom 3. Dezember 1998. Nach den äußeren Umständen werden in der
Anklageschrift allerdings ersichtlich die vier Personen benannt, die auch im zweiten
Betäubungsmitteldelikt des Klägers involviert waren. Jedoch entsprechen die dort dem
Namen des Klägers zugeordneten Elternnamen gerade nicht den Eltern der Person des
berechtigten Inhabers des vom Kläger vorgelegten Nüfus. Insoweit hat die
Ausländerbehörde ermittelt, dass ein in der Anklageschrift benannter E mit den dort
benannten Eltern in der Türkei existiert, allerdings ebenfalls verheiratet und ebenfalls
mit Kindern. Für eine fortdauernde Identitätstäuschung durch den Kläger spricht
zwanglos auch, dass er seine Lebensgefährtin trotz bestehendem Wunsch nicht
standesamtlich, sondern im Jahre 1992 lediglich nach religiösem Ritus geheiratet hat.
Seine Einlassung, sie hätten damals die erforderlichen Unterlagen nicht besorgen
können, leuchtet nicht ein. Die Eheschließung dürfte vielmehr daran gescheitert sein,
dass der Kläger die erforderlichen Unterlagen nicht besorgen wollte, weil bei
Anforderung der für das Aufgebot erforderlichen Unterlagen aus der Türkei die
Identitätstäuschung aufgefallen wäre. Zuletzt hat der Kläger sich nachweislich bereits
eine Identitätstäuschung in der Bundesrepublik Deutschland zuschulden kommen
lassen, als er sich anlässlich der Festnahme zu seinem später abgeurteilten
Betäubungsmitteldelikt mit gefälschtem Führerschein ausweisen wollte. Die Frage, ob
der Kläger tatsächlich über seine Identität täuscht, lässt die Kammer, soweit es das
Vorliegen eines Rücknahmegrundes betrifft, letztlich offen. Denn die Rücknahme ist
bereits durch die Vorlage des mit dem Sachvortrag nicht übereinstimmenden
Haftbefehls gerechtfertigt.
Die Anerkennung als Asylberechtigter kann auch nicht aus anderen Gründen aufrecht
erhalten bleiben, weder aufgrund angeblicher Vorverfolgung noch auf Grund der
behaupteten früheren exilpolitischen Aktivitäten des Klägers in der Bundesrepublik
Deutschland.
47
Der frühere Vortrag des Klägers beim Bundesamt wird nicht nur durch die Vorlage eines
nicht „passenden" Vollstreckungshaftbefehls entwertet, sondern ist bereits aus sich
heraus nicht schlüssig. Die Kammer nimmt dem Kläger - ungeachtet der auch insoweit
fort bestehenden Zweifel an seiner Identität - nicht ab, für drei Monate inhaftiert und
dabei gefoltert worden zu sein. Denn schriftsätzlich hatte er vorgetragen, im Oktober
1985 drei Monate im Gefängnis gewesen zu sein. Mündlich hatte er jedoch zunächst
angegeben, im Oktober 1986 verhaftet worden zu sein. Soweit sich der Kläger später
erst auf Vorhalt dieses Widerspruchs berichtigte und angab, doch im Oktober 1985
48
verhaftet worden zu sein, hält die Kammer dies für eine Schutzbehauptung, weil
naturgemäß der mündliche Vortrag beim Bundesamt eher die Gewähr der Richtigkeit
bietet als ein (auch sonst gravierende Abweichungen zum mündlichen Vortrag
aufweisendes) Anwaltsschreiben. Gegen eine angeblich dreimonatige Verhaftung
spricht ferner, dass der Kläger schriftlich erklärt hatte, während der Haft durch
Elektroschocks und Verbrennungen gefoltert worden zu sein. Mündlich schilderte er
völlig andere Folterungen (Schläge mit Gummiknüppeln, an den Armen aufhängen und
in kaltes Wasser tauchen). Diese gravierenden Ungereimtheiten sprechen gegen die
Annahme, der Kläger könnte von tatsächlich Erlebtem sprechen. Ungeachtet dessen
