Urteil des VG Aachen vom 11.10.2006

VG Aachen: wiedereinsetzung in den vorigen stand, politische verfolgung, ukraine, die post, bundesamt für migration, faires verfahren, rat der europäischen union, anhörung, anerkennung, auskunft

Verwaltungsgericht Aachen, 8 K 1146/02.A
Datum:
11.10.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 K 1146/02.A
Tenor:
Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren
eingestellt.
Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 2 und 3 des Bescheides
des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom
15. Januar 2001 verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen
des § 60 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Person des Klägers
vorliegen. Ziffer 4 des Bescheides wird aufgehoben, soweit darin die
Abschiebung des Klägers in die Ukraine angedroht wird. Im Übrigen
wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger und die Beklagte tragen die Kosten des gerichtskostenfreien
Verfahrens jeweils zur Hälfte.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig
vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von
110 % des beizutreibenden Betrages abwenden, soweit nicht der
jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in
gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d :
1
Der am 00.00.0000 geborene Kläger ist ukrainischer Staatsangehöriger und russischer
Volkszugehöriger. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Seine Familienangehörigen
leben weiter in der Ukraine. Er reiste mit einem von der deutschen Botschaft in Kiew
ausgestelltem Visum am 25. November 2000 auf dem Landweg über Polen in das
Bundesgebiet ein.
2
Am 12. Dezember 2000 stellte er einen Asylantrag, der am 14. Dezember 2000
aufgenommen wurde. Im Rahmen der am 14. Dezember 2000 stattgefundenen
Anhörung gemäß § 25 AsylVfG gab er an: Nach seinem Schulabschluss habe der vier
Jahre lang eine Militärakademie besucht. Er sei Leutnant. Im Jahr 1984 habe er die
3
Militärakademie mit Abschluss beendet. Anschließend sei er fünf Jahre lang als
Leitender Offizier einer Artillerieabteilung in der N. stationiert gewesen. Anschließend
sei er fünf Jahre lang in B. als Kapitän der Artillerieabteilung stationiert gewesen. Nach
einem weiteren Jahr in B. sei er im Jahre 1992 in die Ukraine zurückgekehrt und habe
den Offiziersrang erhalten. Er sei zur Überprüfung der Verträge über die Reduzierung
der Waffen eingesetzt gewesen. Diese Aufgabe habe er acht Jahre bis zu seiner
Ausreise wahrgenommen (Amt für Verifikationsaufgaben). Wenn ausländische Gruppen
in die Ukraine gekommen seien, sei er derjenige gewesen, der diese Gruppen begleitet
habe. Ziel des Besuches sei die Überprüfung gewesen, ob die Angaben zu den Waffen
mit dem tatsächlichen Bestand übereinstimmten. Es sei um die militärische Stärke
gegangen, um die Militärkräfte. Während seiner achtjährigen Betätigung auf diesem
Gebiet seien auch vier oder fünf Gruppen aus Deutschland gekommen.
In der Zeit vom 11. bis zum 15. Oktober 2000 habe er sich mit einem Gruppenvisum in
Deutschland aufgehalten. Zuerst sei er in M. gewesen, dann auch in U. Dort habe es ein
Kulturprogramm gegeben, und von dort sei die Gruppe weiter zu der militärischen US-
Basis in T. gefahren. Nach einer dortigen Besichtigung seien sie anschließend nach
Frankfurt/Main gefahren und hätten auf den Rückflug gewartet.
4
Als Asylgrund führte der Kläger an: Nach seinem letzten Aufenthalt in Deutschland sei
ihm vorgeworfen worden, dass er sich zu ausgiebig mit den ausländischen Kräften
beschäftigt habe. Seitdem sei er ständigen Repressalien ausgesetzt gewesen. Man
habe ihn psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt. Da er die Ukraine erneut
verlassen habe, werde ihm auch vorgeworfen, dass er desertiert sei. Im Einzelnen habe
man ihn beschuldigt, zwei Stunden lang mit einem Herrn H. gesprochen zu haben, von
dem er auch die Visitenkarte gehabt habe. H. sei ein amerikanischer Staatsbürger
russischer Abstammung. Ihm sei vorgeworfen worden, geheime Information
weitergegeben zu haben. Am ersten Werktag nach seiner Rückkehr aus Deutschland
sei er zu einer Anhörung bestellt worden. Er schätze, dass jemand vom
Verfassungsschutz für das Gebiet der Ukraine zugegen gewesen sei. Eine schriftliche
Vorladung habe er nicht erhalten. Er sei angerufen worden. Das Gebäude, in dem die
Anhörung durchgeführt worden sei, habe sich auf dem Territorium der Division
befunden. Den Mann, der die Anhörung geleitet habe, habe er von Ansehen her
gekannt. Der Name sei ihm nicht bekannt. Er habe einen höheren Rang als er, deshalb
habe er sich ihm nicht vorstellen müssen. Welche Aufgaben dieser Mann gehabt habe,
wisse er nicht. Er habe mit ihm nie zusammengearbeitet. Sie seien nur zu zweit in dem
Zimmer gewesen. Dieser Mann habe seine Antworten schriftlich niedergelegt. Er sei
nach dem Aufenthalt, dem Verlauf der Reise und nach den Kontakten, den
Kontaktpersonen und dem Inhalt des Kontaktes gefragt worden. Es seien auch private
Fragen gestellt worden. Es seien mehr private als berufliche Angelegenheiten
besprochen worden. Die Anhörung habe insgesamt mit Pausen drei Tage gedauert. Bei
dem Gespräch hätte man durchblicken lassen, dass er seine Rentenansprüche verlieren
würde und dass weder er noch seine Frau danach einen neuen Job erhalten würden.
