Urteil des VerfG Nordrhein-Westfalen vom 11.12.2007

VerfG Nordrhein-Westfalen: einheit, fonds, deutsche demokratische republik, verfassungsbeschwerde, verzicht, finanzielle beteiligung, gestaltungsspielraum, finanzausgleich, gleichbehandlungsgebot

Verfassungsgerichtshof NRW, VerfGH 10/06
Datum:
11.12.2007
Gericht:
Verfassungsgerichtshof NRW
Spruchkörper:
Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein- Westfalen
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
VerfGH 10/06
Tenor:
Die Verfassungsbeschwerde wird mit der Maßgabe zurückgewiesen,
dass der Landesgesetzgeber die Überzahlung des kommunalen
Beitrags zu den Lasten der Deutschen Einheit im Haushaltsjahr 2006
alsbald, spätestens im Haushaltsjahr 2008 unter Berücksichtigung der
bundesrechtlich vorgegebenen Obergrenze einer kommunalen
Finanzierungsbeteiligung an den Lasten der Deutschen Einheit in Höhe
von rund 40 v.H. auszugleichen hat.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat den Beschwerdeführerinnen die
Hälfte der durch das Verfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu
erstatten.
G r ü n d e :
1
A.
2
Die Beschwerdeführerinnen, kreisfreie Städte sowie kreisangehörige Städte und
Gemeinden, wenden sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die Ausgestaltung
des vertikalen und horizontalen kommunalen Finanzausgleichs im
Gemeindefinanzierungsgesetz NRW 2006, soweit hiernach - anders als in früheren
Gemeindefinanzierungsgesetzen - in Bezug auf die Beteiligung der Kommunen an den
finanziellen Lasten der Deutschen Einheit eine "Spitzabrechnung" nicht vorgesehen ist.
3
I.
4
1. a) Mit dem "Gesetz zu dem Vertrag vom 18. Mai 1990 über die Schaffung einer
Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der Deutschen Demokratischen Republik" vom 25. Juni 1990 (BGBl. II S. 518)
wurde der Fonds "Deutsche Einheit" als Sondervermögen des Bundes errichtet. Er
diente als Finanzierungsinstrument zur Leistung finanzieller Hilfen an die Deutsche
Demokratische Republik und später an das Beitrittsgebiet. Der Fonds finanzierte sich
überwiegend über die Aufnahme von Krediten. Zur Abdeckung seiner
Schuldendienstverpflichtungen erhielt er Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt, die dem
5
Bund in Höhe von 50 v.H. von den alten Bundesländern zu erstatten waren (vgl. Art. 31
des Gesetzes). Die Länder traten dazu aus ihrem Anteil an der Umsatzsteuer nach Art.
106 Abs. 3 GG jährlich entsprechende Beträge an den Bund ab (Art. 32 zu § 1 Abs. 2
des Finanzausgleichsgesetzes - FAG - a.F.). An den Länderbeiträgen waren die
Gemeinden mit bundesdurchschnittlich rund 40 v.H. zu beteiligen (Art. 33 zu § 6 Abs. 2
a des Gesetzes zur Neuordnung der Gemeindefinanzen - Gemeindefinanzreformgesetz
[GFRG] - a.F.). Die kommunale Beteiligungsquote beruhte auf einer Abstimmung der
Länder und orientierte sich am Verhältnis der Steuereinnahmen der Länder und der
Gemeinden einschließlich der im Rahmen der kommunalen Finanzausgleiche
bewirkten Beteiligungen der Gemeinden am Steueraufkommen der Länder (vgl.
Bundestag - BT-Drs. 11/7350, S. 51; Bundesrat - BR-Drs. 350/90, S. 151). Die
Gemeinden erbrachten ihren Finanzierungsbeitrag über eine Erhöhung der
Gewerbesteuerumlage gemäß § 6 Abs. 2 a GFRG a.F. (nunmehr § 6 Abs. 5 GFRG)
sowie über Mindereinnahmen aus ihrer Beteiligung am Umsatzsteueraufkommen der
Länder nach Art. 106 Abs. 7 Satz 1 GG, die auf der Herabsetzung des
Umsatzsteueranteils der Länder beruhten (vgl. dazu Art. 31 des Gesetzes; BR-Drs.
350/90, a.a.O.).
b) Durch das "Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms -
FKPG" vom 23. Juni 1993 (BGBl. I S. 944; sog. Solidarpakt I) wurden die neuen Länder
mit Wirkung ab 1995 in den bundesstaatlichen Finanzausgleich einbezogen. Der Fonds
"Deutsche Einheit" diente nunmehr allein der Abfinanzierung der aufgenommenen
Kredite. Die Länder erstatteten dem Bund 50 v.H. des jährlichen Schuldendienstes
zuzüglich eines jährlichen Betrags von 2,1 Mrd. DM (Art. 33 FKPG zu § 1 Abs. 2 FAG
a.F.; Art. 36 FKPG zu § 6 Abs. 5 des Gesetzes über die Errichtung eines Fonds
"Deutsche Einheit" a.F.). An den finanziellen Belastungen, die den alten Ländern aus
der Neuordnung des Länderfinanzausgleichs sowie der Abfinanzierung des Fonds
"Deutsche Einheit" entstanden, waren die Gemeinden in Höhe von
bundesdurchschnittlich rund 40 v.H. beteiligt. § 6 Abs. 5 Satz 2 GFRG a.F. lautet: Die
Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des
Bundesrates die Erhöhungszahl jährlich so festzusetzen, dass das Mehraufkommen der
Umlage 50 vom Hundert der Finanzierungs- beteiligung der Gemeinden in Höhe von
bundesdurchschnittlich rund 40 vom Hundert der nach Satz 1 zu erbringenden
Länderleistungen entspricht.
6
In der Begründung zu § 6 Abs. 3 GFRG a.F., BT-Drs. 12/4801, S. 179 heißt es: Die
Gemeinden der alten Länder sollen nach gemeinsamer Auffassung dieser Länder mit
bundesdurchschnittlich 40 % an den Belastungen, die den alten Ländern aus der
Neuordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs entstehen, beteiligt werden.
7
Dazu wurde die Gewerbesteuerumlage nach § 6 Abs. 3 GFRG a.F. mittels Einführung
eines Landesvervielfältigers weiter erhöht: Der Vervielfältiger ist die Summe eines
Bundes- und Landesvervielfältigers für das jeweilige Land. Der Bundesvervielfältiger
beträgt 19 vom Hundert. Der Landesvervielfältiger für die Länder Brandenburg,
Mecklenburg-Vor- pommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen beträgt 19 vom
Hun- dert. Der Landesvervielfältiger für die übrigen Länder beträgt 48 vom Hun- dert. ...
8
c) Im Zuge des "Gesetzes zur Fortführung des Solidarpaktes, zur Neuordnung des
bundesstaatlichen Finanzausgleichs und zur Abwicklung des Fonds 'Deutsche Einheit'
(Solidarpaktfortführungsgesetz - SFG)" vom 20. Dezember 2001 (BGBl. I S. 3955; sog.
Solidarpakt II) ist die Abfinanzierung des Fonds "Deutsche Einheit" für die Zeit ab 1.
9
Januar 2005 bis zu seiner Auflösung am 31. Dezember 2019 neu gestaltet worden. Mit
Wirkung ab 1. Januar 2005 hat der Bund die Verbindlichkeiten des Fonds übernommen
(Art. 8 SFG zu § 6 a des Gesetzes über die Errichtung eines Fonds "Deutsche Einheit").
Zum Ausgleich der Belastungen durch Zins- und Tilgungsverpflichtungen erhält der
Bund jährlich unter anderem einen Festbetrag an der Umsatzsteuer in Höhe von
1,322712 Mrd. EUR (Art. 5 SFG zu § 1 Satz 3 FAG a.F.). Die Höhe der fortwirkenden
Belastung, die den Ländern im Zusammenhang mit der Neuregelung der
Fondsfinanzierung ab 2005 verbleibt, ist in § 6 Abs. 5 Satz 2 GFRG mit jährlich
2,582024 Mrd. EUR angegeben.