hätte sich der Kläger, wenn die Inhaftierung sich tatsächlich im Oktober 1985 ereignet
hätte, nach seiner Entlassung im Januar 1996 mehr als zwei Jahre unbehelligt in der
Türkei aufgehalten, obwohl jederzeitiger Zugriff auf ihn möglich war. Der Kläger hat
nicht behauptet, sich nach der Entlassung im Januar 1986 bis zu seiner Ausreise im
April 1988 in der Türkei versteckt aufgehalten zu haben. Ein etwaiges
Verfolgungsinteresse an ihm war im Januar 1986 erloschen. Danach war kein neues
Verfolgungsinteresse eingetreten. Hätte sich nach Januar 1986 irgendein neuer
Tatverdacht gegen den Kläger ergeben, hätte er jederzeit festgenommen werden
können. Von einer weiteren Festnahme hatte der Kläger jedoch auch auf Nachfrage
nicht berichtet. Auf Grund dessen konnte der Kläger auch keinen zeitnahen
Ausreiseanlass benennen. Seine Angaben, die Unterdrückung habe zugenommen und
es hätten häufiger Razzien stattgefunden, lassen einen Bezug zum konkreten Zeitpunkt
seiner Ausreise nicht erkennen.
Seine exilpolitischen Aktivitäten, soweit sie ihm abgenommen werden können, bringen
ihn nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in die Gefahr, bei einer Rückkehr in die
Türkei zum gegenwärtigen Zeitpunkt asylerheblichen Maßnahmen ausgesetzt zu
werden. Denn seine Aktivitäten sind nicht nur niedrig profiliert, sondern liegen auch
geraume Zeit zurück. Darüber sind auch hier die Identitätszweifel beachtlich.
49
Die Aktivitäten des Klägers sind nach dem Maßstab, den die Kammer in Anwendung
der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen
50
vgl. Urteil vom 19. April 2005, - 8 A 273/04.A -, Juris und insbesondere zur KKP Urteil
vom 27. September 2005, - 15 A 1341/02.A -,
51
an die Erheblichkeit exilpolitischer Aktivitäten stellt, im Ergebnis niedrig profiliert.
52
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Kläger durch eigene geistige Beiträge in
gesprochener oder geschriebener Form als Meinungsführer hervorgetreten war. Soweit
der Kläger zur Glaubhaftmachung mit nicht nachgelassenem Schreiben vom 13.
September 2006 wenige Tage vor der mündlichen Verhandlung den Text dreier
angeblicher Artikel nur in türkischer Sprache vorlegt, für die er die Autorenschaft
übernommen haben will, sind seine Angaben schon deshalb zweifelhaft, weil alle
Artikel bereits namentlich einem Autor namens C bzw. C1 zugeordnet sind. Ferner
waren dem Schreiben keine Übersetzungen beigefügt und kann deren Inhalt daher nicht
ermittelt werden. Ungeachtet dessen passen zwei Artikel thematisch nicht unmittelbar
zur orthodox-kommunistischen KKP, weil sie jeweils mit den Worten „PKK" beginnen
und ersichtlich auch weiter mit der PKK, jedoch nicht mit der KKP im Zusammenhang
stehen. Der Kläger hat auch nicht belegt, dass dieserhalb Anklage gegen ihn erhoben
worden ist. Dem geht die Kammer nicht näher nach. Denn auf Grund der kurzen
Verjährung in Pressedelikten von sechs bzw. 12 Monaten nach Bekannntwerden der
53
Person dürften alle den türkischen Ermittlungsbehörden unter dem Namen des Klägers
bekannten Tathandlungen verjährt sein. Selbst wenn darin Straftaten gesehen würden,
nach denen ein abstrakter Strafrahmen von mehr als 5 und weniger als 20 Jahren
Zuchthaus oder Gefängnisstrafe in Betracht käme, betrüge die Verjährungszeit 10 Jahre
und wären heute auch solche Delikte verjährt.