Man habe ihm auch zu verstehen gegeben, dass er dann mittellos dastehen würde.
Auch seine Ehefrau arbeite beim Militär. Dies bedeute automatisch, dass auch seine
Frau in die Akte komme. Es sei ihm klar vor Augen geführt worden, dass seine Taten
zum Schaden des Staates geführt hätten. Bei der Anhörung sei ihm nicht gesagt
worden, welche Informationen er verraten bzw. preisgegeben haben solle. Nach der
dreitägigen Anhörung habe er sich unmittelbar zu einem Reisebüro begeben und habe
ein Visum beantragt. Bis zum Erhalt des Visums habe er noch in seiner Einheit, an
seinem Arbeitsplatz seine Aufgaben erfüllt. Das Verhalten ihm gegenüber sei anders
5
gewesen. Seine Kollegen seien ihm misstrauisch begegnet. Er habe mit den Kollegen
danach nicht mehr offen sprechen können. Er habe ganz deutlich nach dem Gespräch
mit dem Verfassungsschutz verstanden, dass er mit leeren Händen auf der Straße
stehen werde. Er gehe davon aus, dass er bei Rückkehr in die Ukraine eine Anklage
wegen des Verdachtes der Spionage, schlimmstenfalls wegen Staatsverrates, nun auch
wegen Desertion zu erwarten habe. Er mache sich große Sorgen um seine Familie.
Finanziell habe er deren Ausreise nicht leisten können.
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, heute Bundesamt für
Migration (Bundesamt) lehnte den Asylantrag des Klägers mit Bescheid vom 15. Januar
2001 ab und stellte fest, dass weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des
Ausländergesetzes (AuslG) noch Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen.
Unter Fristsetzung wurde der Kläger aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland zu
verlassen; für den Fall der Nichtbeachtung wurde ihm die Abschiebung in die Ukraine
oder jeden anderen Staat angedroht, in den er einreisen darf oder der zu seiner
Rückübernahme verpflichtet ist.
6
Dieser Bescheid wurde dem Kläger am 24. Januar 2001 durch Niederlegung bei der
Post zugestellt.
7
Der Kläger hat am 4. Juni 2002 Klage erhoben. Er beantragt wegen der Versäumung
der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit dem Vorbringen, am 4. März
2002 sei seitens der Stadt X. seine Aufenthaltsgestattung aus dem Asylverfahren, die
bis dahin immer verlängert worden sei, einbehalten worden. Am 7. Mai 2002 habe er
daraufhin bei der Geschäftsstelle der Gesellschaft für Migrationsschutz E. zwecks
Mitgliedschaft und Beratung vorgesprochen. Daraufhin habe sich diese Stelle an die
zuständige Ausländerbehörde und das Bundesamt gewandt und hierbei erfahren, dass
beide Stellen von der Bestandskraft des negativen Bescheides ausgingen. Das
Bundesamt habe auf Anforderung daraufhin den Ablehnungsbescheid in Kopie
übersandt. Der Kläger versichert eidesstattlich, den Bescheid nicht erhalten zu haben,
und gibt an, in der Sammelunterkunft habe er auch keine Benachrichtigung über eine
Niederlegung eines zuzustellenden Schriftstückes erhalten. In der
Gemeinschaftsunterkunft gebe es keine Individualbriefkästen, sondern nur
Sammelbriefkästen für alle Bewohner.
8
Zur Sache wiederholt er sein Vorbringen aus dem Vorverfahren und beantragt,
9
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge (heute: Bundesamt für Migration) vom 15. Januar 2001
insoweit zu verpflichten, festzustellen, dass in seiner Person die Voraussetzungen des §
60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz,
10
hilfsweise, des § 60 Abs. 2 bis 7 Aufenthaltsgesetz, erfüllt sind.
11
Seinen weitergehenden Antrag auf Verpflichtung der Beklagten zu seiner Anerkennung
als Asylberechtigter hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 27. September
2006 zurückgenommen.