Nach Maßgabe von § 6 Abs. 3 und Abs. 5 GFRG in der ab 1. Januar 2005 gültigen
Fassung (BGBl. 2001 I S. 3955, 3960, 3963) werden die Kommunen an den finanziellen
Lasten der Deutschen Einheit weiterhin über eine Erhöhung der Gewerbesteuerumlage
beteiligt. Die Umlage wird in der Weise ermittelt, dass das Ist- Aufkommen der
Gewerbesteuer im Erhebungsjahr durch den von der jeweiligen Gemeinde für dieses
Jahr festgesetzten Hebesatz der Steuer geteilt und mit einem Vervielfältiger multipliziert
wird (§ 6 Abs. 2 Satz 1 GFRG). Der Vervielfältiger ist die Summe eines Bundes- und
Landesvervielfältigers für das betreffende Bundesland (vgl. § 6 Abs. 3 GFRG). Zur
Kompensation der mit der Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs
verbundenen fortwirkenden Belastungen der alten Länder ist der Landesvervielfältiger
für diese Länder bis einschließlich zum Jahr 2019 um 29 v.H. zu erhöhen (§ 6 Abs. 3
Sätze 4 und 5 GFRG). Zur Mitfinanzierung der Belastungen, die den Ländern im
Zusammenhang mit der Abfinanzierung des Fonds "Deutsche Einheit" ab dem Jahr
2005 verbleiben, wird der Landesvervielfältiger für die alten Bundesländer um eine
weitere Erhöhungszahl angehoben (§ 6 Abs. 5 Satz 1 GFRG). Die Erhöhungszahl ist
durch Rechtsverordnung des Bundesministeriums der Finanzen jährlich so
festzusetzen, dass das Mehraufkommen der Umlage 50 v.H. der
Finanzierungsbeteiligung der Gemeinden in Höhe von bundesdurchschnittlich rund 40
v.H. des Betrags von 2,582024 Mrd. EUR entspricht (§ 6 Abs. 5 Satz 5 GFRG). Im Jahr
2006 belief sich die Erhöhungszahl auf 7 Prozentpunkte (BR-Drs. 638/05).
Abschließend bestimmt § 6 Abs. 5 Satz 9 GFRG:
10
Die Feinabstimmung der Finanzierungsbeteiligung der Gemeinden bis zur Höhe ihres
jeweiligen Anteils an den Gesamtsteuereinnahmen - einschließlich der Zuweisungen im
Rahmen der Steuerverbünde - in den einzelnen Ländern bleibt der
Landesgesetzgebung vorbehalten.
11
Für die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage nach § 6 Abs. 3 Sätze 4 und 5 GFRG gilt
diese Regelung entsprechend (§ 6 Abs. 3 Satz 6 GFRG).
12
2. Die Gemeinden und Gemeindeverbände in Nordrhein-Westfalen erhalten vom Land
im Wege des kommunalen Finanzausgleichs nach den Regelungen der jährlich neu
erlassenen Gemeindefinanzierungsgesetze allgemeine und zweckgebundene
Zuweisungen, die zur Ergänzung ihrer eigenen Einnahmen bestimmt sind. Für das
Haushaltsjahr 2006 stellte das Land dafür einen seit dem Haushaltsjahr 1986
unveränderten Prozentsatz von 23 v.H. (Verbundsatz) seines Anteils an der
Einkommensteuer, der Körperschaftsteuer und der Umsatzsteuer (Gemeinschaftsteuern)
sowie der eigenen Einnahmen aus der Grunderwerbsteuer zur Verfügung (§ 4 Abs. 1
GFG 2006 - sog. Verbundbetrag). Einzelheiten der Ermittlung des Verbundbetrags sind
in § 4 Abs. 2 bis 6 GFG 2006 geregelt. § 4 Abs. 2 Satz 2 Ziffer 1 und 3 GFG 2006 lauten:
13
Dabei wird
14
1. das ermittelte Ist-Aufkommen der Gemeinschaftsteuern insgesamt um die Einnahmen
oder Ausgaben des Landes im Länderfinanzausgleich im Verbundzeitraum erhöht oder
vermindert;
15
...
16
3. das ermittelte Ist-Aufkommen der Umsatzsteuer um den interkommunalen
Entlastungsausgleich zugunsten der Kommunen der neuen Länder im Zusammenhang
mit der Umsetzung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
vom 24. Dezember 2003 (BGBl. I. S. 2954) im Verbundzeitraum erhöht.
17
Danach wurden für das Haushaltsjahr 2006 eine Minderung des Verbundbetrags um
540,755 Mio. EUR (Länderfinanzausgleich) und eine Erhöhung um 165 Mio. EUR
(Kommunaler Entlastungsausgleich Ost) eingestellt (Anlage 1 zu § 4 Abs. 6 GFG 2006).
18
In die Festsetzung des Verbundsatzes eingeflossen ist eine für 2006 prognostizierte
Überzahlung des von den Kommunen zu tragenden Anteils an den einheitsbedingten
Lasten, die mit 200 Mio. EUR angesetzt wurde. Der Ansatz beruht auf einer
Modellrechnung auf der Basis der Finanzplanung des Landes 2005 bis 2009 (mit
Finanzbericht 2006). Dabei wurde ausgehend von dem (geschätzten) Beitrag des
Landes zu den Einheitslasten in 2006 (1,4 Mrd. EUR) der anteilig von den Kommunen
zu erbringende Solidarbeitrag errechnet (627,2 Mio. EUR) und diesem Betrag der von
den Kommunen (geschätzte) tatsächlich geleistete Beitrag (806 Mio. EUR)
gegenübergestellt. Einen gesonderten interkommunalen Ausgleich der
einheitsbedingten Lasten, wie er in den Vorjahren nach Maßgabe des jährlichen
Solidarbeitragsgesetzes erfolgte, sieht das Gemeindefinanzierungsgesetz 2006 nicht
vor. In der Gesetzesbegründung wird hierzu ausgeführt: Die Spitzabrechnung der
kommunalen Solidarbeitragsbeteiligung werde aufgegeben. Wegen der Veränderungen
im Länderfinanzausgleich und beim Fonds "Deutsche Einheit" ab 1995, insbesondere
aber ab 2005 würden in den Rechnungen größere Unsicherheiten verbleiben. Die
Berechnungen verursachten inzwischen auch einen hohen Aufwand. Durch die
Systemumstellung werde eine erhebliche Vereinfachung erzielt. Bei der Festsetzung
des Verbundsatzes seien die mit dem Gemeindefinanzierungsgesetz 2006 eingeleiteten
strukturellen Veränderungen im kommunalen Finanzausgleich berücksichtigt worden
(Landtag - LT - NRW-Drs. 14/1102, S. 40, 44).
19
II.
20
1. Mit ihrer am 31. Juli 2006 erhobenen Verfassungsbeschwerde machen die
Beschwerdeführerinnen zu 1. bis 20. geltend, die mit dem
Gemeindefinanzierungsgesetz 2006 vorgenommene Systemumstellung bei der
kommunalen Beteiligung an den finanziellen Lasten der Deutschen Einheit verletze die
Vorschriften der Landesverfassung (LV) über das Recht der gemeindlichen
Selbstverwaltung. Die Beschwerdeführerin zu 21. hat am 12. Februar 2007 angezeigt,
der Verfassungsbeschwerde beizutreten.
21
Die Beschwerdeführerinnen beantragen
22
festzustellen, dass das Gesetz zur Regelung der Zuweisungen des Landes Nordrhein-
23
Westfalen an die Gemeinden und Gemeindeverbände im Haushaltsjahr 2006
(Gemeindefinanzierungsgesetz - GFG 2006) vom 23. Mai 2006 (GVBl. 2006, S. 184 ff.)
mit dem Recht der Beschwerdeführerinnen auf Selbstverwaltung aus Art. 78 Abs. 1, 79
Satz 2 LV insoweit unvereinbar und nichtig ist, als
eine Erstattung von Überzahlungen der finanziellen Beteiligung der Kommunen am
Solidarbeitrag des Landes NRW an den Lasten der Deutschen Einheit im Haushaltsjahr
2006 (sog. vertikaler Spitzausgleich) nicht erfolgt,
24
ein interkommunaler Ausgleich der finanziellen Beteiligung der Kommunen am
Solidarbeitrag des Landes NRW an den Lasten der Deutschen Einheit im Haushaltsjahr
2006 (sog. horizontaler Spitzausgleich) nicht stattfindet,
25
durch § 4 Abs. 2 Satz 2 Ziffer 3 i.V.m. Anlage 1 zu § 4 Abs. 6 GFG 2006 das ermittelte
Ist-Aufkommen der Umsatzsteuer im Hinblick auf die Berechnung der
Verbundgrundlage um den interkommunalen Entlastungsausgleich zugunsten der
Kommunen der neuen Länder im Zusammenhang mit der Umsetzung des Vierten
Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt lediglich um EUR 165 Mio. und
nicht um EUR 220 Mio. erhöht wird.
26
Ergänzend hierzu haben sie erstmals in der mündlichen Verhandlung beantragt
27
festzustellen, dass das genannte Gesetz insoweit unvereinbar bzw. nichtig ist, als der
Abzug der Zahlungen in den Länderfinanzausgleich gemäß § 4 Abs. 2 Ziffer 1 GFG von
den Verbundgrundlagen abgezogen (gemeint: vorgenommen) wird.
28
Sie machen geltend:
29
Das Gemeindefinanzierungsgesetz 2006 verletze das Selbstverwaltungsrecht der
Beschwerdeführerinnen unter mehreren Gesichtspunkten.
