Urteil des VerfG Nordrhein-Westfalen vom 12.12.1995

VerfG Nordrhein-Westfalen (anrechnung, ausländer, bestand, dauer, zuweisung, verfassungsbeschwerde, sri lanka, gesetz, aufgaben, 1995)

Verfassungsgerichtshof NRW, VerfGH 5/94
Datum:
12.12.1995
Gericht:
Verfassungsgerichtshof NRW
Spruchkörper:
Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
VerfGH 5/94
Normen:
Art. 28 Abs. 2 GG, Art. 75 Nr. 4, 78 Abs. 1, 2 LV, §§ 12 Nr. 8, 52
VerfGHG, §§ 2, 3 Abs.3 FlüAG
Leitsätze:
1.
Ein dem Gesetzgeber zustehender Gestaltungsspielraum erlaubt umso
mehr Typisierung und Pauschalierung, als sich der jeweils zu regelnde
Sachverhalt aufgrund seiner Komplexität und Wandlungsanfälligkeit
einer sicheren Prognose entzieht.
2.
Die bei der Zuweisung von Asylbewerbern geltende zeitliche
Beschränkung der Anrechnung von defacto-Flüchtlingen auf drei Jahre
(§ 3 Abs. 3 Satz 2 FlüAG) hält sich im Rahmen des dem Gesetzgeber
zustehenden Gestaltungsspielraums.
Tenor:
Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
A.
1
Die Beschwerdeführerin wendet sich dagegen, daß bei der Zuweisung der
ausländischen Flüchtlinge die Zahl der anderen bleibeberechtigten Ausländer in einer
Gemeinde (im folgenden de-facto-Flüchtlinge genannt) nur längstens für die Dauer von
drei Jahren seit der erstmaligen Erteilung einer Duldung oder Aufenthaltsgenehmigung
angerechnet wird.
2
I.
3
Nach § 1 Abs. 1 des Flüchtlingsaufnahmegesetzes vom 27. März 1984 (GV NW S. 214)
- FlüAG -, zuletzt geändert durch das Vierte Gesetz zur Änderung des
Flüchtlingsaufnahmegesetzes vom 29. November 1994 (GV NW S. 1087), sind die
Gemeinden verpflichtet, die ihnen zugewiesenen ausländischen Flüchtlinge
aufzunehmen und unterzubringen. Die Zuweisung erfolgt gemäß § 3 Abs. 1 und 2
4
FlüAG nach einem kombinierten Einwohner- und Flächenschlüssel.
§ 3 Abs. 3 FlüAG in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Flüchtlingsaufnahmegesetzes vom 29. Januar 1991 (GV NW S. 13) regelte, daß bei der
Zuweisung die Zahl der ausländischen Flüchtlinge (Asylbewerber, Kontingentflüchtlinge
gemäß dem Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen
aufgenommene Flüchtlinge vom 22. Juli 1980, nach § 33 Abs. 1 AuslG 1990
übernommene Ausländer) und die Zahl der de-facto-Flüchtlinge (seinerzeit bezeichnet
als andere ausländische Flüchtlinge im Sinne des - am 31. Dezember 1991 außer Kraft
getretenen - § 9 FlüAG) und Aussiedler anzurechnen ist.
5
Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Flüchtlingsaufnahmegesetzes vom 25. März
1993 (GV NW S. 102) - 3. Änderungsgesetz - zog der Gesetzgeber Konsequenzen aus
dem Gesetz zur Neuregelung des Asylverfahrens vom 26. Juni 1992 (BGBl. I S. 1126),
dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22.
September 1992 (NWVBl. 1993, 7) und dem Außerkrafttreten der §§ 9, 10 FlüAG
(Festlegung des Kreises der de-facto-Flüchtlinge). In Art. 1 Nr. 2 des 3.
Änderungsgesetzes grenzte er den Kreis der von den Gemeinden aufzunehmenden
Asylbewerber entsprechend den im neuen Asylverfahrensrecht enthaltenen Vorgaben
zu deren Unterbringung in landeseigenen Aufnahmeeinrichtungen ein. Die Vorschriften
über die Anrechnung der de-facto-Flüchtlinge änderte er wie folgt:
6
Artikel I
7
...
8
1. § 3 wird wie folgt geändert:
9
10
...
11
b) Absatz 3 erhält folgende Fassung:
12
(3) Bei der Zuweisung ist der Bestand der in § 2 genannten
ausländischen Flüchtlinge anzurechnen. Außerdem ist der Bestand der
Ausländer, denen die Landesregierung unter Bezugnahme auf diese
Vorschrift generell eine Bleibemöglichkeit einräumt, längstens für die
Dauer von drei Jahren seit der erstmaligen Erteilung einer Duldung oder
Aufenthaltsgenehmigung anzurechnen. Der Bestand der ausländischen
Flüchtlinge nach Satz 1 ist der von der Landesstelle jeweils zuletzt
fortgeschriebenen Statistik zu entnehmen. Der Bestand der nach Satz 2
anzurechnenden Ausländer ist der von den Gemeinden jeweils zum
Stichtag 1.1., 1.4., 1.7. und 1.10. erhobene und bis zum 15. desselben
Monats der Landesstelle neu gemeldete. Der maßgebliche
Personenkreis wird vom Innenministerium im Ministerialblatt für das Land
Nordrhein-Westfalen bekanntgemacht. Das Innenministerium ist
13
berechtigt, die Erhebungen und Meldungen der Gemeinden zu
überprüfen.