12
Die Beklagte beantragt Klageabweisung. Sie hält die Klage wegen Fristversäumnis für
unzulässig.
13
Das Gericht hat eine amtliche Auskunft dazu eingeholt, wie viele Asylsuchende in der
Unterkunft G.---straße 95 in der Regel untergebracht sind, wie viele Personen es im
Februar 2001 waren und in welcher Weise die Zustellung rechtsmittelfähiger Bescheide
in der Unterkunft gesichert ist. Hierauf hat das Sozialamt der Stadt X. die folgende
Auskunft erteilt: Im Jahre 2001 seien in der Gemeinschaftsunterkunft G.- --straße 95
durchschnittlich 28 Personen untergebracht gewesen. Im Monat Februar 2001 seien es
13 Personen gewesen. Im Haus befinde sich ein Briefkasten, zu dem jeder Bewohner
Zugang habe. Einfache Briefpost werde in diesem durch die Post zugestellt. Die Post
verweigere jedoch förmliche Zustellungen in das Haus mit dem Hinweis an den
Absender, dass am Haus keine aktuelle Tagesliste der Bewohner aushänge. Auf
Anfrage habe das Sozialamt der Stadt X. bisher derartige Postsendungen auch gegen
Empfangsbekenntnis zugestellt.
14
Der Kläger hat am 14. Juli 2003 ein Schriftstück in russischer Sprache mit deutscher
Übersetzung vorgelegt, in dem seine Verfolgungsgeschichte bestätigt wird. Hierbei soll
es sich nach der Darstellung des Klägers um eine Bescheinigung des Stabschefs T.
handeln.
15
Auf die mündliche Verhandlung vom 22. Juli 2203 hin hat das Gericht Auskünfte des
Auswärtigen Amtes vom 22. Juli 2002 und des Kommandeurs des Zentrums für
Verifikationsaufgaben der Bundeswehr vom 5. August 2003 und nach der mündlichen
Verhandlung vom 15. Januar 2004 zwei weitere Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom
7. April 2004 und 18. Juni 2004 eingeholt.
16
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
17
Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.
18
Im übrigen ist die Klage zulässig und mit ihrem Hilfsantrag begründet.
19
Die Klage ist zulässig, weil dem Kläger hinsichtlich der verspätet erhobenen Klage
gemäß § 60 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand zu gewähren ist. Der Kläger war nämlich ohne Verschulden verhindert, die
Klagefrist einzuhalten. Dies ergibt sich aus der Auskunft des Sozialamtes der Stadt X.
über die Verhältnisse in der vom Kläger bewohnten Asylunterkunft, insbesondere
daraus, dass der dort vorhandene Briefkasten für jeden Bewohner zugänglich und dass
die Zustellung von Postsendungen durch die Post mit Schwierigkeiten belastet sei.
Daraus folgt, dass eine ordnungsgemäße Zustellung nicht gesichert war und dem
Kläger die Niederlegung am 24. Januar 2001 nicht entgegengehalten werden kann.
20
Die Klage ist mit ihrem Hilfsantrag auch begründet.
21
Der Kläger hat Anspruch auf die hilfsweise begehrte Verpflichtung der Beklagten zu der
Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5
Aufenthaltsgesetz (AufenthG) erfüllt sind. Der Bescheid des Bundesamtes für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 15. Januar 2001 ist, soweit durch ihn diese
Feststellung versagt wird, rechtswidrig und verletzt den Kläger insoweit in seinen
Rechten. Er wird insoweit und hinsichtlich der Androhung der Abschiebung des Klägers
in die Ukraine aufgehoben.
22
Der Kläger kann sich nicht auf das mit seinem Hauptantrag geltend gemachte Vorliegen
23
der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG berufen. Nach § 60 Abs. 1 AufenthG
darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder
seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit
zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung
bedroht ist, wobei eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten
sozialen Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn die Bedrohung allein an das
Geschlecht,
vgl. hierzu Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW),
Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, Entscheidungsabdruck (EA) S. 122.