30
a) Die Abschaffung der vertikalen Spitzabrechnung verletze den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit. Die von den nordrhein-westfälischen Kommunen geleistete
Überzahlung ihres Solidarbeitrags zu den finanziellen Belastungen der Deutschen
Einheit belaufe sich für 2006 auf ca. 650 Mio. EUR, die durch die pauschale Zuführung
eines Betrags in Höhe von 200 Mio. EUR im Rahmen der Festsetzung des
Verbundsatzes nicht im Ansatz ausgeglichen werde. Die signifikante Überzahlung in
Höhe von ca. 450 Mio. EUR habe zur Folge, dass der Beitrag Nordrhein-Westfalens
zum Aufbau Ost allein von den Gemeinden getragen werde und sich das Land seiner
Verpflichtung zur Beteiligung an den Einheitslasten entziehe. Es gebe auch keinen
einleuchtenden Grund für die Systemumstellung. Die vom Land zu tragenden
Einheitslasten ließen sich weiterhin beziffern. Eine merkliche
Verwaltungsvereinfachung sei mit dem Systemwechsel nicht verbunden.
31
b) Die Aufgabe der vertikalen Spitzabrechnung verstoße zudem gegen § 6 Abs. 3, Abs.
5 GFRG. Die Regelungen seien als Prüfungsmaßstab heranzuziehen, weil sie ihrem
Inhalt nach das landesverfassungsrechtliche Bild der Selbstverwaltung mitbestimmten.
Art. 78 Abs. 1 und 2 LV garantierten den Gemeinden gerade auch das an Finanzmitteln,
was ihnen bundesrechtlich zugewiesen sei. Gemäß § 6 Abs. 3 Satz 6, Abs. 5 Satz 9
GFRG dürfe die finanzielle Beteiligung der Kommunen an den Einheitslasten nicht über
die Quote hinausgehen, die ihrem Anteil an den Gesamtsteuereinnahmen des Landes
32
entspreche. Die zur Einhaltung dieser Obergrenze vorzunehmende Feinabstimmung sei
mit dem Gemeindefinanzierungsgesetz 2006 nicht erfolgt.
c) Die Regelung in § 4 Abs. 2 Satz 2 Ziffer 1 GFG 2006 stehe in Widerspruch zu Art. 106
Abs. 7 Satz 1 GG, der hier ebenfalls zulässiger Prüfungsmaßstab sei. Mit der Minderung
der Gemeinschaftsteuern um die Zahllast des Landes im Länderfinanzausgleich würden
die Kommunen nicht im Sinne von Art. 106 Abs. 7 Satz 1 GG prozentual an den
Gemeinschaftsteuern beteiligt.
33
d) Der Verzicht auf eine horizontale Spitzabrechnung verstoße gegen das
interkommunale Gleichbehandlungsgebot. Die Beteiligung an den einheitsbedingten
Lasten werde deutlich überproportional den gewerbesteuerstarken Gemeinden
auferlegt, während etwa die einkommensteuerstarken Kommunen geschont würden. Die
Folge sei, dass finanzkraftähnliche Kommunen in unterschiedlicher Höhe zu den
Einheitslasten herangezogen würden. Im Verhältnis einer Vielzahl von Kommunen
komme es aufgrund des Wegfalls des horizontalen Spitzausgleichs gar zu einer
Übernivellierung. Zum Beleg verweisen die Beschwerdeführerinnen auf ein von ihnen
vorgelegtes finanzwissenschaftliches Gutachten von Junkernheinrich/Micosatt vom April
2007.
34
e) Die Aufgabe der horizontalen Spitzabrechnung verletze ferner den
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Entgegen der Annahme des Landesgesetzgebers fehle
es nicht an einer hinreichend verlässlichen Datenbasis zur Ermittlung der
interkommunalen Ausgleichsbeträge. Auch sonst gebe es keinen sachlichen Grund für
die Umstellung des bisherigen, über einen langen Zeitraum praktizierten
Ausgleichssystems, wonach jede Gemeinde einen ihrer Finanzkraft entsprechenden
Anteil am Solidarbeitrag erbracht hätte.
35
2. Der Landtag hat von einer Stellungnahme abgesehen.
36
3. Die Landesregierung hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Sie trägt im
Wesentlichen vor:
37
a) Art. 106 Abs. 7 Satz 1 GG sowie § 6 Abs. 3 Satz 6, Abs. 5 Satz 9 GFRG schieden als
Prüfungsmaßstab aus. Allein Bestimmungen der Landesverfassung seien geeignet, das
verfassungsrechtliche Bild der kommunalen Selbstverwaltung mitzubestimmen.
Abgesehen davon belasse Art. 106 GG dem Landesgesetzgeber einen weiten
Spielraum und setze keine über Art. 78, 79 LV hinausreichenden Maßgaben. Nichts
anderes gelte für die Regelung in § 6 Abs. 3 Satz 6, Abs. 5 Satz 9 GFRG, aus der sich
eine Verpflichtung zu einem vertikalen Spitzausgleich nicht ableiten lasse.
38
b) Hinsichtlich des vertikalen kommunalen Finanzausgleichs habe der
Landesgesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum. Sofern die den Gemeinden
insgesamt zur Verfügung gestellte Finanzmasse nicht in dem Sinne unzureichend sei,
dass eine sinnvolle Ausübung der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie nicht mehr
möglich sei, komme eine Verletzung von Art. 78, 79 LV nach der ständigen
Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs nicht in Betracht. Für eine in diesem
Sinne unzureichende Finanzausstattung sei hier nichts ersichtlich.
39
c) Darüber hinaus sei der Verzicht auf eine vertikale Spitzabrechnung sachgerecht.
Angesichts der Übernahme der Abfinanzierung des Fonds "Deutsche Einheit" durch
40
den Bund ab 2005 lasse sich die Beteiligung des Landes an den Lasten des Fonds
nicht mehr wie bisher bestimmen. Es wären komplizierte Vergleichsberechnungen im
Rahmen des bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems erforderlich, die mit einem
vertretbaren Aufwand und der Gewähr eines validen Ergebnisses nicht zu leisten seien.
Im Hinblick auf die Finanzlasten des Landes aus dem Länderfinanzausgleich sei zu
berücksichtigen, dass Nordrhein-Westfalen ohne die Einbeziehung der neuen Länder
Empfängerland wäre. Es sei daher gerechtfertigt, die reinen Zahlungen im
Länderfinanzausgleich nicht mehr als Bemessungsgrundlage für die kommunale
Beteiligung an den Einheitslasten heranzuziehen. Um die Kommunen in Bezug auf die
Systemumstellung im Gemeindefinanzierungsgesetz 2006 finanzneutral zu stellen, sei
modellhaft nach dem bisherigen System auf der Basis der maßgeblichen
Steuerschätzung eine kommunale Überzahlung in Höhe von 200 Mio. EUR ermittelt und
bei der Festsetzung des Verbundsatzes berücksichtigt worden. Eine rückwirkende
Korrektur dieses prognostizierten Ausgleichsbetrags sei nicht vorgesehen. Auf ein
erhebliches Auseinanderfallen von Prognose und tatsächlicher Entwicklung würdeem
mit entsprechenden Anpassungen in den Berechnungsmodellen der Folgejahre
reagiert.
d) Die Abschaffung der horizontalen Spitzabrechnung verstoße nicht gegen das
interkommunale Gleichbehandlungsgebot. Es sei sachgerecht und vom
Gestaltungsspielraum des Finanzausgleichsgesetzgebers gedeckt, die
gewerbesteuerstärkeren und damit regelmäßig zugleich finanzstärkeren Gemeinden an
den Kosten der Deutschen Einheit stärker zu beteiligen als die
gewerbesteuerschwächeren Gemeinden. Dass im Einzelfall auch weniger
gewerbesteuerstarke Gemeinden auf Grund des Aufkommens aus anderen Steuerarten
ähnlich finanzkräftig sein könnten wie gewerbesteuerstarke Gemeinden, dürfe der
Gesetzgeber angesichts seiner Befugnis zu Typisierung und Generalisierung
vernachlässigen. Eine unzulässige Nivellierung oder gar Übernivellierung finde nicht
statt.
41
e) Die von den Beschwerdeführerinnen beanstandete Erhöhung des Ist- Aufkommens
der Umsatzsteuer nach § 4 Abs. 2 Satz 2 Ziffer 3 GFG 2006 begründe gleichfalls keine
Verletzung von Art. 78, 79 LV. Anhaltspunkte für eine unangemessene
Finanzausstattung der Kommunen ergäben sich aus dem geltend gemachten
Minderbetrag nicht. Im Übrigen sei der angesetzte Betrag systemkonform. Die
Beschwerdeführerinnen übersähen, dass die Umsatzsteuerminderung in Höhe von
jährlich 220 Mio. EUR im Zeitraum 2005 bis 2009 auch noch in den Steuerverbünden für
die Haushaltsjahre 2010 und (anteilig) 2011 zu den Verbundgrundlagen hinzugerechnet
werde und letztlich zu einem finanziellen Vorteil der Kommunen führe.
42
B.
43
Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie die bereits schriftsätzlich gestellten Anträge
betrifft, zulässig.
