Urteil des VG Berlin vom 03.09.2010

VG Berlin: sorgerecht, besondere härte, wohl des kindes, visum, vietnam, elterliche sorge, eltern, verordnung, stadt, aufenthaltserlaubnis

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Gericht:
VG Berlin 24.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
24 K 95.09 V
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 6 Abs 4 AufenthG, § 32 Abs 3
AufenthG, § 5 Abs 1 AufenthG, §
2 Abs 3 AufenthG, § 7 Abs 3
SGB 2
Alleiniges Sorgerecht im Rahmen des Familiennachzugs aus
Vietnam
Leitsatz
Art. 92 ff. des vietnamesischen Familiengesetzbuches lassen eine Vereinbarung über ein
alleiniges Sorgerecht im Sinne des hier maßgeblichen Gemeinschaftsrechts zu
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Generalkonsulats der
Bundesrepublik Deutschland Ho-Chi-Minh-Stadt vom 16. Januar 2009 und des
Remonstrationsbescheides vom 9. März 2009 verpflichtet, der Klägerin ein Visum zum
Familiennachzug zu ihrer Mutter zu erteilen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen
Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages
abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe
leistet.
Tatbestand
Die Klägerin, vietnamesische Staatsangehörige, begehrt ein Visum zum
Familiennachzug zu ihrer Mutter.
Die Klägerin wurde 1995 in Vietnam geboren.
Unter dem 31. Oktober 2008 beantragten die Klägerin und ihre Mutter, Frau T..., bei dem
Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland Ho-Chi-Minh-Stadt, ihnen Visa zum
Zuzug in das Bundesgebiet zu erteilen. Frau N... hatte nach mehrmaligen
Besuchsaufenthalten in Deutschland die Absicht, den deutschen Staatsangehörigen
U...N... zu heiraten, den sie im Mai 2005 in Singapur kennengelernt hatte, und mit ihrer
Tochter bei ihm in Hamburg zu leben. Sie legten eine Geburtsurkunde der Klägerin vor,
in der beide Elternteile genannt sind, sowie eine Erklärung des Vaters der Klägerin, des in
Xom Chieu/Vietnam lebenden Herrn H..., vom 2. April 2008, in der dieser nach der von
der Klägerin vorgelegten Übersetzung hinsichtlich der „in nichtehelicher
Lebensgemeinschaft“ geborenen Klägerin erklärte: „Ich stimme hiermit zu, dass meine
Tochter H... mit ihrer Mutter nach Deutschland ausreisen und dort wohnen darf.“
Daraufhin forderte die Beigeladene die Kindesmutter auf, einen Sorgerechtsbeschluss
hinsichtlich der Klägerin vorzulegen sowie einen Nachweis, dass der Vater nicht in der
Lage sei, für das Kind zu sorgen. Frau N... legte daraufhin Bescheinigungen vor, wonach
sie in Vietnam nicht verheiratet war. Ferner reichte sie ein Urteil des Volksgerichts Ho-
Chi-Minh-Stadt vom 26. Dezember 2008 nach, mit dem dem Antrag der Kindesmutter,
ihre Ehe für nichtig zu erklären, mit der Begründung stattgegeben wurde, sie habe seit
1992 mit dem in Herrn H... eine Lebensgemeinschaft ohne Eheregister geführt, die nicht
im Glück abgelaufen sei. Beide Elternteile seien sich einig, dass das gemeinsame Kind -
die hiesige Klägerin - direkt zum Sorgerecht von Frau N... zu übertragen sei. Frau N...
habe gleichzeitig auf die Kindesunterhaltspflicht des Herrn V... verzichtet. Herr V...
stimme zu, das alleinige Sorgerecht für die minderjährige N... an Frau N... zu
übertragen. Bei einer Anhörung habe das Kind am 16. Dezember 2008 selbst
angegeben, dass es den Wunsch habe, mit Frau N... zu leben. In dem Urteil ist nach von
der Klägerin vorgelegter Übersetzung Folgendes für Recht erkannt worden:
„1. Die Lebensgemeinschaft zwischen Frau N... und Herrn H... wird nicht als Ehe
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„1. Die Lebensgemeinschaft zwischen Frau N... und Herrn H... wird nicht als Ehe
anerkannt.