24
anknüpft. Für den Abschiebungsschutz nach dieser Vorschrift gelten somit, anders als
für die Vorgängervorschrift des § 51 Abs. 1 Ausländergesetz (AuslG), nicht
uneingeschränkt die gleichen Grundsätze wie für die Auslegung des Art. 16a Abs. 1 des
Grundgesetzes, da nach § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG die Verfolgung auch von
nichtstaatlichen Akteuren ausgehen kann, ohne dass es auf die Existenz einer
staatlichen Herrschaftsmacht und damit auf die von der bisherigen Zurechnungslehre,
25
vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 - BVerfGE 80, 316;
BVerwG, Urteil vom 15. April 1997 - 9 C 15.96 -
26
geforderte grundsätzliche Schutzfähigkeit des Staates ankommt. Damit geht der Begriff
der Verfolgung in § 60 Abs. 1 AufenthG über den Verfolgungsbegriff in Art. 16a GG
hinaus. Eine Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG liegt dann vor, wenn für den
Ausländer im Herkunftsland aus einem oder mehreren der vorgenannten
Verfolgungsgründe die Gefahr von Verfolgungshandlungen besteht. Für die Beurteilung,
ob sich ein Schutzsuchender auf die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60
Abs. 1 AufenthG berufen kann, gelten unterschiedliche Maßstäbe: Hat er seinen
Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer
Verfolgung verlassen und war ihm auch ein Ausweichen innerhalb seines
Heimatstaates unzumutbar (Vorverfolgung), so ist Asyl bzw. Abschiebungsschutz zu
gewähren, wenn der Asylsuchende im Zeitpunkt der Entscheidung vor erneuter
Verfolgung nicht hinreichend sicher ist (herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab).
Die hinreichende Sicherheit vor Verfolgung ist dann nicht gegeben, wenn über die
bloße Möglichkeit hinaus, Opfer eines erneuten Übergriffs zu werden, objektive
Anhaltspunkte eine Wiederholung der ursprünglichen oder aber das erhöhte Risiko
einer gleichartigen Verfolgung als nicht ganz entfernt und damit als "reale" Möglichkeit
erscheinen lassen, vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86
-, BVerfGE 80, 315, 344 f.; BVerwG, Urteil vom 15. Mai 1990 - BVerwG 9 C 17.89 -,
BVerwGE 85, 139, 140 f.
27
Hat der Schutzsuchende sein Heimatland dagegen unverfolgt verlassen, so hat sein
Abschiebungsschutzbegehren nur dann Erfolg, wenn ihm politische Verfolgung mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht ("normaler" Prognosemaßstab), so dass eine
Rückkehr in den Heimatstaat aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig
denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nicht zumutbar erscheint,
28
vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341, 360;
BVerwG, Beschlüsse vom 24. Mai 2006 - 1 B 128/05 -, juris-web und vom 10. Juli 1995 -
9 B 18.95 -, InfAuslR 1996, 29; Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 1.94 -, NVwZ 1995, 391;
OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, EA S. 14 f.
29
Ausgehend von diesen Maßstäben steht dem Kläger kein Anspruch auf
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu. Das Gericht geht davon aus, dass
der Kläger seinen Heimatstaat nicht vorverfolgt verlassen hat. Nach seiner eigenen
Darlegung hat man ihm vor seiner Ausreise schwere Schikanen und Drangsalierungen,
insbesondere im Hinblick auf seine Berufstätigkeit und seine Altersversorgung, vor
allem aber auch Strafverfahren in Aussicht gestellt. Das Gericht kommt im Hinblick auf
die bis dahin zu verzeichnende Intensität der Drohungen und angesichts des nicht
abschätzbaren weiteren Ablaufs in absehbarer Zeit danach - auch wenn es sich
insoweit um einen Grenzfall handeln mag - nicht zu dem Ergebnis, dass hierin bereits
eine Verfolgung oder unmittelbar drohende politische Verfolgung lag. Dem Kläger ist
also Abschiebungsschutz zu gewähren, wenn ihm im Zeitpunkt der mündlichen
Verhandlung politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dies ist
nicht der Fall. Das Gericht legt den vom Kläger dargelegten Sachverhalt als zutreffend
zugrunde. Aufgekommene Zweifel, die sich allein auf die vom Kläger vorgelegte
angebliche Bescheinigung des Stabschefs T. beziehen, haben sich nach den
Erklärungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 27. September 2006
erledigt. Das Gericht geht davon aus, dass es sich hierbei um eine gefälschte
Bescheinigung handelt, die die Ehefrau des Klägers beschafft und ihm zugesandt hat,
um seine Chancen auf Asyl-Anerkennung zu erhöhen, ohne ihm die Tatsache der
Fälschung offen zu legen. Das Gericht geht vor allem deshalb von einer Fälschung aus,
weil es lebensfremd ist, dass ein Offizier in der vom Kläger behaupteten, von
Ausgrenzung und Misstrauen des Klägers gekennzeichneten Situation sich dadurch
selbst in Gefahr bringt, dass er dem des Geheimnisverrats und der Desertion
beschuldigten Kläger eine Bescheinigung schreibt, die exakt die Verfolgungsgeschichte