44
Sie ist gemäß Art. 75 Nr. 4 LV, § 52 Abs. 1 des Verfassungsgerichtshofgesetzes
(VerfGHG) statthaft und wirksam erhoben worden. Soweit einige der ursprünglich
vorgelegten Prozessvollmachten Zweifel wecken, ob sie von einem
Vertretungsberechtigten (§§ 63 Abs. 1 Satz 1, 68 der Gemeindeordnung für das Land
Nordrhein-Westfalen) unterzeichnet sind, sind die Bedenken mit den nachgereichten
Vollmachtsurkunden ausgeräumt worden.
45
Die Verfassungsbeschwerde ist rechtzeitig innerhalb der in § 52 Abs. 2 VerfGHG
bestimmten Frist von einem Jahr eingelegt worden. Dies gilt auch für die
Beschwerdeführerin zu 21. Treten die zur Überprüfung gestellten Rechtsvorschriften
rückwirkend in Kraft, beginnt die Jahresfrist erst mit dem Zeitpunkt der Verkündung
(VerfGH NRW, OVGE 11, 149, Ls. 7, unter Bezugnahme auf BVerfGE 1, 415 ff.
; OVGE 43, 252 = juris, Rn. 16,
28), hier also am 29. Mai 2006. Die Beschwerdeführerin ist dem Verfahren im Februar
2007 wirksam beigetreten (§ 13 Abs. 1 VerfGHG i.V.m. § 91 VwGO).
46
Der Verfassungsgerichtshof lässt dahinstehen, ob der erstmals in der mündlichen
Verhandlung und damit außerhalb der Jahresfrist nach § 52 Abs. 12 VerfGHG gestellte
Antrag gleichwohl zulässig ist, weil er sich sinngemäß dem fristgemäßen Schriftvortrag
entnehmen lässt. Der Antrag hat jedenfalls, wie sich aus den nachfolgenden
Ausführungen ergibt, in der Sache keinen Erfolg.
47
C.
48
Die Verfassungsbeschwerde ist mit der aus dem Tenor ersichtlichen Maßgabe
unbegründet.
49
Die Regelungen in § 4 Abs. 2 Satz 2 Ziffer 1 und 3 i.V.m. Anlage 1 zu § 4 Abs. 6 GFG
2006 sowie der von den Beschwerdeführerinnen gerügte Verzicht auf eine vertikale und
horizontale "Spitzabrechnung" beim Ausgleich des kommunalen Solidarbeitrags zu den
Lasten der Deutschen Einheit im Gemeindefinanzierungsgesetz 2006 verletzen nicht
das Recht der Beschwerdeführerinnen auf Selbstverwaltung aus Art. 78, 79 Satz 2 LV.
Sie verstoßen weder gegen das interkommunale Gleichbehandlungsgebot noch
verletzen sie sonstige Verfassungsgrundsätze, die im Verfassungsbeschwerdeverfahren
als Prüfungsmaßstab zu berücksichtigen sind. Der Landesgesetzgeber hat allerdings
die Überzahlung des kommunalen Beitrags zu den Lasten der Deutschen Einheit im
Haushaltsjahr 2006 unter Berücksichtigung der bundesrechtlich vorgegebenen
Obergrenze einer kommunalen Finanzierungsbeteiligung an den einigungsbedingten
Lasten in Höhe von rund 40 v.H. auszugleichen.
50
I.
51
1. Das Recht der Gemeinden und Gemeindeverbände auf Selbstverwaltung (Art. 78 LV)
umfasst auch einen gegen das Land Nordrhein-Westfalen gerichteten Anspruch auf
angemessene Finanzausstattung; denn eigenverantwortliches Handeln setzt eine
entsprechende finanzielle Leistungsfähigkeit der Selbstverwaltungskörperschaften
voraus (VerfGH NRW, OVGE 38, 312, 314; OVGE 40, 300, 302 = NWVBl. 1989, 85, 86;
OVGE 43, 252, 254 = NWVBl. 1993, 381, 382; OVGE 47, 249, 251 = NWVBl. 1998, 390,
391; OVGE 49, 271, 274 = NWVBl. 2003, 261, 263; NWVBl 2004, 141, 143).
52
Den Finanzausstattungsanspruch absichernd und konkretisierend verpflichtet Art. 79
Satz 2 LV das Land, im Rahmen seiner finanziellen Leistungsfähigkeit einen
übergemeindlichen Finanzausgleich zu gewährleisten (vgl. Art. 106 Abs. 7 GG). Dabei
ist dem Landesgesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt, in welchem
Umfang und auf welche Art er diese Gewährleistung erfüllt und nach welchem System
er die Finanzmittel auf die Gemeinden verteilt. Im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit
obliegt es dem Landesgesetzgeber, den Finanzbedarf von Land, Gemeinden und
53
Gemeindeverbänden zu gewichten, Unterschiede hinsichtlich des Finanzbedarfs und
der vorhandenen Finanzausstattung auszumachen und festzulegen, wie die
Differenzlagen auszugleichen sind (VerfGH NRW, OVGE 40, 300, 302 ff.; OVGE 43,
252, 254 = NWVBl. 1993, 381, 382; OVGE 47, 249, 252 f. = NWVBl. 1998, 390, 392;
OVGE 49, 271, 274/275 = NWVBl. 2003, 261, 263; vgl. auch BVerfGE 23, 353, 369).
2. Der Gestaltungsspielraum des Finanzausgleichsgesetzgebers ist allerdings nicht
unbeschränkt. Grenzen ergeben sich aus dem Schutzzweck der
Finanzausstattungsgarantie (II.1) sowie aus solchen Grundsätzen des
Landesverfassungsrechts, die geeignet sind, das verfassungsrechtliche Bild der
kommunalen Selbstverwaltung mitzubestimmen (II.2 bis II.5). Diese Grenzen werden
durch die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Regelungen und
Systemumstellungen nach Maßgabe der nachfolgenden Ausführungen nicht verletzt.
54
II.
55
1. Aus der Funktion des Finanzausgleichs, die finanzielle Grundlage der gemeindlichen
Selbstverwaltung zu sichern, folgt, dass die für eine eigenverantwortliche
Aufgabenwahrnehmung durch die Kommunen erforderliche finanzielle
Mindestausstattung gewährleistet sein muss. Dementsprechend ist die
Finanzausstattungsgarantie verletzt, wenn einer sinnvollen Betätigung der
Selbstverwaltung die finanzielle Grundlage entzogen und dadurch das
Selbstverwaltungsrecht ausgehöhlt wird (VerfGH NRW, OVGE 40, 300, 302 = NWVBl.
1989, 85, 86; OVGE 47, 249, 251 f. = NWVBl. 1998, 390, 391; OVGE 49, 271, 274 =
NWVBl. 2003, 261, 263). Im Übrigen legen Art. 78 und 79 LV den Umfang der Mittel
nicht fest, die den Gemeinden auf Grund des Finanzausgleichs zur freien Disposition
gestellt werden müssen; weder sind zahlenmäßig festgelegte Beträge noch bestimmte
Quoten vorgeschrieben (VerfGH NRW, OVGE 40, 300, 303 = NWVBl. 1989, 85, 86;
OVGE 43, 252, 255 = NWVBl. 1993, 381, 382; OVGE 47, 249, 252 = NWVBl. 1998, 390,
391; OVGE 49, 271, 275 = NWVBl. 2003, 261, 263).
56
Gemessen daran bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die in Rede stehende
Ausgestaltung des vertikalen und horizontalen Finanzausgleichs im
Gemeindefinanzierungsgesetz 2006 die durch Art. 78 und 79 Satz 2 LV garantierte
finanzielle Mindestausstattung berührt. Die Beschwerdeführerinnen machen
demgemäss auch nicht geltend, dass infolge der hierdurch bedingten
Zuweisungseinbußen einer sinnvollen Betätigung der Selbstverwaltung die finanzielle
Grundlage entzogen wäre.
57
2. a) Aus dem Anspruch der Kommunen auf angemessene Finanzausstattung ergibt
sich in Verbindung mit dem auch kraft Landesverfassungsrechts geltenden
Rechtsstaatsprinzip (vgl. dazu VerfGH, OVGE 16, 315, 318, 319; OVGE 45, 285, 287 =
NWVBl. 1995, 291, 293) ferner, dass die Finanzausstattungsgarantie verletzt ist, wenn
der Finanzausgleichsgesetzgeber Maßgaben des Bundesrechts nicht beachtet, die für
die kommunale Finanzmittelausstattung bindend sind (ebenso zu Art. 87 Abs. 1 LV
Sachsen-Anhalt: VerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 13. Juni 2006 - LVG 7/05 - juris, Rn.
103).
