Urteil des VG Berlin vom 22.09.2010

VG Berlin: widerspruchsverfahren, vorverfahren, anerkennung, arbeitssuche, kompetenz, verfügung, vollstreckbarkeit, sammlung, quelle, link

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Gericht:
VG Berlin 3. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 K 1159.10
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 19 Abs 6 SchulG BE, § 19 Abs
7 SchulG BE, § 4 Abs 2 KTagStG
BE, § 4 Abs 4 KitaFöGV BE, § 80
Abs 1 VwVfG
Anspruch auf Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im
Widerspruchsverfahren betreffend die ergänzende Betreuung
an Grundschulen
Tenor
Dem Beklagten wird unter Aufhebung des Bescheides des Bezirksamts Tempelhof-
Schöneberg von Berlin vom 22. September 2010 und des Widerspruchsbescheides vom
26. November 2010 verpflichtet, die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten in dem von
den Klägern mit Widerspruch vom 1. Juli 2010 geführten Widerspruchsverfahren gegen
den Bescheid des Bezirksamts Tempelhof- Schöneberg von Berlin vom 8. Juni 2010 für
notwendig zu erklären.
Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten in dem dem vorliegenden Klageverfahren
vorausgehenden Widerspruchsverfahren wird für notwendig erklärt.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des
aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger zuvor
Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leisten.
Tatbestand
Mit der vorliegenden Klage verfolgen die Kläger ihr vom Bezirksamt Tempelhof-
Schöneberg von Berlin durch Bescheid vom 22. September 2010 und
Widerspruchsbescheid vom 26. November 2010 abgelehntes Begehren weiter, dass in
dem mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 1. Juli 2010 geführten
Widerspruchsverfahren die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für notwendig erklärt
wird.
Jenes Widerspruchsverfahren richtete sich gegen den Bescheid des Bezirksamts
Tempelhof-Schöneberg von Berlin vom 8. Juni 2010, der auf den von den Klägern unter
dem 9. November 2009 gestellten (formularmäßigen) Antrag auf ergänzende Betreuung
an Grundschulen für ihre am 27. Mai 2004 geborene Tochter S_____ im Hinblick auf
deren Einschulung zum 1. August 2010 hin ergangen war. Die Kläger hatten die
Anerkennung eines Betreuungsbedarfs für die Zeit von 13.30 Uhr bis 18.00 Uhr unter
Hinweis darauf beantragt, dass Arbeitslosigkeit bestehe, aber beabsichtigt sei, ein
Arbeitsverhältnis aufzunehmen und daher eine Betreuung benötigt werde, die über das
Angebot der verlässlichen Halbtagsgrundschule hinausgeht. Zugleich hatten sie darauf
hingewiesen, dass in ihrer Familie nicht überwiegend Deutsch, sondern Türkisch
gesprochen werde. Mit dem Bescheid vom 8. Juni 2010 entschied das Bezirksamt
Tempelhof-Schöneberg, dass ein Bedarf für ergänzende Betreuung in der Zeit von 7.30
Uhr bis 13.30 Uhr bestehe. Diese Entscheidung änderte es im Widerspruchsverfahren
durch Bescheid vom 19. August 2010 dahin, dass ein Betreuungsbedarf für die Zeit von
7.30 Uhr bis 16.00 Uhr anerkannt werde.
Die Kläger haben schriftsätzlich sinngemäß beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids des Bezirksamts Tempelhof-
Schöneberg von Berlin vom 22. September 2010 und des Widerspruchsbescheids vom
26. November 2010 zu verpflichten, die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im
Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid des Bezirksamts Tempelhof-Schöneberg
von Berlin vom 8. Juni 2010 für notwendig zu erklären.
Der Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
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die Klage abzuweisen.
Er stützt sich darauf, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im
Vorverfahren nur ausnahmsweise die Vertretung durch einen Bevollmächtigten
notwendig sei. Den Klägern sei es im Hinblick auf ihre persönlichen Verhältnisse
zuzumuten gewesen, das Vorverfahren selbst zu führen. Sie seien vom Beklagten ernst
genommen worden und es habe keine Versuche gegeben, sie „abzuwimmeln“.