aus der Perspektive des Klägers wiedergibt und dabei sogar auf innere Vorgänge aus
der Sicht des Verfolgten ("…aus Furcht…") zu sprechen kommt. Angesichts dessen
gewinnt die in den Auskünften vom 22. Juli 2002 und vom 18. Juni 2004 geäußerte
Auffassung des Auswärtigen Amts, die Bescheinigung sei gefälscht, an Gewicht. Ohne
den zweifelhaften Inhalt der Bescheinigung, nur aufgrund der verwendeten Stempel,
wäre noch die Erklärung möglich gewesen, dass die Verwendung der russischen
Sprache und (auch) eines sowjetischen Stempels neben dem ukrainischen Stempel im
Einzelfall auf eine nicht exakte Anwendung der gegebenen Regeln zurückzuführen sein
und daher nicht ausgeschlossen werden könne. Die eigentliche Verfolgungsgeschichte
des Klägers begegnet keinen Zweifeln. Der Kommandeur des Zentrums für
Verifikationsaufgaben der Bundeswehr hat in seiner Auskunft vom 5. August 2003
bestätigt, dass der klägerische Sachvortrag - soweit von ihm zu beurteilen - so richtig
sein könne. Entgegen der in der Auskunft vom 22. Juli 2002 mitgeteilten Ansicht des
Auswärtigen Amts hält das Gericht es für nahe liegend, dass gerade ein
Verifikationsoffizier über geheimhaltungsbedürftige bzw. aus der Sicht fremder Dienste
interessante Daten und Sachverhalte informiert ist und leicht in den Verdacht des
Geheimnisverrats geraten kann. Das Gericht hält die vom Kläger in allen Einzelheiten
geschilderten Geschehnisse während seiner Inspektionsreise in die Bundesrepublik
Deutschland und nach seiner Rückkehr in die Ukraine für überaus nachvollziehbar. Das
Auswärtige Amt hat in seiner Auskunft vom 7. April 2004, vgl. auch den Lagebericht des
Auswärtigen Amts vom 19. März 2003,
30
dargelegt, dass dem Kläger nach dem ukrainischen Strafgesetzbuch allein wegen
eigenmächtigen Verlassens des Militärdienstes bzw. Desertion eine langjährige
Gefängnisstrafe droht, wobei der Vorwurf des Geheimnisverrats zu einer noch höheren
Bestrafung führen würde. Hieraus folgt aber nicht eine Einordnung des Klägers als
31
politisch Verfolgter. Strafrechtliche Bestimmungen über den Militärdienst und die
Wahrung militärischer Geheimnisse stellen im Grundsatz kein Instrument politischer
Verfolgung dar. Jedem Staat steht es frei, sich mit den Mitteln des Strafrechts gegen
derartige Angriffe auf seine Grundordnung zu schützen. Eine politische Verfolgung kann
nur angenommen werden, wenn bereits die Norm als solche ihrer objektiven
Gerichtetheit nach an ein asylrelevantes Persönlichkeitsmerkmal anknüpft oder wenn
die Anwendung einer Strafvorschrift, die für sich betrachtet asylrechtlich unerheblich ist,
allgemein oder im Einzelfall zum Anlass genommen wird, auf asylrechtlich bedeutsame
persönliche Merkmale oder Eigenschaften zuzugreifen, d. h. die jeweilige Person unter
dem Mantel strafrechtlicher Verfolgung gerade auch in dieser Beziehung zu treffen, vgl.
BVerwG, Urteil vom 24.11.1992 - 9 C 70/91 -, InfAuslR 1993, 154/155, DVBl 1993, 325,
NVwZ 1993, 789.
Diese Voraussetzungen sind im Fall des Klägers nicht erfüllt. Ein "Polit-Malus" im Sinne
einer verschärften Bestrafung wegen eines asylerheblichen Merkmals kann hier weder
nach der Auskunftslage noch nach den Umständen des Einzelfalles festgestellt werden.
Er scheidet schon deshalb aus, weil die Schilderungen des Klägers selbst nicht den
Anflug eines Anhaltspunktes darüber enthalten, an welche asylrechtlich bedeutsamen
persönliche Merkmale oder Eigenschaften des Klägers hier angeknüpft werden könnte.
Der Kläger selbst hat in keiner Weise solche Merkmale oder Eigenschaften wie etwa
eine oppositionelle Gesinnung vorgebracht. Er hat vielmehr den bis zum Oktober 2000
unauffälligen Lebenslauf eines ukrainischen Offiziers dargelegt, der erst nach der
Inspektion der US-Streitkräfte in Deutschland durch unberechtigte Beschuldigungen ins
Wanken geraten ist. Allerdings erfüllt der Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5
AufenthG. Hiernach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der
Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies ist hier deshalb zu bejahen, weil nach
Auffassung des Gerichts in diesem besonderen Einzelfall in der Ukraine die in Art. 6
EMRK geschützten Garantie auf ein faires Verfahren nicht beachtet würde. Nach der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ist ein
Abschiebungsverbot aufgrund des Art. 6 EMRK denkbar, wenn der Betroffene im
Abschiebezielstaat eine offenkundige Verweigerung eines fairen Prozesses erfahren
musste oder hierfür ein Risiko besteht und dem Ausländer nach seiner Abschiebung
schwere und irreparable Misshandlungen drohen und effektiver Rechtsschutz nicht oder
nicht rechtzeitig zu erreichen ist,
32
vgl. EGMR, Urteil vom 7. Juli 1989 - 1/1989/161/217 (Soering) -, EuGRZ 1989, 314,
NJW 1990, 2183; BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 2004 - 1 C 14/04 -, BVerwGE 122,
271, DVBl 2005, 641, NVwZ 2005, 704, NWVBl 2005, 260.