Vgl. Dr. Silvia Tellenbach, Auskunft vom 5. Februar 1999 an das Verwaltungsgericht
Gelsenkirchen zu dem Aktenzeichen 9a K 3822/95.A.
54
Die Kammer hält es für nicht beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger heute noch in
diesem Zusammenhang Vorwürfe gemacht werden könnten im Hinblick auf mehr als 10
Jahre alte Tathandlungen, insbesondere wegen der positiven legislatorischen Ansätze
in der Türkei zur Stärkung der Meinungsfreiheit. Die umfangreichen Reformen
zugunsten der Meinungsfreiheit haben bereits positive Wirkung gezeigt. Ausweislich
des Lageberichtes des Auswärtigen Amtes vom 27. Juli 2006 (Seite 14) sind von 2003
bis 2005 die Anzahl der Anklagen und vor allem der Verurteilungen kontinuierlich
zurückgegangen. Meinungsäußerungen, die nur Kritik beinhalten und nicht beleidigend
oder zersetzend gemeint sind, wurden nicht mehr bestraft.
55
Ob der Kläger im Rahmen früherer Aktivitäten als Funktionär von Vereinen in das
Vereinsregister eingetragen war, ist unerheblich. Denn aktuelle Erkenntnisse darüber,
dass Mitarbeiter der türkischen Nachrichtendienste in nennenswertem Umfang die
Vereinsregister einsehen, liegen nicht vor.
56
Bundesministerium des Innern, Auskunft vom 27. September 2004 an OVG Nordrhein-
Westfalen.
57
Vielmehr spricht alles dafür, dass die Intensität, mit der einzelne Mitglieder von
Exilorganisationen beobachtet werden, nicht von ihrer formalen Funktion in der
Organisation, sondern von Art und Gewicht der politischen Betätigung abhängt.
58
Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19. April
2005, - 8 A 273/04.A -, Juris
59
Nach den weiteren Erkenntnissen des Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-
Westfalen
60
vgl. Urteil vom 19. April 2005, a.a.O.
61
ist es auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die türkischen Sicherheitskräfte von
den Feststellungen im Urteil des Landgerichts L vom 29. März 1996 Kenntnis erlangt
haben. Der nach Art. 22 des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in
Strafsachen (EuRHÜbk) vom 20. April 1959 (BGBl. 1964 II S. 1369, 1386; 1976 II S.
1799) praktizierte gegenseitige Strafnachrichtenaustausch rechtfertigt nicht die
Annahme, dass niedrig profilierte exilpolitische Tätigkeiten in Deutschland zu einer
beachtlichen Wahrscheinlichkeit asylerheblicher Verfolgung nach der Rückkehr in die
Türkei führen. Namentlich ist nicht davon auszugehen, dass türkische Staatsangehörige
allein deshalb einem höheren Verfolgungsrisiko ausgesetzt sind, weil sie wegen einer
auf deutschem Boden begangenen Straftat mit exilpolitischem Hintergrund durch ein
deutsches Strafgericht verurteilt worden sind. Allerdings gibt das Bundesministerium der
Justiz in diesen Fällen dem türkischen Justizministerium die entscheidenden im
62
Bundeszentralregister eingetragenen Daten (persönliche Daten des Betroffenen, Urteils-
und Tatzeit, Gerichtsbezeichnung, Aktenzeichen, Tatbezeichnung, Rechtsgrundlage, Art
und Höhe der Strafe) bekannt; diese Daten werden von der Generalsicherheitsdirektion
in Ankara erfasst und die örtlich zuständige Polizeibehörde wird benachrichtigt. Wenn
die türkische Seite jedoch nach Art. 4 des Zusatzprotokolls zum EuRHÜbk vom 17. März
1978 (BGBl. 1990 II S. 124, 125; 1991 II S. 909) um die Übermittlung zusätzlicher
Informationen (Urteilsabschriften usw.) ersucht, wird dieses Ersuchen nach der Praxis
der Bundesregierung in den hier in Rede stehenden Fällen nach Art. 2 Buchst. a)
EuRHÜbk abgelehnt, weil es sich auf eine strafbare Handlung bezieht, die vom
ersuchenden Staat als politische Straftat angesehen wird. Möglich ist auch, dass vor der
Versendung des Urteils - politisch - belastende Passagen unkenntlich gemacht werden.