58
Um eine Kollision mit der bundesstaatlichen Kompetenzordnung (Art. 30, 70 ff. GG) zu
vermeiden und mit Rücksicht auf die Bindungswirkung höherrangigen Rechts obliegt es
dem Landesgesetzgeber, bundesrechtlichen Vorgaben bei seiner
59
Gesetzgebungstätigkeit Rechnung zu tragen. Für die Regelung des kommunalen
Finanzausgleichs bedeutet dies, dass der Gestaltungsspielraum des
Landesgesetzgebers nach Maßgabe des durch Art. 106 GG (einschließlich
dazugehöriger Ausführungsbestimmungen) vorgegebenen Rahmens begrenzt ist. Dem
entspricht es im Lichte des Schutzzwecks des kommunalen Finanzausgleichs, den
Gewährleistungsbereich der Art. 78, Art. 79 Satz 2 LV auch dann als verletzt anzusehen,
wenn den Kommunen Finanzmittel vorenthalten werden, die ihnen kraft Bundesrechts
zustehen.
b) Danach begründet die von den Beschwerdeführerinnen gerügte Minderung des
Verbundbetrags nach § 4 Abs. 2 Satz 2 Ziffer 1 GFG 2006 keinen Verstoß gegen
Landesverfassungsrecht. Die Bestimmung konkretisiert die Art und Weise des vertikalen
Finanzausgleichs näher und bewegt sich damit auf der Ebene der Ausgestaltung (des
"Wie") des kommunalen Finanzausgleichs. Art. 106 Abs. 7 Satz 1 GG entfaltet in dieser
Hinsicht bereits keine landesverfassungsrechtlich relevante Bindungswirkung. Die
Norm verpflichtet zwar den Landesgesetzgeber, die Kommunen am Gesamtaufkommen
der Gemeinschaftsteuern (vgl. Art. 106 Abs. 3 GG) zu beteiligen. Damit sind jedoch
lediglich das "Ob" eines kommunalen Finanzausgleichs und der Anknüpfungspunkt für
die Finanzausgleichsmasse geregelt. Im Übrigen macht Art. 106 Abs. 7 Satz 1 GG für
die Verteilungsmaßstäbe des kommunalen Finanzausgleichs keine normativen
Vorgaben, die gegebenenfalls bei der Auslegung der Landesverfassung zu
berücksichtigen wären. Die konkrete Ausgestaltung (das "Wie") des kommunalen
Finanzausgleichs einschließlich der Festlegung des Umfangs der Ausgleichsmasse fällt
vielmehr allein in die Verantwortung der Länder (VerfGH NRW, OVGE 47, 249, 272
m.w.N.).
60
c) Auch der Verzicht auf einen vertikalen "Spitzausgleich" des kommunalen
Solidarbeitrags zu den einigungsbedingten Lasten im Gemeindefinanzierungsgesetz
2006 verletzt die Beschwerdeführerinnen nicht in ihrem Recht auf Selbstverwaltung. Der
Landesgesetzgeber ist jedoch verpflichtet, einen Ausgleich der kommunalen
Überzahlung des Solidarbeitrags herbeizuführen, der den maßgeblichen
bundesrechtlichen Vorgaben Rechnung trägt.
61
aa) Vorbehaltlich verbindlicher bundesrechtlicher Vorgaben obliegt es der Entscheidung
des Landesgesetzgebers, nach welchem System er den vertikalen Finanzausgleich
gestalten will. Die seine Entscheidung leitenden Einschätzungen sind vom
Verfassungsgerichtshof nur daraufhin überprüfbar, ob sie unter dem Gesichtspunkt der
Sachgerechtigkeit vertretbar sind. Dabei sind angesichts des generellen Charakters der
gesetzgeberischen Einschätzung eine Typisierung und Pauschalierung zulässig, die
insbesondere auch durch praktische Erfordernisse der Verwaltung gerechtfertigt sein
können (vgl. VerfGH NRW, OVGE 49, 271, 276 = NWVBl. 2003, 261, 263/264). Soweit
die tatsächlichen Auswirkungen der Finanzausgleichsregelungen kaum oder nur mit
großen Unsicherheiten voraussehbar sind, ist der Gesetzgeber verpflichtet, die weitere
Entwicklung zu beobachten und gegebenenfalls darauf zu reagieren. Ist der
Gesetzgeber auf Einschätzungen und Prognosen angewiesen, ist ein Gesetz nicht
bereits deshalb verfassungswidrig, weil es auf einem Irrtum des Gesetzgebers über den
erwarteten Geschehensablauf beruht. Der Verfassungsgerichtshof kann
Einschätzungen bzw. Prognosen des Gesetzgebers über die sachliche Eignung und die
Auswirkungen einer gesetzlichen Regelung nur dann beanstanden, wenn sie im Ansatz
oder in der Methode offensichtlich fehlerhaft oder eindeutig widerlegbar sind (VerfGH
NRW, OVGE 47, 249, 254 = NWVBl. 1998, 390, 392; NWVBl 1999, 136, 137).
62
bb) Gemessen an diesen Grundsätzen ist es nicht zu beanstanden, dass der
Gesetzgeber mit dem Gemeindefinanzierungsgesetz 2006 das vormalige System einer
vertikalen "Spitzabrechnung" des kommunalen Solidarbeitrags auf ein
Ausgleichssystem umgestellt hat, das auf einem prognostisch ermittelten
Ausgleichsbetrag beruht. Er bewegt sich mit dieser Systemumstellung innerhalb des
ihm von Verfassungs wegen eingeräumten Gestaltungsspielraums. Es ist weder im
Ansatz noch in der Methode offensichtlich fehlerhaft, dass das
Gemeindefinanzierungsgesetz 2006 von einer auszugleichenden Überzahlung der
kommunalen Finanzierungsbeteiligung an den Lasten der Deutschen Einheit in Höhe
von 200 Mio. EUR ausgeht. Dass eine valide Quantifizierung der einheitsbedingten
Lasten aufgrund des in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht komplexen
Sachzusammenhangs auf Schwierigkeiten stößt, räumt auch das von den
Beschwerdeführerinnen vorgelegte finanzwissenschaftliche Gutachten ein (vgl. dort
Ziffer 101). Ebenso liegt auf der Hand, dass der Finanzausgleichsgesetzgeber
hinsichtlich der Bemessungsgrundlagen für die kommunale Beteiligung an den
Einheitslasten nicht schon auf endgültige Abrechnungen zurückgreifen kann, sondern
auf die Erstellung einer Prognose angewiesen ist. Es unterliegt keinen Bedenken, dass
er zu diesem Zweck das im Zeitpunkt des Gesetzgebungsverfahrens zur Verfügung
stehende Datenmaterial aus der Steuerschätzung und Mittelfristigen Finanzplanung des
Landes herangezogen hat (vgl. dazu LT NRW-Drs. 14/1101, S. 62 und S. A 6; zu den
fortwirkenden Belastungen des Landes ab 2005 hinsichtlich der Abfinanzierung des
Fonds "Deutsche Einheit" siehe auch den in der BT-Drs. 14/6577, S. 7, geschätzten
Betrag von 1,546 Mrd. DM). Ausgehend davon hält sich der zur Kompensation der
kommunalen Überzahlung als ausreichend prognostizierte Ausgleichsbetrag von 200
Mio. EUR innerhalb der dem Landesgesetzgeber zustehenden
Einschätzungsprärogative. Der Prognose liegt ein Ansatz von 1,4 Mrd. EUR für die auf
das Land Nordrhein-Westfalen im Jahr 2006 entfallenden einigungsbedingten Lasten
zugrunde, der sich zusammensetzt aus je 700 Mio. EUR für die Lasten im Rahmen des
Länderfinanzausgleichs und des Fonds "Deutsche Einheit". Unter Berücksichtigung des
kommunalen Anteils an den Gesamtsteuereinnahmen (einschließlich der Zuweisungen
im Rahmen des Steuerverbundes), der mit 44,8 v.H. veranschlagt worden ist, ergibt sich
eine Finanzierungsbeteiligung der Kommunen in Höhe von ca. 627 Mio. EUR. Der von
den Gemeinden über die erhöhte Gewerbesteuerumlage erbrachte Solidarbeitrag ist mit
645 Mio. EUR prognostiziert worden. Ferner ist eine finanzielle Belastung der
Gemeinden in Höhe von 161 Mio. EUR in Ansatz gebracht worden. Dieser Betrag geht
zurück auf die Mindereinnahmen des Landes aus der Umsatzsteuer als
Kompensationsleistung für die Übernahme der Verbindlichkeiten des Fonds "Deutsche
Einheit" durch den Bund und die dadurch bedingte Minderung der Verbundgrundlagen
(23 v.H. auf 700 Mio. EUR). Insgesamt beläuft sich der von den Gemeinden geleistete
Solidarbeitrag somit auf ca. 800 Mio. EUR. Daraus folgt eine Überzahlung in Höhe von
gut 170 Mio. EUR, die durch den veranschlagten Betrag von 200 Mio. EUR vollständig
abgedeckt wird.