33
Dass Gericht geht nicht davon aus, dass allgemein wegen Militärstraftaten strafrechtlich
Verfolgte in der Ukraine generell die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m.
Art. 6 EMRK erfüllen. Vielmehr sind diese Voraussetzungen in dem vorliegenden
besonderen Einzelfall aufgrund der Kombination der allgemeinen Verhältnisse in der
Ukraine und des vom Kläger glaubhaft dargelegten Geschehens gegeben. Die
Verhältnisse in der Ukraine zeigen sich wie folgt: Das zurzeit der Ausreise des Klägers
herrschende Kutschma-Regime übt nicht mehr die Macht in der Ukraine aus. Auch ist
nach den letzten Wahlen in der Ukraine nicht zu befürchten, dass es zu einem Rückfall
in die alten, autokratischen Verhältnisse kommt. Zwar ist es so, dass sich die
nachrevolutionäre Regierung nur sieben Monate im Amt gehalten hat. Auch dauert nach
der Parlamentswahl 2006 die Regierungskrise insofern an, als das Staatsoberhaupt, der
34
in Revolutionsphase in Opposition zu Kutschma stehende, am 26. Dezember 2004 für
vier Jahre gewählte Präsident Juschtschenko, zu einem Kompromiss mit der jüngst
bisherigen Opposition gezwungen war bzw. ist. Als Nutznießer der Spannungen im
"orangenen" Lager ist ein Repräsentant des alten Regimes, Viktor Janukowytsch (Partei
der Regionen), im August 2006 Ministerpräsident geworden. Dieser repräsentiert nach
der jüngsten Parlamentswahl mit seiner Partei allerdings lediglich 32,1 % der
Wählerschaft. Er findet sich mit einem Wahlergebnis von 13,9 % für das
präsidentennahe Wahlbündnis Nascha Ukraina (Unsere Ukraine) und von 22,3 % für
den Block Julia Timoschenko (BJUT) konfrontiert. Die zähen Koalitionsverhandlungen
dauern an. Fest steht, dass, wie auch immer sich das Ergebnis gestalten wird, keine
Regierung ohne Beteiligung des "orangenen" Lagers möglich ist. Die Partei der
Regionen, die Sozialisten und die Kommunisten sind auf eine Koalition mit dem pro-
präsidialen Lager angewiesen, vgl. zu Vorstehendem: Juri Durkot, Ukraine: die
durchwachsene Bilanz für "Orange", KAS-AI 12/05; Wachsmuth/Drewelowsky,
Parlamentswahl 2006 in der Ukraine, KAS-AI 6/06, Nowosti, 25. September 2006,
Janukowitsch: "Koalitionsverhandlungen sollten zeitlich beschränkt werden", 30. August
2006, Ukrainischer Justizminister sagt Bildung neuer Parlamentskoalition voraus.