Schließlich sei dem Widerspruch abgeholfen worden, ohne dass hierfür die Tätigkeit ihres
Bevollmächtigten entscheidend gewesen wäre. Maßgeblich sei eine neue Sachlage
gewesen, die sich daraus ergeben habe, dass der Schulleiter, an den sich die Kläger
selbst gewandt hätten, eine auf Entwicklungsverzögerungen ihres Kindes hinweisende
Stellungnahme abgegeben habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Beklagten, der
Gegenstand der Entscheidung gewesen ist, Bezug genommen.
Mit Beschluss vom 8. Februar 2011 hat die Kammer den Rechtsstreit dem
Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren
einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Der Berichterstatter konnte mit Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche
Verhandlung entscheiden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig und begründet. Die Kläger haben einen
Anspruch darauf, dass der Beklagte in dem von ihnen gegen den Bescheid des
Bezirksamts Tempelhof-Schöneberg von Berlin vom 8. Juni 2010 geführten
Widerspruchsverfahren, in dem sie sich anwaltlich vertreten ließen, die Hinzuziehung
eines Bevollmächtigten für notwendig erklärt wird. Mit dem Bescheid vom 19. August
2010 half das Bezirksamt dem Widerspruch, mit dem vorgetragen worden war, dass eine
ergänzende Betreuung von 7.30 Uhr bis 16.00 Uhr bewilligt werden müsse,
vollumfänglich ab. Der Widerspruch hatte also Erfolg und das Bezirksamt war nicht nur
verpflichtet, in dem nach Stattgabe des Widerspruchs ergangenen Bescheid vom 22.
September 2010 – wie geschehen – die Kosten des Widerspruchsverfahrens dem
Beklagten aufzuerlegen, sondern auch eine für die Kläger günstige Entscheidung nach §
80 Abs. 3 Satz 2 VwVfG zu treffen.
Die Frage, ob die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts in dem gegen den Bescheid vom 8.
Juni 2010 geführten Widerspruchsverfahren notwendig war, steht nicht im Ermessen des
Beklagten. Insoweit handelt es sich um eine reine Rechtsfrage. Notwendig ist die
Zuziehung eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen sachkundigen Bevollmächtigten,
wenn sie vom Standpunkt eines verständigen, nicht rechtskundigen Beteiligten für
erforderlich erhalten werden durfte (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 9. Aufl., Rnr. 39 zu § 80
m.w.N.). Den Klägern war es nach ihrer Vorbildung, Erfahrung und ihren sonstigen
persönlichen Umständen nicht zuzumuten, das Widerspruchsverfahren selbst zu führen.
Zwar handelte es sich bei dem im Widerspruchsverfahren weiterverfolgten Begehren auf
Anerkennung eines ergänzenden Betreuungsbedarfs nicht um eine tatsächlich oder
rechtlich besonders schwierige Frage, zumal es Sache der Kläger war, den aus ihrer
Sicht gegebenen, aus ihren persönlichen Lebensumständen hergeleiteten ergänzenden
Betreuungsbedarf darzustellen. Hierzu hatten sie in dem ihnen zur Verfügung gestellten
Antragsvordruck die erforderlichen Angaben gemacht und auch den zeitlichen Umfang
des begehrten Betreuungsbedarfs konkretisiert. Es war ihnen jedoch nicht mehr
zuzumuten, zu erkennen, in welchem Umfang und mit welcher Begründung dieser
Antrag durch den Bescheid vom 8. Juni 2010 abgelehnt wurde, mit dem der Beklagte
einen Bedarf für ergänzende Betreuung für die Zeit von 7.30 Uhr bis 13.30 Uhr
anerkannte; denn diese Zeitspanne entspricht dem ihnen durch die verlässliche
Halbtagsgrundschule ohnehin zustehenden Betreuungsumfang (§ 25
Grundschulverordnung). Dass ihnen damit jedenfalls ein Betreuungsanspruch für die
Zeit der Schulferien in der Zeit von 7.30 Uhr bis 13.30 Uhr zuerkannt werden sollte, wie
das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg erst mit Schreiben vom 1. September 2010
erläuterte, war dem mit Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Bescheid vom 8. Juni 2010
nicht zu entnehmen. Eine nachvollziehbare Begründung erfolgte vielmehr erst mit dem
dem vorliegenden Klageverfahren vorausgehenden Widerspruchsbescheid vom 26.
November 2010 unter Hinweis auf einen nur in den Akten des Beklagten enthaltenen
Entscheidungsvorschlag der Zentralen Widerspruchsstelle des Bezirksamts Tempelhof-
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Entscheidungsvorschlag der Zentralen Widerspruchsstelle des Bezirksamts Tempelhof-
Schöneberg von Berlin.