2. Folgende Vereinbarung: Das minderjährige Kind H... wird direkt unter
Sorgerecht von Frau N... gestellt. Weil Frau N... auf Kindesunterhaltspflicht des Herrn V...
verzichtet hat, ist die Unterhaltspflicht des Herrn V... auf dem Kind vorläufig stillgelegt.
Das Recht auf Kindbesuch und -erziehung bleibt Herrn V... unberührt. Herr V... kann das
Sorgerecht von Frau N... wegen Ausübung seines Rechtes auf Kindbesuch und -
erziehung aber nicht beeinträchtigen oder beschränken. Im Wohl des Kindes kann das
Amtsgericht auf Antrag einer Seite oder beider Seiten über Änderung des
Sorgerechtes/der Unterhaltspflicht/Beschränkung des Besuchsrechtes entscheiden.“
Die Beigeladene ermittelte, dass der Lebensunterhalt der Klägerin und ihrer Mutter
durch das Einkommen des Herrn N... gesichert sei und stimmte der Erteilung der Visa
mit Schreiben an die deutsche Auslandsvertretung vom 5. Januar 2009 zu.
Die Mutter der Klägerin erhielt ein Visum und lebt seit dem 15. Januar 2009 mit
Aufenthaltserlaubnis in Hamburg, wo sie Herrn U... am 23. Januar 2009 geheiratet hat.
Das Generalkonsulat der Beklagten lehnte ein Visum für die Klägerin durch Bescheid
vom 16. Januar 2009 mit der Begründung ab, der Elternteil verfüge nicht über das
alleinige Sorgerecht. Eine besondere Härte im Sinne von § 32 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG sei
nicht zu erkennen und auch nicht vorgetragen worden. Dagegen remonstrierte die
Klägerin mit der Begründung, schon weil sie nicht ehelich geboren sei, stehe ihrer Mutter
das alleinige Sorgerecht zu. Die ablehnende Entscheidung wurde durch
Remonstrationsbescheid vom 9. März 2009 bestätigt. Zur Begründung wurde im
Wesentlichen ausgeführt, die für die Anwendung der Kindernachzugsregelung in § 32
Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entscheidungserhebliche Personensorge umfasse nach den hier
anwendbaren Regelung in § 1629 ff. BGB insbesondere das Recht, das Kind zu pflegen,
zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen, ferner die
Vertretung des Kindes sowie das Recht, seine Herausgabe verlangen zu können und
seinen Umgang zu bestimmen. Das Rechtsverhältnis zwischen der in Vietnam lebenden
Klägerin und seiner Mutter bestimme sich gemäß Art. 21 EGBGB nach vietnamesischem
Recht. In dem vorgelegten Gerichtsurteil seien die Art. 92, 93 und 94 des
vietnamesischen Familiengesetzes 2000 angewandt worden. Gemäß Art. 92 des
Gesetzes stünden die die Personensorge prägenden Elemente wie Pflege, Erziehung,
Bildung und Entwicklung beiden Elternteilen zu.
Mit ihrer am 26. März 2009 bei Gericht eingegangenen Klage verfolgt die Klägerin ihr
Begehren weiter. Sie macht geltend, ihre Mutter habe das alleinige Sorgerecht für sie
und ihr Vater nur ein Besuchsrecht im Sinne eines Umgangsrechts. Sein
Erziehungsrecht entspreche der Regelung in § 1626 BGB, wonach auch der
nichtsorgeberechtigte Elternteil Umgang mit dem Kind haben und seine Entwicklung
fördern solle. Die Regelungen der §§ 92 ff. FamG SRV seien auf den Fall der Nichtigkeit
der Ehe nur entsprechend anwendbar. Da nie eine Ehe bestanden habe, habe die
Kindesmutter - anders als eventuell nach einer Scheidung - das alleinige Sorgerecht. Der
Kindesvater habe der Übertragung des Sorgerechts auf die Mutter zugestimmt.