Allerdings kann von durchgängig stabilen Verhältnissen in der Ukraine noch nicht
gesprochen werden kann. Anspruch und Wirklichkeit liegen in manchen Bereichen noch
weit auseinander. Nach der Erkenntnislage sind in der Ukraine Korruption und
Amtsmissbrauch erheblich angestiegen und dauerten auch nach der Revolution noch
an, so dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Unvoreingenommenheit staatlicher
Stellen gering ist. Die Lageberichte des Auswärtigen Amtes über die asyl- und
abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine, zuletzt vom 19. März 2003, allerdings
tendenziell und teilweise aufgrund des zwischenzeitlich fortgeschrittenen
Demokratisierungsprozess zu relativieren, kennzeichnen den Staat einerseits seit
Jahren als demokratisch und freiheitlich mit einer stabilen rechtsstaatlichen Verfassung,
die unabhängige Gerichte und Schutz vor staatlichen und nicht staatlichen Willkürakten
garantiere. Die Lageberichte verschweigen andererseits nicht, dass in der Ukraine alte
Strukturen im Bereich der Sicherheitsdienste noch nicht überwunden sind und die
Arbeitsweise der Sicherheitsbehörden noch immer im Wesentlichen traditionellen
Mustern folgt. So nehmen Miliz, Strafverfolgungsbehörden und Sicherheitsdienste der
Ukraine mit teilweise überlappenden Kompetenzen Aufgaben im Bereich der
Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung wahr. Eine klare Trennung polizeilicher und
geheimdienstlicher Tätigkeit findet - nach wie vor - nicht statt. Solche rechtsstaatlichen
Defizite erleichtern das Erwerbsstreben mafioso-korrumpierter Teile des
Staatsapparates sowie deren Versuche, "politische Störfaktoren" einzuschüchtern oder
kalt zu stellen. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen versucht der
Ukrainische Staat jedoch im Rahmen seiner Möglichkeiten, diesen Missständen
entgegenzuwirken. Das gilt auch noch nach dem jüngsten Lagebericht vom 19. März
2003, der nicht verhehlt, dass die Verwirklichung der Grundrechte und -freiheiten, des
Programms der Reformen sowie die Durchdringung der Gesellschaft mit bürgerlichem
Rechtsbewusstsein insgesamt deutlich hinter den Erwartungen zurück bleiben. Das
sowjetische Erbe und eine schlechte wirtschaftlich-soziale Ausgangsposition lassen bis
auf weiteres keine schnellen und umfassenden, sondern nur allmähliche
Veränderungen und Verbesserungen zu. Daher sieht unter der Oberfläche eines
umfassenden rechtlichen Schutzes der Menschenrechte die Wirklichkeit erheblich
düsterer aus. Gleichwohl bemüht sich der ukrainische Staat um die Steigerung der
Effizienz im Bereich der Strafverfolgung und Durchsetzung der Menschenrechte, was
durch das im September 2001 in Kraft getretene reformierte Strafgesetzbuch
35
dokumentiert wird, vgl. zu den inzwischen eingetretenen Fortschritten auch den EU-
Jahresbericht 2005 zur Menschenrechtslage vom 28. September 2005 - Rat der
Europäischen Union, 12416/05 -.
Für die Bereiche des Sicherheitsapparats und der Justiz stellt sich die Lage hinsichtlich
der Umsetzung der artikulierten politischen Ziele allerdings wenig hoffnungsvoll dar. In
allen menschenrechtsrelevanten Bereichen bestehen Mängel. Insbesondere aus dem
Polizeigewahrsam und den Haftanstalten wird über massive
Menschenrechtsverletzungen, mitunter über Zustände berichtet, die der Folter
gleichkommen, mitunter auch über Tötungsfälle (im Polizeigewahrsam). Dabei bestehen
Defizite besonders bei den Rechten der staatlichen Sonderverhältnissen unterworfenen
Personen wie etwa Militärangehörigen. Die Exekutive akzeptiert häufig die
Gewaltenteilung nicht und nimmt Einfluss auf richterliche Entscheidungen. Eine
chronische Unterfinanzierung der Justiz fördert Bestechlichkeit der schlecht bezahlten
Richter. Ältere, noch in der Sowjetunion beruflich sozialisierte Richter treffen
Entscheidungen vielfach im vertraulichen Zusammenwirken mit der Exekutive. Die
Justizgrundrechte sind nicht gewährleistet. Die Haftbedingungen sind bedrückend und
menschenunwürdig. Die Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis entsprechen
grundsätzlich noch nicht westeuropäischen Standards,
36
Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19. März 2003.
37
Das Gericht hat sich um eine neuere Einschätzung des Auswärtigen Amts bemüht und
dort unter dem 19. Januar 2004 angefragt, ob es Erkenntnisse dazu gibt, dass ein
Militärangehöriger des ukrainischen Zentrums für Verifikationsaufgaben wegen des
bloßen Verdachts, bei Wahrnehmung dienstlicher Aufgaben im westlichen Ausland in
Kontakt mit einem CIA-Angehörigen gekommen zu sein und dabei
geheimhaltungsbedürftige Daten preisgegeben zu haben, mit Entfernung aus dem
Dienst und einem Strafverfahren ohne Chance auf einen fairen Prozess zu rechnen hat.
Das Auswärtige Amt hat diese ausdrückliche Frage in seinen Antworten vom 7. April
2004 und vom 18. Juni 2004 weder verneint noch bejaht, sondern nicht behandelt.
38
Das die den Strafverfolgungs-, Justiz- und Strafvollstreckungsbereich betreffenden
Einschätzungen des Auswärtigen Amtes in seinem Lagebericht vom 19. März 2003
noch nicht überholt sind, ergibt sich aber aus anderen Quellen.
39
Nach dem amnesty-journal November 2005
40
sind Folter und Misshandlungen auf Polizeirevieren nach wie vor alltäglich. Die
Umsetzung der von Präsident Juschtschenko versprochenen Verbesserungen, zugleich
Schlüsselkriterien für eine EU-Mitgliedschaft, sind äußerst mangelhaft. Nach wie vor
versuchen Strafverfolgungsorgane, mit Gewalt Geständnisse zu erzwingen.