63
cc) Der Landesgesetzgeber ist allerdings gehalten, die tatsächliche Entwicklung der
Überzahlung des kommunalen Solidarbeitrags weiter zu beobachten und
gegebenenfalls mit geeigneten Maßnahmen zu reagieren, um der bundesrechtlich
vorgegebenen Obergrenze einer kommunalen Finanzierungsbeteiligung an den Lasten
der Deutschen Einheit in Höhe von rund 40 v.H. gerecht zu werden.
64
(1) Der Verteilung der einigungsbedingten Lasten durch die Regelungskomplexe
65
"Solidarpakt I" und "Solidarpakt II" liegt die Erwägung zugrunde, dass die Finanzierung
des Einigungsprozesses eine gesamtstaatliche Aufgabe ist, die von Bund, Ländern und
Kommunen gemeinsam zu erfüllen ist. Die westdeutschen Kommunen sollen dabei an
den finanziellen Transferleistungen der alten Bundesländer in Höhe von rund 40 v.H.
beteiligt werden. Eine explizite gesetzliche Verankerung findet dies in § 6 Abs. 5 Satz 5
GFRG, der die Finanzierungsbeteiligung der Kommunen an den Lasten des Fonds
"Deutsche Einheit" regelt. Darüber hinaus beruht auch die Erhöhung der
Gewerbesteuerumlage nach § 6 Abs. 3 GFRG um 29 Prozentpunkte auf einer
Beteiligungsquote von 40 v.H., wie sich den Gesetzesmaterialien entnehmen lässt (vgl.
BT-Drs. 12/4801, S. 179). Schließlich findet sich die Quote mittelbar in § 6 Abs. 5 Satz 9
GFRG und entsprechend in § 6 Abs. 3 Satz 6 GFRG wieder. Soweit darin auf eine
"Finanzierungsbeteiligung der Gemeinden bis zur Höhe ihres jeweiligen Anteils an den
Gesamtsteuereinnahmen - einschließlich der Zuweisungen im Rahmen der
Steuerverbünde" abgestellt wird, beruht dies auf einer entsprechenden Abstimmung der
Länder, die sich an dem bundesdurchschnittlichen Anteil der Kommunen an den
Gesamtsteuereinnahmen in Höhe von rund 40 v.H. orientiert (vgl. BT-Drs. 11/7350, S.
51; Drs. 11/7351, S. 6; Drs. 11/ 7412, S. 60, 74/75).
(2) Nach Wortlaut und Entstehungsgeschichte kommt der nach § 6 Abs. 3, Abs. 5 GFRG
vorgesehenen Beteiligungsquote von "bundesdurchschnittlich rund 40 v.H." bindende
normative Wirkung für die Ausgestaltung des kommunalen Finanzausgleichs zu.
Textlich wird dies in § 6 Abs. 5 Satz 9 GFRG (entsprechend in § 6 Abs. 3 Satz 6 GFRG)
zum Ausdruck gebracht, wonach die Kommunen bis zur Höhe (Unterstreichung nur hier)
ihres jeweiligen Anteils an den Gesamtsteuereinnahmen an den einigungsbedingten
Lasten zu beteiligen sind. Bestätigt wird dieses Normverständnis durch die
Gesetzesmaterialien, die ebenfalls darauf verweisen, dass es sich bei der
Beteiligungsquote um eine Obergrenze handelt (vgl. BT-Drs. 11/7351, S. 6; Drs.
11/7412, S. 60, 74/75). Allerdings kommt dem Landesgesetzgeber bei der konkreten
Umsetzung der bundesrechtlichen Vorgabe ein Gestaltungsspielraum zu, wie die
Formulierung "Feinabstimmung" in § 6 Abs. 5 Satz 9 GFRG zeigt. Es ist grundsätzlich
Angelegenheit der Länder, durch entsprechende Gestaltung des kommunalen
Finanzausgleichs eine angemessene Beteiligung ihrer Gemeinden an den
Landesbelastungen sicherzustellen (so ausdrücklich der Hinweis der Bundesregierung
zu dem Bundesratsentwurf für eine Beteiligung der Gemeinden in den alten Ländern an
der Finanzierung des Transferbeitrages der alten gegenüber den neuen Ländern über
eine Anhebung der Gewerbesteuerumlage, BT-Drs. 12/4748, S. 159).
66
(3) Ausgehend davon hat der Landesgesetzgeber für den Fall, dass der zunächst
prognostizierte angemessene kommunale Solidarbeitrag der tatsächlichen Entwicklung
nicht entspricht, sondern dieser eine signifikant höher ausfallende Überzahlung
erkennen lässt, unter Berücksichtigung der bundesrechtlich vorgegebenen Obergrenze
alsbald, spätestens im übernächsten Haushaltsjahr, einen weitergehenden Ausgleich
herbeizuführen. Eines "Spitzausgleichs" bedarf es dabei nicht, da dem Gesetzgeber
nach Maßgabe der vorstehenden Ausführungen ein Gestaltungsspielraum verbleibt.
Andererseits muss der Ausgleichsbetrag der bundesrechtlichen Vorgabe angemessen
Rechnung tragen, das heißt der Obergrenze von "rund 40 v.H." annähernd entsprechen.
Um dem gerecht zu werden, ist der Gesetzgeber verpflichtet, auf belastbare, also auf der
Basis von Jahresabschlussberechnungen gesicherte Daten für das betreffende
Haushaltsjahr zurückzugreifen. Im Übrigen obliegt die Festlegung der
Ausgleichsmodalitäten der politischen Willensbildung im Rahmen des
parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens.
67
Für das Haushaltsjahr 2006 ergibt sich nach dem auf belastbares Datenmaterial
gestützten Vortrag der Beschwerdeführerinnen, dem die Landesregierung - auch in der
mündlichen Verhandlung - nicht substantiiert entgegengetreten ist, eine nicht
ausgeglichene Überzahlung des kommunalen Solidarbeitrags in Höhe von ca. 450 Mio.
EUR. Damit liegt die kommunale Finanzierungsbeteiligung an den Lasten der
Deutschen Einheit bei über 90 v.H.. Es liegt auf der Hand, dass sich eine derart
signifikante Abweichung von der durch § 6 Abs. 3, Abs. 5 GFRG vorgegebenen
Obergrenze nicht mehr im Bereich des landesverfassungsrechtlich Tolerablen bewegt.
Soweit die Landesregierung in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, dass einer
nicht ausgeglichenen Überzahlung durch entsprechende Korrekturen in den
Prognoseansätzen der Folgejahre Rechnung getragen würde, genügt dies den
bundesrechtlichen Anforderungen nicht. Die Obergrenze von "rund 40 v.H." ist bezogen
auf das jeweilige Haushaltsjahr zu wahren, so dass hier ein rückwirkender Ausgleich für
das Haushaltsjahr 2006 herbeizuführen ist.
68
3. Keinen landesverfassungsrechtlichen Bedenken unterliegt die Systemumstellung im
Bereich des horizontalen Finanzausgleichs.
69
a) Der dem Landesgesetzgeber bei der Gestaltung des kommunalen Finanzausgleichs
eingeräumte Spielraum wird durch das rechtsstaatlich determinierte Willkürverbot
begrenzt, das als Element des objektiven Gerechtigkeitsprinzips auch kraft
Landesverfassungsrechts verbürgt ist. Als interkommunales Gleichbehandlungsgebot
verbietet es, bestimmte Gemeinden oder Gemeindeverbände auf Grund sachlich nicht
vertretbarer Differenzierungen zu benachteiligen oder zu bevorzugen. Es ist verletzt,
wenn für die getroffene Regelung ein sachlicher Grund fehlt (VerfGH NRW, OVGE 38,
312, 315 f.; OVGE 40, 300, 302 = NWVBl. 1989, 85, 86; OVGE 43, 252, 254 = NWVBl.
1993, 381, 382; OVGE 47, 249, 253 = NWVBl. 1998, 390, 391; OVGE 49, 271, 275 =
NWVBl. 2003, 261, 263; NWVBl 2004, 141, 144).
70
Nach welchem System der Gesetzgeber eine bestimmte Materie ordnen will, obliegt
seiner Entscheidung. Weicht er vom selbstbestimmten System ab, kann das einen
Gleichheitsverstoß indizieren (BVerfGE 61, 138, 148 f.; 68, 237, 253; 81, 156, 207). Ein
solcher liegt nicht vor, wenn es für die Abweichung plausible Gründe gibt (VerfGH NRW,
OVGE 46, 262, 270 f. = NWVBl. 1997, 129, 132; OVGE 49, 271, 275 = NWVBl. 2003,
261, 263).
71
Hier ist in den Blick zu nehmen, dass die Anknüpfung des kommunalen Solidarbeitrags
an das Gewerbesteueraufkommen bundesrechtlich vorgegeben ist (§ 6 Abs. 3, Abs. 5
GFRG). Der Bundesgesetzgeber bewertet es unter dem Gesichtspunkt der finanziellen
Leistungsfähigkeit von Kommunen als sachgerecht, die kommunale
Finanzierungsbeteiligung an den einheitsbedingten Lasten über eine Umlage auf diese
Steuerart sicherzustellen. Es begegnet im Ausgangspunkt keinen rechtlichen
Bedenken, wenn der Landesgesetzgeber diese Einschätzung für sein horizontales
Finanzausgleichssystem übernimmt. Im Lichte des interkommunalen
Gleichbehandlungsgebots ist allein maßgeblich, dass die Modalitäten des
Ausgleichssystems in ihrer Gesamtheit nicht zu willkürlichen Resultaten führen.