Mit einem Schriftsatz vom 7. August 2009 hat die Klägerin unter Vorlage eines ärztlichen
Attests vom 24. Juli 2009 geltend gemacht, der Gesundheitszustand ihrer im Jahre 1946
geborenen Großmutter, bei der sie lebe, sei wegen Bluthochdrucks und einer
Magenentzündung stark angegriffen, so dass sie nicht mehr in der Lage sei, die
Betreuung für das Kind auszuüben. Sie hat ferner eine Mitteilung eines
Schulinformationszentrums vorgelegt, wonach sie nach ihrer Einreise in eine
internationale Vorbereitungsklasse gehen könne, um zunächst ein Jahr Deutsch zu
lernen. Sie hat ferner dargelegt, ihre Eltern hätten sich getrennt, als sie sechs Jahre alt
gewesen sei. Seitdem habe sie ihren Vater nie wiedergesehen. Wie ihre Mutter bei einem
Besuch in Vietnam im Februar 2010 festgestellt habe, komme sie in Vietnam nicht
zurecht, werde angefeindet und in der Schule verspottet. Ihrer Großmutter gehe es sehr
schlecht. Ihren Stiefvater habe sie bei seinen jährlichen Besuchen in Vietnam
kennengelernt. Sie liebe ihn wie einen richtigen Vater. Sie legte ferner ein Schreiben
ihrer Großmutter vom 9. Februar 2010 vor, in dem diese erklärt, sie habe viele
Krankheiten und sei gesundheitlich unfähig, die Enkelin weiterhin ordentlich zu pflegen.
Mit Schriftsatz vom 14. April 2010 hat die Klägerin vorgetragen, sie reagiere nicht mehr
auf die Großmutter und entziehe sich ihrer Kontrolle. Sie sei in schlechten Einfluss
geraten und drohe kriminell zu werden und Alkohol zu sich zu nehmen. Ihre
Schulleistungen würden sich verschlechtern. In der mündlichen Verhandlung hat die
Mutter der Klägerin vorgetragen, sie habe sich wegen der Anforderung des
Generalkonsulats mit dem Vater der Klägerin über das Sorgerecht geeinigt und auf
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Generalkonsulats mit dem Vater der Klägerin über das Sorgerecht geeinigt und auf
Unterhalt verzichtet, damit es mit der gerichtlichen Entscheidung schneller gehe.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Generalkonsulats der
Bundesrepublik Deutschland Ho-Chi-Minh-Stadt vom 16. Januar 2009 in der Fassung des
Remonstrationsbescheides vom 9. März 2009 zu verpflichten, der Klägerin ein Visum
zum Kindernachzug zu ihrer Mutter zu erteilen,
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie trägt vor, das Urteil, mit dem dem leiblichen Vater der Klägerin ein Recht auf
Erziehung zugesprochen worden sei, zeige, dass die elterliche Sorge gerade nicht allein
bei der Mutter liege. Nach einem beigefügten Gutachten des Vertrauensanwalts des
Generalkonsulats vom 22. April 2009 kenne das vietnamesische Recht sowohl für ehelich
wie auch für nichtehelich geborene Kinder im Grundsatz nur die gemeinsame Sorge
beider Elternteile. Bei der Anwendung von Art. 21 EGBGB sei allein maßgeblich, wer als
Elternteil in die Geburtsurkunde eingetragen sei. Art. 41 des Familiengesetzbuches
ermögliche es durchaus, das Sorgerecht eines Elternteils gänzlich zu entziehen. Es sei
indessen nicht möglich, dass ein Elternteil durch bloße Erklärung auf das Sorgerecht
verzichte. Dies habe der Kindesvater auch nicht getan, er habe lediglich dem Umzug
seiner Tochter nach Deutschland zugestimmt. Eine besondere Härte im Sinne von § 32
Abs. 4 AufenthG setze voraus, dass die Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis den
minderjährigen Ausländer ungleich schwerer treffe als andere Ausländer in
vergleichbarer Lage. Dies sei jedoch nicht anzuerkennen. Abgesehen davon, dass die
Erkrankung der Großmutter der Klägerin nicht schwerwiegend erscheine und auch nicht
nachgewiesen sei, sei der Vater zur Personensorge berechtigt und verpflichtet.
Die Beigeladene hat keine Anträge gestellt. Sie hat mit Schreiben vom 10. Juli 2009
erklärt, sie stimme der Visumserteilung gegenwärtig nicht zu und würde sich einem
Votum der sachnäheren Beklagten anschließen, wenn diese davon ausgehe, dass die
Mutter der Klägerin allein personensorgeberechtigt sei.
Die Kammer hat die Sache durch Beschluss vom 10. August 2010 gemäß § 6 Abs. 1
VwGO der Berichterstatterin zur Entscheidung als Einzelrichterin übertragen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Streitakte sowie auf die Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Beigeladenen
verwiesen (je ein Band), die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Es konnte ohne Anwesenheit der Beigeladenen mündlich verhandelt und entschieden
werden; sie ist bei der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2
VwGO).