41
Dieses Bild zeichnen auch US-amerikanische Quellen. Danach hat die ukrainische
Regierung zwar den Willen zu Verbesserungen artikuliert, in der Praxis allerdings ist die
Rechtsprechung nach wie vor Pressionen, d. h. Beeinflussungen der Exekutive
ausgesetzt. Vielfach erheben ukrainische Richter auch gar nicht den Anspruch,
unabhängig zu entscheiden, sondern erkundigten sich telefonisch nach dem von der
Exekutive gewünschten Urteil. Auch ist die Justiz von Korruption gekennzeichnet. Das
Recht auf ein faires Verfahren ist nicht gewährleistet, auch deshalb, weil ein
funktionierendes nach-sowjetisches Gerichtssystem noch nicht vorliegt. Es wird auch
42
berichtet, dass Untersuchungs- und Strafgefangenen vielfach ein Kontakt zu
Verteidigern verweigert wird,
Country Report on Human Rights Practices 2005 des U. S. Department of State vom 8.
März 2006.
43
Die Probleme der Folter und sonstiger Menschenrechtsverletzungen dauern an. Es
besteht für Personen, die in den Fokus der Sicherheitsorgane geraten, ein hohes Risiko,
bei den "Ermittlungen" durch Misshandlungen schweren Schaden zu nehmen,
44
Bericht (Country Summary) von Human Rights Watch vom Januar 2006 über die
Ukraine.
45
Die Justizstrukturen haben die Justiz in Misskredit gebracht. Der Grundsatz des fairen
Verfahrens sei unterminiert. Die Richterschaft sei nicht unabhängig und respektiere
elementare rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze nicht,
46
Dominique Arel, Lehrstuhl für ukrainische Studien an der Universität Ottawa, Freedom-
House-Bericht (Country Report) Ukraine 2006.
47
Aufgrund dieser Lage geht das Gericht davon aus, dass der Kläger im Fall einer
Rückkehr in die Ukraine mit höchster Wahrscheinlichkeit keine realistische Chance auf
ein rechtsstaatliches Verfahren hätte. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass der Kläger
als Verifikationsoffizier eine erheblich herausgehobene Position innehatte und sein Fall
mit hoher Wahrscheinlichkeit schon deshalb große Beachtung gefunden hat. Es ist nicht
davon auszugehen, dass der Fall in der Ukraine mit den Jahren in Vergessenheit
geraten ist. Vielmehr würde man sich im Fall einer Rückkehr mit Sicherheit seiner
erinnern. Es ist ernstlich zu befürchten, dass er angesichts der ihm schon vor seiner
Ausreise zuteil gewordenen Vorverurteilung durch die militärischen
Untersuchungsführer und angesichts der Schwere des ihm vorgeworfenen Delikt des
Geheimnisverrats ohne eine Möglichkeit der Verteidigung dem ukrainischen, oben
beschriebenen "Ermittlungsapparat" mit der Gefahr von Menschenrechtsverletzungen
unterworfen ist und sodann unschuldig langjährig in Haft gerät, die ihrerseits
Menschenrechtsstandards vielfach nicht gerecht wird. Das hierfür bestehende Risiko im
Sinne des o. g. Urteils des EGMR vom 7. Juli 1989 ist in diesem besonderen,
hervorgehobenen Fall als hoch einzuschätzen. Ebenso ist aus den genannten Gründen
mit hoher Sicherheit zu erwarten, dass gerade der Kläger von schweren und
irreparablen Misshandlungen bedroht und effektiver Rechtsschutz nicht oder nicht
rechtzeitig zu erreichen ist. Für letzteres sprechen die o. a. Quellen, wonach die
rechtsstaatlichen, durch Art. 6 EMRK garantierten Verfahrensgrundsätze missachtet
werden. Zusammengefasst: Die tendenziell für jeden, der zum Objekt von Polizei- und
Justizmaßnahmen wird, gegebene Gefahr der Nichtbeachtung eines fairen Verfahrens,
schlägt im besonderen, hervorgehobenen Fall des Klägers aufgrund seiner
Vorgeschichte in eine mit hoher Sicherheit eintretende Gefahr um. Aus den
vorstehenden Gründen ist die im Bescheid des Bundesamtes enthaltene
Abschiebungsandrohung als rechtswidrig aufzuheben. Sie genügt den Anforderungen
der §§ 34, 38 Absatz 1 AsylVfG, 50 AufenthG und verletzt den Kläger nicht in seinen
Rechten.
48
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155 Abs. 1 und 2 VwGO i. V. m. § 100 Abs. 1
ZPO und § 83 b Abs. 1 AsylVfG.
49
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708
Nr. 11, 711 ZPO.
50
Hinsichtlich des Gegenstandswertes weist das Gericht auf § 30 des
Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG) hin.
51