72
b) Gemessen daran ist die Systemumstellung im Bereich des horizontalen
Finanzausgleichs nicht zu beanstanden. Im Rahmen seines Gestaltungsspielraums
durfte der Gesetzgeber davon absehen, hinsichtlich der Beteiligung der Gemeinden an
73
den einheitsbedingten Lasten über die erhöhte Gewerbesteuerumlage einen
horizontalen "Spitzausgleich" durchzuführen. Ein Verstoß gegen den
Gleichbehandlungsgrundsatz läge nur dann vor, wenn der Verzicht auf einen
"Spitzausgleich" zu willkürlichen, mit der Funktion des Finanzausgleichs unvereinbaren
Ergebnissen führen würde. Das kann hier nicht festgestellt werden. Die
Systemumstellung verletzt weder unter dem Gesichtspunkt der Systemwidrigkeit noch
unter dem Gesichtspunkt des Nivellierungs-/Übernivellierungsverbots das
Gleichbehandlungsgebot.
aa) Die Erwägung des Gesetzgebers, der Verzicht auf einen über das
Schlüsselzuweisungssystem in §§ 7 ff. GFG 2006 hinausgehenden
Belastungsausgleich führe typischerweise zu einer relativ stärkeren Beteiligung der
finanzkräftigeren, insbesondere abundanten Gemeinden (d.h. Gemeinden, die ihren
Finanzbedarf selbstständig aus eigenen Einnahmen decken können) an den Kosten der
Deutschen Einheit und zu einer relativ geringeren Beteiligung der
finanzkraftschwächeren Gemeinden, ist empirisch gesichert. Sie leitet sich aus den mit
dem Gemeindefinanzierungsgesetz 2006 verbundenen Ausgleichswirkungen ab, die
sich als systemkonform erweisen.
74
(1) Der von der Landesverfassung gewährleistete kommunale Finanzausgleich hat die
Aufgabe, Mängel zu beseitigen oder abzuschwächen, die sich aus einer
unzureichenden Ausstattung von Kommunen mit Steuermitteln ergeben. Entsprechend
dem unterschiedlichen Ausgabenbedarf der einzelnen Gemeinden und der
unterschiedlichen Möglichkeiten, diesen Bedarf durch eigene Einnahmen zu decken,
sollen die Finanzquellen der Gemeinden ergänzt werden. Dieser subsidiäre
Finanzausgleich soll die Gesamteinnahmen der Gemeinden und Gemeindeverbände so
weit aufstocken, dass die finanzielle Möglichkeit zu eigenverantwortlicher, freiwilliger
Selbstverwaltungstätigkeit gegeben ist (sog. fiskalische Funktion). Daneben hat der
interkommunale Finanzausgleich die Aufgabe, die sich aus der ungleichmäßigen
Streuung des Steueraufkommens ergebenden Unterschiede in der finanziellen
Leistungsfähigkeit zwischen den einzelnen kommunalen Gebietskörperschaften
auszugleichen (sog. redistributive Funktion). Diesen Funktionen entspricht es, wenn der
Gesetzgeber bei der Entscheidung über die Modalitäten des Ausgleichssystems für die
einheitsbedingten finanziellen Belastungen die Finanzkraftsituation der Kommunen in
den Blick nimmt und sich davon leiten lässt, den finanzstärkeren Gemeinden relativ
weniger Zuweisungen zukommen zu lassen als den finanzschwächeren Gemeinden
(vgl. bereits VerfGH NRW, OVGE 38, 301, 310/311; OVGE 40, 300, 307 = NWVBl. 1989,
85, 87; OVGE 47, 249, 272 f. = NWVBl. 1998, 390, 397).
75
(2) Nicht zu beanstanden ist die Bewertung des Finanzausgleichsgesetzgebers, bei den
von dem Verzicht auf einen horizontalen "Spitzausgleich" nachteilig betroffenen
Gemeinden handele es sich in der Regel um finanzstärkere, insbesondere abundante
Kommunen. Die Einschätzung findet ihre Rechtfertigung in dem mit dem
Gemeindefinanzierungsgesetz 2006 verbundenen Ausgleichswirkungen, die eine
Systemwidrigkeit nicht erkennen lassen.
76
Die auf der erhöhten Gewerbesteuerumlage basierende Heranziehung zu den
einheitsbedingten Lasten trifft in relativ stärkerem Maße die gewerbesteuerstarken
Gemeinden. Diesen Gesichtspunkt hat der Gesetzgeber im Rahmen des horizontalen
Ausgleichssystems nicht unberücksichtigt gelassen, sondern vielmehr in § 11 Abs. 1
GFG 2006 für eine Kompensation gesorgt, indem sich die erhöhte
77
Gewerbesteuerumlage steuerkraftmindernd bei der Berechnung der
Schlüsselzuweisungen auswirkt. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerinnen
lässt sich nicht feststellen, dass gewerbesteuerstarke Gemeinden im Vergleich zu
Gemeinden, die in Bezug auf eine andere Steuerart ähnlich aufkommensstark sind, in
systemwidriger Weise benachteiligt werden. Denn für die übrigen im Rahmen des
Schlüsselzuweisungssystems relevanten Steueraufkommen ist als Systementscheidung
des Gesetzgebers eine entsprechende Steuerkraftminderung nicht vorgesehen (vgl. §
11 GFG 2006).
Eine Systemwidrigkeit lässt sich auch nicht daraus ableiten, dass sich die
Ausgleichsfunktion des § 11 Abs. 1 GFG 2006 bei abundanten Gemeinden nicht in
Gestalt von Schlüsselzuweisungen auswirkt. Dieser Sachverhalt ist
systemimmanent.Die Abundanz ist Folge des Ausgleichssystems. Allein wenn eine
Gemeinde über eine Steuerkraft verfügt, die sie trotz der erhöhten
Gewerbesteuerumlage ihren auf der Grundlage des Gemeindefinanzierungsgesetzes
ermittelten Ausgabenbedarf decken lässt bzw. diesen sogar überschreitet, erhält sie
keinen über die Steuerkraftminderung in § 11 Abs. 1 GFG 2006 hinausgehenden
Ausgleich mehr.
78
Der Gesetzgeber ist aus landesverfassungsrechtlicher Sicht nicht verpflichtet, mit
Rücksicht auf abundante Gemeinden einen weitergehenden Belastungsausgleich
vorzunehmen. Aus den zuvor beschriebenen Funktionen des interkommunalen
Finanzausgleichs, die Unterschiede in der Finanzausstattung der Kommunen zu
mildern und die finanzschwächeren Gemeinden finanziell stärker zu unterstützen, folgt
nicht, dass zwangsläufig alle Kommunen an den Zuweisungen des Finanzausgleichs
beteiligt werden müssten. Abundante Gemeinden, also solche, die ihren Finanzbedarf
aus eigenen Einnahmen decken können, bedürfen keiner ergänzenden
Finanzzuweisungen (vgl. VerfGH NRW, OVGE 47, 249, 272, 273 = NWVBl. 1998, 390,
397).
79
bb) Der Verzicht auf eine horizontale "Spitzabrechnung" verletzt auch nicht das
Nivellierungs-/Übernivellierungsverbot. Mit Sinn und Zweck des übergemeindlichen
Finanzausgleichs im Sinne von Art. 79 Satz 2 LV ist es nicht vereinbar, wenn nach
dessen Durchführung die reale Finanzlage vormals finanzstärkerer Gemeinden
ungünstiger ist als diejenige vormals finanzschwächerer Gemeinden; ebenso wenig
steht eine vollständige Einebnung der Finanzkraftunterschiede mit dem der
kommunalen Selbstverwaltung innewohnenden Grundsatz der gemeindlichen Pluralität
und Individualität im Einklang (VerfGH NRW, OVGE 38, 312, 315 f. m.w.N.; OVGE 40,
300, 305 = NWVBl. 1989, 85, 87; OVGE 43, 252, 265 = NWVBl. 1993, 381, 386; OVGE
47, 249, 273 = NWVBl. 1998, 390, 397). Auch nach diesen Maßgaben bewegt sich die
Entscheidung, von einem interkommunalen "Spitzausgleich" der gemeindlichen
Solidarbeitragslasten abzusehen, innerhalb der verfassungsgemäßen
Gestaltungsmöglichkeiten des Finanzausgleichsgesetzgebers. Die Systemumstellung
führt nicht dazu, Finanzkraftunterschiede in verfassungswidriger Weise zu egalisieren
oder umzukehren.