Hinzu kam, dass die Kläger Betreuung während der Ferienzeit entsprechend den Zeiten
der verlässlichen Halbtagsgrundschule nicht beantragt hatten; denn in dem
vorgedruckten Antrag vom 9. November 2010 hatten sie einen insoweit vorformulierten
Antrag nicht angekreuzt. Dass den Klägern statt der beantragten ergänzenden
Betreuung für die Zeit von 13.30 Uhr bis 18.00 für ihre Abwesenheitszeit bei der
Arbeitssuche ergänzende Betreuung entsprechend den Zeiten der verlässlichen
Halbtagsgrundschulen nur für die Ferienzeit bewilligt werden sollte, war für sie aus dem
Bescheid nicht erkennbar, wie sich schon daraus ergibt, dass sich der von ihnen
hinzugezogene Rechtsanwalt gezwungen sah, vor Widerspruchseinlegung um
entsprechende Erläuterung des Bescheides zu bitten. Dessen Hinzuziehung musste sich
aus Sicht der Kläger auch deshalb als notwendig darstellen, weil ihm die erbetene
Erläuterung trotz seines Hinweises auf die ablaufende Widerspruchsfrist nicht gegeben
wurde.
Für die Frage, ob die Kläger bei dieser Sachlage und im Hinblick auf die ablaufende
Widerspruchsfrist die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für erforderlich halten durften
oder ob sie sich in der Lage hätten sehen müssen, ihre Rechte gegenüber dem
Beklagten ausreichend selbst wahren zu können, kommt es nicht entscheidend darauf
an, ob die Verzögerung der Tochter der Kläger in der Sprachentwicklung, wegen der der
Beklagte letztlich den im Widerspruchsverfahren nur noch begehrten Betreuungsumfang
bis 16.00 Uhr anerkannte, dezidiert durch den von den Klägern hinzugezogenen
Rechtsanwalt geltend gemacht worden war, oder ob sich der Beklagte insoweit auf eine
nach Einschulung der Tochter der Kläger am 12. August 2010 erstellte befürwortende
Stellungnahme ihres Schulleiters stützte. Der Auffassung des Beklagten, dass die
stattgebende Entscheidung damit aufgrund einer geänderten Sachlage und nicht auf
den Widerspruch der Kläger hin erging, vermag sich das Gericht nicht anzuschließen,
zumal damit auch die Frage aufgeworfen wäre, ob der Widerspruch überhaupt
„erfolgreich“ im Sinne von § 80 Abs. 1 Satz 1 VwVfG war und der Beklagte daher zu
Recht die Kosten des Widerspruchsverfahrens übernommen hatte. Soweit der Beklagte
die Frage der Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren
daran gemessen sehen will, ob der vom Widerspruchsführer hinzugezogene
Bevollmächtigte maßgeblich zum Erfolg des Widerspruchs beitrug, kann nicht außer
Betracht bleiben, dass der Bevollmächtigte der Kläger in der Widerspruchsbegründung
vom 12. Juli 2010 den weiterverfolgten Betreuungsbedarf auch darauf stützte, dass die
Kläger „ihren Kindern nicht in ausreichendem Maße die sprachliche Kompetenz nahe
bringen (können), welche die Kinder in ihrer Schullaufbahn brauchen werden, weil die
Eltern selbst Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache haben“, so dass ein Bedarf für
die zusätzliche Betreuung „schon aus diesem Grunde gegeben“ sei. Aus der Tatsache,
dass in der Folgezeit nicht der Bevollmächtigte der Kläger, sondern diese selbst an den
Schulleiter herantraten, um die zur Stattgabe führende befürwortende Stellungnahme
zur Notwendigkeit einer ergänzenden Betreuung zu erhalten, kann nicht der Schluss
gezogen werden, dass die Tätigkeit des Bevollmächtigten der Kläger zu der
Abhilfeentscheidung „überhaupt nicht beigetragen“ habe.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1 und 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO.
Den Klägern war es nach ihren persönlichen Verhältnissen nicht zuzumuten, das dem
vorliegenden Klageverfahren vorausgehende Widerspruchsverfahren selbst zu führen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit und die Abwendungsbefugnis
beruhen auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 und 2 i.V.m. § 709 Satz 2 ZPO.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 600,00 Euro festgesetzt.
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