Ähnlich wird verfahren, soweit die türkische Seite auf kriminalpolizeilicher Ebene um
Auskunft ersucht. Wird ein politischer Hintergrund der dem Ersuchen
zugrundeliegenden Straftat erkennbar, erteilt das Bundeskriminalamt keine Auskunft
oder nur nach Rücksprache mit dem Bundesministerium der Justiz. Das Verhalten der
türkischen Seite beim Austausch von Strafnachrichten deutet darauf hin, dass sie kein
Interesse an der Verfolgung niedrig profilierter exilpolitischer Aktivitäten hat; eine niedrig
profilierte exilpolitische Betätigung erlangt nicht allein deshalb ein die Schwelle der
Exponiertheit überschreitendes Gewicht, weil sie der Türkei im Wege des
Strafnachrichtenaustauschs bekannt werden kann. Die türkischen Stellen bringen dem
Strafnachrichtenaustausch bei politischen Delikten ohnehin nur vergleichsweise
geringes Interesse entgegen. Es ist davon auszugehen, dass die anderweitigen
Erkenntnismöglichkeiten (Spitzel vor Ort, Auswertung von Presse und Fernsehen) einen
erheblich unbürokratischeren Zugang zu den unter Staatsschutzgesichtspunkten
interessanten Informationen erlauben. Denn der Strafnachrichtenaustausch ist als
Informationsquelle selbst dann nicht sonderlich ergiebig, wenn der exilpolitische
Hintergrund aus der übermittelten Strafnachricht ersichtlich oder zumindest der Schluss
auf einen derartigen Hintergrund nahe liegend ist (z. B. Verstoß gegen das
Versammlungsgesetz, Landfriedensbruch), weil neben dem Tatdatum lediglich die
abstrakte Deliktsbezeichnung angegeben ist, die einen Aufschluss über die
staatsschutzbezogene Gefährlichkeit der Tathandlung nicht erlaubt.
Ob die türkischen Verfolgungsbehörden Kenntnis vom Urteil des Landgerichts N haben
- dafür spräche die Anklageschrift, wenn sie den Kläger beträfe -, ist in diesem
Zusammenhang unerheblich. Denn aus dem vollständigen Urteil ergibt sich keinerlei
politischer Hintergrund.
63
Vor allem aber liegen alle politischen Aktivitäten des Klägers im Zeitpunkt der
mündlichen Verhandlung mehr als zehn Jahre zurück. Es erscheint absolut fern liegend,
dass in Bezug auf den Kläger, selbst wenn den türkischen Sicherheitskräften früher
irgendwelche politischen Aktivitäten bekannt geworden wären, heute noch ein
Verfolgungsinteresse bestehen könnte. Die meisten Delikte, so sie dem Kläger
überhaupt zugeordnet werden können, weisen eher geringen Unrechtsgehalt auf und
dürften darüber hinaus auch verjährt sein. Darüber hinaus sind die positiven
Veränderungen in der Türkei jedenfalls insoweit durchaus erheblich, als durch sie die
Wahrscheinlichkeit, dass ein nicht vorverfolgt Ausgereister bei seiner Rückkehr in die
Türkei auf Grund exilpolitischer Aktivitäten behelligt wird, deutlich kleiner wird. Dies gilt
umso mehr, als sich der Kläger gerade nicht für eine terroristische Organisation, sondern
für die KKP betätigt hat. Die KKP steht gegenwärtig nicht mehr im Blickfeld der
türkischen Sicherheitsorgane. Seit Jahren liegen über Verfolgungsmaßnahmen gegen
die KKP keine Erkenntnisse mehr vor.