Die zulässige Klage ist begründet. Die Ablehnung des begehrten Visums ist rechtswidrig
und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO). Die Klägerin hat einen
Anspruch auf ein Visum zur Familienzusammenführung zu ihrer Mutter.
Anspruchsgrundlage für das begehrte Visum ist § 32 Abs. 3 i.V.m. § 6 Abs. 4 des
Aufenthaltsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950), zuletzt geändert durch Art. 1
des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der
Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. S. 1970 ff.) - AufenthG -. Danach ist
dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, welches das 16. Lebensjahr noch
nicht vollendet hat, eine Aufenthaltserlaubnis - hier zunächst ein Visum - zu erteilen,
wenn beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil eine
Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG
besitzen. Die 15-jährige Klägerin hat hiernach einen Anspruch auf das begehrte Visum.
Ihre Mutter ist im Sinne dieser Regelung allein personensorgeberechtigt.
Bei der Prüfung, ob ein Elternteil allein personensorgeberechtigt ist, kann nach der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der hier gefolgt wird, nicht auf das
deutsche Familienrecht zurückgegriffen werden. Der Begriff ist vielmehr mit Blick auf Art.
4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003
betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251/12 vom 3. Oktober
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betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251/12 vom 3. Oktober
2003) - sog. Familienzusammenführungsrichtlinie - gemeinschaftsrechtlich auszulegen.
Diese Richtlinie regelt den Familiennachzug zu sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat
aufhaltenden Drittstaatsangehörigen. Sie ist am 3. Oktober 2003 in Kraft getreten (vgl.
Art. 21 der RL) und war von den Mitgliedstaaten bis 3. Oktober 2005 umzusetzen (vgl.
Art. 20 der RL). Dem ist der deutsche Gesetzgeber mit dem Zuwanderungsgesetz und
mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz nachgekommen. Da die Klägerin ihren
Visumsantrag nach Ablauf der Umsetzungsfrist gestellt hat, ist die Richtlinie zwingend zu
beachten. Entscheidendes Anliegen der Kindernachzugsregelung in Art. 4 Abs. 1 der
Richtlinie 2003/86/EG ist das Kindeswohl. Nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie
gestatten die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in Kapitel IV sowie in Art. 16 genannten
Bedingungen den minderjährigen Kindern des Zusammenführenden die Einreise und
den Aufenthalt, wenn der Zusammenführende das Sorgerecht besitzt und für den
Unterhalt aufkommt. Übernommen wurde in Art. 32 Abs. 3 AufenthG die Voraussetzung,
dass ein Rechtsanspruch auf Nachzug zu einem in Deutschland lebenden Elternteil
besteht, wenn er "allein" sorgeberechtigt ist. Die Richtlinie 2003/86/EG enthält keine
Definition des Begriffs "Sorgerecht“. Sie verweist insoweit auch nicht auf die
Rechtsvorschriften des jeweiligen Mitgliedstaates. Der Begriff ist daher einheitlich
auszulegen. Ein Anhaltspunkt, wie der Begriff auf Gemeinschaftsebene zu verstehen ist,
findet sich in Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November
2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von
Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung
und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338, S. 1) in der durch die
Verordnung (EG) Nr. 2116/2004 des Rates vom 2. Dezember 2004 (ABl. L 367, S. 1)
geänderten Fassung - im Folgenden: VO 2201/2003 - (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 7.
April 2009 – BVerwG 1 C 17.08, juris).