80
Das vom Innenministerium des Landes vorgelegte Datenmaterial belegt, dass der
Finanzausgleich 2006 zu einer Annäherung der Finanzkraftsituation der 396 nordrhein-
westfälischen Gemeinden geführt hat, ohne dass die Finanzkraftunterschiede
übernivelliert oder nivelliert worden wären. Die Darstellung des Innenministeriums
knüpft an die jeweilige gemeindliche Bedarfsdeckungsquote an. Dabei handelt es sich
81
um die Relation zwischen normierter Steuerkraft (vgl. § 11 GFG 2006) und normiertem
Bedarf (vgl. § 10 GFG 2006) einer Gemeinde. Sie beruht damit auf Indikatoren, die im
Finanzausgleichssystem des Landes eine langjährige Grundlage haben und in der
Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshof als sachgerecht bestätigt worden sind (vgl.
z.B. VerfGH, OVGE 43, 252 = NWVBl. 1993, 381; OVGE 47, 249 = NWVBl. 1998, 390).
Der Auswertung des Innenministeriums lässt sich entnehmen, dass sich die
Bedarfsdeckungsquoten der Gemeinden vor Durchführung des Finanzausgleichs
zwischen 41,8 % und 270,6 % bewegten und nach Durchführung des Finanzausgleichs,
also unter Einbeziehung der jeweiligen gemeindlichen Schlüsselzuweisung, zwischen
94,2 % und 270,6 %. Indes liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass ursprünglich
finanzschwächere Gemeinden nunmehr über mehr Mittel verfügten als vormals
finanzstärkereSo hat sich etwa bei den beschwerdeführenden Gemeinden keine
Veränderung hinsichtlich ihres "Finanzkraftrangplatzes" ergeben. Soweit sich nach der
Übersicht des Innenministeriums für andere Gemeinden Rangfolgeänderungen
feststellen lassen, gehen diese ganz überwiegend darauf zurück, dass mehrere
Gemeinden nunmehr eine gemeinsame Rangposition einnehmen. Angesichts der
dahinterstehenden marginalen prozentualen Angleichung ist damit eine unzulässige
Über-/Nivellierung nicht verbunden, zumal sich diese "Rangplatzhäufung" bei einer
differenzierteren Ausweisung der Bedarfsdeckungsquote (über eine Nachkommastelle
hinaus) verliert. . Darüber hinaus tritt eine Angleichung in der tatsächlichen
Finanzausstattung auch deshalb nicht ein, weil die unterschiedlich hohen Einnahmen
der Gemeinden aus sonstigen, bei der Ermittlung der normierten Steuerkraft nicht
relevanten Quellen unberücksichtigt bleiben. Zudem bemisst sich die
Steuerkraftmesszahl, soweit es die hebesatzabhängigen Steuern betrifft, nicht nach den
realen Erträgen, sondern nach normativen, (fiktiven) Hebesätzen (vgl. zu diesem
Gesichtspunkt bereits VerfGH NRW, OVGE 47, 249, 274 = NWVBl. 1998, 390, 398).
Das Datenmaterial des Innenministeriums wird durch das von den
Beschwerdeführerinnen eingereichte finanzwissenschaftliche Gutachten nicht in Frage
gestellt. Soweit das Gutachten zu abweichenden Schlussfolgerungen kommt, gehen
diese darauf zurück, dass der Darstellung und Ermittlung der (normierten) Finanzkraft
ein abweichender Finanzkraftbegriff zugrunde liegt. Es bedarf hier keiner weiteren
Erörterung des Für und Wider dieses Ansatzes. Der Verfassungsgerichtshof hat nicht zu
prüfen, ob der Normgeber die bestmögliche oder gerechteste Lösung gewählt hat.
Angesichts des weiten Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers ist dessen
Methodenwahl nur dann zu beanstanden, wenn sie offensichtlich fehlerhaft ist. Dafür ist
hier nichts ersichtlich.
82
4. Ein Verstoß gegen den auch im Rahmen des kommunalen Selbstverwaltungsrechts
zu prüfenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. VerfGH NRW, OVGE 47, 249, 254
= NWVBl. 1998, 390, 392; OVGE 49, 271, 275/276 = NWVBl. 2003, 261, 263) lässt sich
gleichfalls nicht feststellen.
83
Der Gestaltungsspielraum des Finanzausgleichsgesetzgebers wird ferner durch den im
Rechtsstaatsprinzip verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begrenzt.
Belastungen oder Beeinträchtigungen der gemeindlichen Finanzausstattung sind
abzuwägen mit den dafür maßgebenden, dem öffentlichen Wohl verpflichteten,
sachlichen Gründen. Unterschiedliche Finanzausgleichsbelange kommunaler
Aufgabenträger sind zum angemessenen Ausgleich zu bringen (VerfGH NRW, OVGE
47, 249, 254 = NWVBl. 1998, 390, 392; OVGE 49, 271, 275/276 = NWVBl. 2003, 261,
263).
84
a) Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die mit den Änderungen im kommunalen
Finanzausgleichssystem verbundenen Auswirkungen auf die Finanzausstattung der
Gemeinden außer Verhältnis zur Bedeutung der vom Gesetzgeber maßgeblich
bezweckten Verwaltungsvereinfachung stehten.
85
b) Ohne Erfolg bleibt auch die von den Beschwerdeführerinnen in Bezug auf § 4 Abs. 2
Satz 2 Ziffer 3 GFG 2006 erhobene Rüge. Der Ansatz von 165 Mio. EUR ist mit
Rücksicht auf die Umstellung der Bemessung der Verbundgrundlagen auf Ist-
Steuereinnahmen (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 1 GFG 2006) systemkonform. Der auf das "Vierte
Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" vom 24. Dezember 2003 (BGBl.
I S. 2954) zurückgehende "Kommunale Entlastungsausgleich Ost" ist mit Wirkung ab
2005 eingeführt worden. Der für das Haushaltsjahr 2006 maßgebliche Verbundzeitraum
(1. Oktober 2004 bis 30. September 2005) entfällt zu drei Vierteln auf das Jahr 2005.
Dem entspricht bei einem Jahresansatz von 220 Mio. EUR ein anteiliger Betrag von 165
Mio. EUR. Wie die von der Landesregierung vorgelegte Übersicht ausweist, ergibt sich
im Zuge der Abrechnung der nachfolgenden Verbundzeiträume im Ergebnis keine
Minderung der Kompensationsleistung.
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5. Schließlich hat der Gesetzgeber den rechtsstaatlichen Grundsatz des
Vertrauensschutzes zu beachten (VerfGH NRW, OVGE 38, 301, 311). Zwar besteht
grundsätzlich kein schutzwürdiges Vertrauen in den unveränderten Fortbestand einer
einmal erreichten Struktur oder eines einmal erreichten Standards des
Finanzausgleichs. Verfassungsrechtlich garantiert ist allein eine angemessene
Finanzausstattung; bestimmte Finanzierungsmodalitäten werden von der Garantie nicht
erfasst (VerfGH NRW, OVGE 38, 301, 312). Es steht dem Gesetzgeber vielmehr frei,
veränderte Rahmenbedingungen, neue Erkenntnisse und gewandelte Präferenzen bei
der jährlichen Regelung des kommunalen Finanzausgleichs zu berücksichtigen
(VerfGH NRW, OVGE 38, 301, 311 f.; OVGE 43, 252, 255 = NWVBl. 1993, 381, 382;
OVGE 47, 249, 252 = NWVBl. 1998, 390, 392; OVGE 49, 271, 276 = NWVBl. 2003, 261,
263; vgl. auch BVerfGE 23, 353, 367). Ausnahmsweise können indes die besonderen
Umstände des Einzelfalls die Gewährung von Vertrauensschutz gebieten (VerfGH
NRW, OVGE 49, 271, 276 = NWVBl. 2003, 261, 263 unter Verweis auf OVGE 43, 252,
263 = NWVBl. 1993, 381, 385).
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Nach diesen Maßgaben verletzen die Umstellungen im kommunalen
Finanzausgleichssystem auch nicht den Grundsatz des Vertrauensschutzes. Die
Beschwerdeführerinnen hatten keinen Anlass darauf zu vertrauen, dass die bisherigen
Regelungen zum Ausgleich des kommunalen Solidarbeitrags unverändert beibehalten
würden, zumal das Ausgleichssystem seit seiner Einführung im Haushaltsjahr 1991 in
den Folgejahren wiederholt Änderungen erfahren hat.
88
D.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 54 Abs. 4 VerfGHG.
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Hinsichtlich der bundesrechtlichen Vorgaben für die Finanzierungsbeteiligung der
Kommunen an den einheitsbedingten Lasten und deren Ausstrahlungswirkung in den
Gewährleistungsbereich von Art. 78, 79 Satz 2 LV haben die Beschwerdeführerinnen
zur Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage beigetragen und in der Sache einen
Teilerfolg erzielt. Dies rechtfertigt es, eine teilweise Erstattung ihrer notwendigen
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Auslagen anzuordnen.
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