64
Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27.
September 2005, - 15 A 1341/02.A -.
65
III. Der erste Hilfsantrag ist zulässig, aber unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch
auf Verpflichtung der Beklagten zu dem Ausspruch, dass in seiner Person in Bezug auf
die Türkei die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen. Zur Begründung
wird auf die vorstehenden Erwägungen verwiesen.
66
IV. Der zweite Hilfsantrag ist zulässig, aber ebenfalls unbegründet. Der Kläger hat
keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zu dem Ausspruch, dass in seiner
Person in Bezug auf die Türkei Abschiebungsverbote vorliegen; Ziffer 3 des
angefochtenen Bescheides ist rechtmäßig, § 113 Abs. 5 VwGO.
67
1. Die Kammer kann nicht feststellen, dass dem Kläger mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit droht, wegen seines zweiten Betäubungsmitteldeliktes in der Türkei
erneut strafrechtlich behelligt zu werden. Denn die Anklageschrift gilt, wie ausgeführt,
einer anderen Person. Der Kläger ist nicht derjenige E dessen Eltern B1 und B2 heißen.
Ungeachtet dessen sind die Umstände, unter denen der Kläger in den Besitz der
Anklageschrift gekommen sein will, dubios. Denn gegen den Kläger hat, wie sein
Bevollmächtigter mit Schreiben vom 16. August 2004 im ausländerrechtlichen Verfahren
eingeräumt hat, kein Auslieferungsverfahren stattgefunden. Dass dem Kläger im
Rahmen eines Rechtshilfeverfahrens vor dem Amtsgericht L eine Kopie einer
Anklageschrift ausgehändigt worden wäre, erscheint der Kammer fern liegend.
Ungeachtet dessen würde eine eventuelle erneute Bestrafung des Klägers, die wegen
des „überschießenden", durch das hiesige Strafmaß nicht mitabgeurteilten Türkei-
Bezuges der Straftat potentiell möglich erscheint,
68
vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 6. Mai 1998, -
17 A 4480/96 -, Juris,
69
bereits kein Verbot einer Ausweisung und erst Recht kein Abschiebungsverbot ergeben.
Ein dem Kläger deshalb eventuell drohender weiterer Freiheitsentzug würde bei
Ausschöpfung der Obergrenze des Strafrahmens wohl eine gewisse Härte darstellen,
wäre aber angesichts des Gewichts seiner Straftat keine unangemessene Folge.
70
Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 6. Mai 1998,
a.a.O.
71
Die Kammer geht insoweit davon aus, das der Kläger beide Betäubungsmitteldelikte
aus Gewinnstreben verwirklicht hat. Eigene Abhängigkeit lag den Straftaten nicht
zugrunde. Soweit der Kläger gegenüber dem Landgericht L erklärt hatte, er leiste
entsprechende finanzielle Beiträge, haben ihn die Straftaten hierzu in die Lage versetzt;
Motiv derselben waren sie zur Überzeugung der Kammer nicht. Eine allgemeine Regel
des Völkerrechts, vgl. Art. 25 Satz 1 GG , nach der niemand wegen desselben
Lebenssachverhaltes von einem Gericht eines anderen Staates neuerlich verfolgt und
bestraft werden dürfte, existiert nicht.
72
Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 6. Mai 1998,
a.a.O.
73
Dass der Kläger im Rahmen des Strafverfahrens Folter oder sonst unmenschliche
Behandlung erfahren könnte, ist mit Blick auf die aktuelle Lage in der Türkei nicht
hinreichend beachtlich wahrscheinlich, sondern eher unwahrscheinlich.
74
2. Für das Vorliegen von Abschiebungsverboten aus anderen Gründen ist nichts
ersichtlich.
75
V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung
hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11,
711 ZPO. Der Gegenstandwert folgt aus § 30 RVG.
76
77