Nach Art. 2 Nr. 9 VO 2201/2003 bezeichnet der Ausdruck "Sorgerecht" die Rechte und
Pflichten, die mit der Sorge für die Person eines Kindes verbunden sind, insbesondere
das Recht auf die Bestimmung des Aufenthaltsorts des Kindes, während der Ausdruck
"elterliche Verantwortung" nach Art. 2 Nr. 7 der VO 2201/2003 die gesamten Rechte und
Pflichten bezeichnet, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung
oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die
Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden, und außer dem Sorgerecht
insbesondere auch das Umgangsrecht umfasst. Nach Art. 11 b der VO 2201/2003 ist
von einer gemeinsamen Ausübung des Sorgerechts auszugehen, wenn einer der Träger
der elterlichen Verantwortung aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes nicht
ohne die Zustimmung des anderen Trägers der elterlichen Verantwortung über den
Aufenthaltsort des Kindes bestimmen kann. Auch dies zeigt, dass es für die Feststellung
des alleinigen Sorgerechts des Elternteils, zu dem das Kind nachziehen möchte,
gemeinschaftsrechtlich vor allem darauf ankommt, ob dem nicht im Bundesgebiet
aufhältlichen Elternteil ein auf den Aufenthaltsort des Kindes bezogenes
Entscheidungsrecht zukommt, welches durch das Verbringen des Kindes nach
Deutschland beeinträchtigt werden könnte. Nach Auffassung des
Bundesverwaltungsgerichts kommt es zusätzlich darauf an, ob dem anderen Elternteil
sonstige substantiellen Mitentscheidungsrechte und -pflichten zustehen, etwa in Bezug
auf Schule und Ausbildung oder Heilbehandlung des Kindes. Nur wenn dies nicht der Fall
sei, gehe der Richtliniengeber davon aus, dass der Nachzug typischerweise dem
Kindeswohl entspreche (BVerwG, a.a.O.). In jedem Fall reicht die bloße Zustimmung des
anderen Elternteils zum Zuzug nach Deutschland weder nach dem Aufenthaltsgesetz
aus noch begründet sie nach der Richtlinie 2003/86/EG einen zwingend zu beachtenden
Nachzugsanspruch.
Wem das Sorgerecht zusteht, beurteilt sich gemäß Art. 21 EGBGB nach dem Recht des
Staates, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die Klägerin hat
diesbezüglich das Urteil des Volksgerichts des Distrikts 4 der Ho-Chi-Minh-Stadt vom 26.
Dezember 2008 vorgelegt. Darin werden unter anderem die §§ 92 ff. des
vietnamesischen Familiengesetzes vom 1. Januar 2001 - im Folgenden: FamG SRV -
zitiert. Diese Regelungen über Scheidungsfolgen wurden hier offenbar analog
angewendet, weil der Lebensgemeinschaft der Eltern in dieser Entscheidung zugleich die
Anerkennung als Ehe abgesprochen worden ist. Gemäß § 92 Abs. 2 FamG SRV obliegt es
vorrangig den Eltern, sich darüber abzustimmen, wer das Kind „direkt erzieht“ und
welche Rechte und Pflichten jedem Elternteil in Bezug auf das Kind zukommen sollen.
Nur wenn ihnen eine solche Vereinbarung nicht gelingt, soll das Gericht in einer
Entscheidung, die in jeder Hinsicht den Interessen des Kindes entspricht, einem Elternteil
das direkte Erziehungsrecht zusprechen. Gemäß Art. 94 Abs. 1 FamG SRV hat die
Person, die das Kind nicht direkt erzieht, das Recht es zu besuchen, welches von
niemandem beeinträchtigt werden darf. Nach diesen Regelungen ist es den Eltern
ersichtlich nicht verwehrt, Sorgerechte und -pflichten auf einen Elternteil allein zu
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ersichtlich nicht verwehrt, Sorgerechte und -pflichten auf einen Elternteil allein zu
übertragen. Die Möglichkeit einer einvernehmlichen Regelung wird auch in dem von der
Beklagten vorgelegten Gutachten der Vertrauensanwälte vom 22. April 2009 erwähnt,
ohne hier Grenzen der Disposition aufzuzeigen.
Dem steht auch die Regelung des Art. 94 FamG SRV ersichtlich nicht entgegen.
Hiernach muss das Recht zum Besuch des Kindes demjenigen Elternteil erhalten
bleiben, der das Kind nicht „direkt erzieht“. Diese Regelung gilt nach ihrem Wortlaut und
ihrer Stellung im Gesetz sowohl für die Fälle, in denen das Erziehungsrecht auf
Vereinbarung beruht, als auch in den gerichtlich entschiedenen Sorgerechtsfällen. Das
darin genannte Besuchsrecht ist Teil des Umgangsrechts, das in Art. 2 Nr. 10 der
Verordnung 2201/2003 gesondert definiert wird und in Art. 1 Abs. 2 Buchstabe a sowie in
Art. 2 Nr. 7, 9 und 10 der Verordnung ausdrücklich neben das Sorgerecht gestellt wird.
Nach alledem lässt sich ein - aufgrund Vereinbarung oder Gerichtsentscheidung -
bestehendes bloßes Besuchsrecht eines Elternteils ohne Weiteres mit einem alleinigen
Personensorgerecht des anderen Elternteils im Sinne des Gemeinschaftsrechts und des
§ 32 Abs. 3 AufenthG vereinbaren.
Das Urteil des Volksgerichts weist in der Sachverhaltsdarstellung darauf hin, dass beide
Elternteile sich einig seien, dass der Mutter der Klägerin das direkte Sorgerecht
übertragen worden sei und diese auf Unterhaltspflichten des Kindesvaters, wie sie in
diesem Falle nach Art. 92 Abs. 1 Satz 2 FamG SRV vorgesehen sind, verzichtet. Dem
entsprechend ist dem Regelungsteil des Urteils keine streitige Entscheidung über das
Sorgerecht zu entnehmen. Vielmehr trägt der diesbezügliche Abschnitt die Überschrift
„Folgende Vereinbarungen“ und gibt lediglich den Inhalt der bereits im Sachbericht
beschriebenen Einigung wieder. Zwar heißt es im Regelungsteil weiter, das Recht auf
Kindsbesuch und -„erziehung“ bleibe Herrn V... unberührt. Hierzu hat der die Klägerseite
in der mündlichen Verhandlung begleitende beeidigte Dolmetscher nachvollziehbar
ausgeführt, dass der in der Entscheidung für den Kindesvater verwendete Begriff „cham
soc“ mehr im Sinne des Pflegens, nicht aber im Sinne des Erziehens zu übersetzen sei,
letzteres werde in Bezug auf die Kindesmutter durch „nuoi“ ausgedrückt.
Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass mit dem eingeräumten Recht zur
„Erziehung“ bzw. eher „Pflege“ des Kindes wesentliche Mitwirkungsrechte begründet
werden, die außerhalb von Besuchen ein alleiniges Sorgerecht der Kindesmutter
beschneiden. Denn im Urteil ausdrücklich noch hinzugefügt worden, Herr V... könne das
Sorgerecht von Frau N... mit der Ausübung seines Rechts auf Kindbesuch und -
„erziehung“ bzw. -„pflege“ nicht beeinträchtigen oder beschränken. Diese Regelung ist
vor dem Hintergrund zu sehen, dass das Urteil mit der zugrundeliegenden Vereinbarung
der Eltern im Dezember 2008 allein zu dem Zweck abgefasst worden ist, der
Kindesmutter die Übersiedlung nach Deutschland zu ermöglichen. Insoweit ist
ausdrücklich auf das Kindeswohl Rücksicht genommen worden, indem das Gericht durch
eine Befragung am 16. Dezember 2008 den Wunsch der Klägerin festgestellt hat, „ mit
Frau N... zu leben“. Zu dieser Zeit war bereits das Visum beantragt und der jetzige
Ehemann der Kindesmutter war durch Schreiben der Beigeladenen vom 10. November
2008 ausdrücklich aufgefordert worden, einen Sorgerechtsbeschluss beizubringen (Bl. 5
der Ausländerakte), nachdem nachgewiesen war, dass die Kindesmutter zu keiner Zeit
wirksam verheiratet war. Nach alledem ist nicht ersichtlich, dass dem Kindesvater außer
dem Recht, die Klägerin zu besuchen und bei dieser Gelegenheit in Obhut zu nehmen,
wesentliche Mitentscheidungsrechte verblieben sind, die das alleinige Sorgerecht der
Mutter und insbesondere ihr Aufenthaltsbestimmungsrecht beeinträchtigen.
Die Klägerin erfüllt auch - was zu keiner Zeit streitig gewesen ist - die allgemeinen
Erteilungsvoraussetzungen von § 5 AufenthG. Insbesondere ist ihr Lebensunterhalt
gesichert (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG). Hierfür kommt es gemäß § 7 Abs.
3 Nr. 2 i.V.m. § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II auch auf das Einkommen des Stiefvaters als
Partner der Kindesmutter an. Er hat in der mündlichen Verhandlung eine
Gehaltsbescheinigung vorgelegt, der zufolge er monatlich 3.885,19 Euro netto verdient.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit und die Abwendungsbefugnis beruhen auf § 167 VwGO i.V.m.
§§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Beschluss
Der Wert des Streitgegenstandes wird gemäß §§ 39 ff., 52 f. des Gerichtskostengesetzes
auf 5.000 Euro festgesetzt.
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