Nach dem neu gefaßten Absatz 4 wird nur noch die Hälfte der Aussiedler angerechnet,
die nur vorläufig in Übergangsheimen oder in Notunterkünften untergebracht sind.
Absatz 5 sieht die Berücksichtigung der besonderen Belastung einer Gemeinde
aufgrund einer dort vorhandenen Aufnahmeeinrichtung vor.
14
Als Übergangsregelung bestimmte der Gesetzgeber in Artikel II:
15
1. § 3 Abs. 3 Sätze 2 bis 5 in der Fassung des Artikel I gelten auch für die Ausländer,
denen von der Landesregierung unter Bezugnahme auf § 9 des
Flüchtlingsaufnahmegesetzes in der bis zum 31. Dezember 1991 geltenden
Fassung und entsprechend der Anlage generell eine Bleibemöglichkeit
eingeräumt wurde, längstens für die Dauer von drei Jahren seit der erstmaligen
Erteilung einer Duldung oder Aufenthaltsgenehmigung.
16
1. Als Bestand der nach § 3 Abs. 3 Satz 2 in der Fassung des Artikel I
anzurechnenden Ausländer gilt bis zum Ablauf der ersten Meldefrist nach § 3 Abs.
3 Satz 4 in der Fassung des Artikel I der zuletzt vom Innenministerium festgestellte
Bestand.
17
18
...
19
Durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Flüchtlingsaufnahmegesetzes vom 29.
November 1994 (GV NW S. 1087) - 4. Änderungsge-setz - ist der Personenkreis der
ausländischen Flüchtlinge nach § 2 FlüAG erweitert worden. Zudem sind für alle
Gruppen ausländischer Flüchtlinge Anrechnungszeiträume bestimmt worden. Die
Vorschrift über die Anrechnung des Bestandes an de-facto-Flüchtlingen im Sinne des 3.
Änderungsgesetzes ist inhaltlich unverändert geblieben. §§ 2 und 3 Abs. 3 FlüAG
haben durch das 4. Änderungsgesetz folgende Fassung erhalten:
20
§ 2
21
Der Personenkreis der ausländischen Flüchtlinge umfaßt
22
1. Ausländer, die um Asyl nachgesucht oder einen Asylantrag gestellt haben und
nicht oder nicht mehr verpflichtet sind, in einer Aufnahmeeinrichtung des Landes
zu wohnen, ihre Ehegatten und ihre minderjährigen Kinder,
23
1. Ausländer im Sinne des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer
Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge vom 22. Juli 1980 (BGBl. I S. 1057) in
der jeweils geltenden Fassung,
24
1. Ausländer, denen nach § 33 Abs. 1 des Ausländergesetzes (AuslG) vom 9. Juli
1990 (BGBl. I S. 1354) in der jeweils geltenden Fassung die Einreise und der
Aufenthalt im Geltungsbereich des AuslG gestattet worden sind (ist),
25
1. Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge nach § 32 a AuslG,
26
1. Ausländer, für die eine Anordnung nach § 32 AuslG zur Aufnahme aus dem
Ausland ab dem 1.1.1995 getroffen worden ist,
27
1. Ausländer, deren Abschiebung aufgrund einer ab dem 1.1.1995 getroffenen
Anordnung nach § 54 AuslG ausgesetzt worden ist.
28
29
§ 3 Abs. 3
30
(3) Bei der Zuweisung ist der Bestand der in § 2 Nrn. 1 bis 6 genannten
ausländischen Flüchtlinge
31
1. 1.in den Fällen der Nummer 1 längstens für die Dauer von vier Monaten nach
unanfechtbarer Ablehnung des Asylantrages,
32
1. 2.in den Fällen der Nummern 2 bis 4 längstens für die Dauer von drei Jahren seit
der Einreise,
33
1. 3.in den Fällen der Nummern 5 bis 6 längstens für die Dauer von drei Jahren seit
der erstmaligen Anordnung,
34
35
anzurechnen. Außerdem ist der Bestand der Ausländer, denen die
Landesregierung unter Bezugnahme auf diesen Satz generell eine
Bleibemöglichkeit einräumt, längstens für die Dauer von drei Jahren seit der
erstmaligen Erteilung einer Duldung oder Aufenthaltsgenehmigung
anzurechnen. Der Bestand der ausländischen Flüchtlinge nach § 2 Nrn. 1 bis 3
ist der von der Bezirksregierung B. zuletzt fortgeschriebenen und jeweils auf der
Grundlage des Bestandes zum Stichtag 1.7. bereinigten Statistik zu entnehmen.
Die Zahl der nach Satz 2 und § 2 Nrn. 4 bis 6 anzurechnenden Ausländer ist die
von den Gemeinden jeweils zum Stichtag 1.1., 1.4., 1.7. und 1.10. erhobene und
bis zum 15. des Erhebungsmonats der Bezirksregierung B. neu gemeldete Zahl.
Der maßgebliche Personenkreis wird vom Innenministerium im Ministerialblatt
für das Land Nordrhein-Westfalen bekanntgemacht.
36
II.
37
1.
Beschwerdeführerin geltend, § 3 Abs. 3 Satz 2 FlüAG in der Fassung des 4.
Änderungsgesetzes verletze sie in ihrem Recht auf Selbstverwaltung.
38
Sie beantragt,
39
festzustellen, daß § 3 Abs. 3 Satz 2 des Flüchtlingsaufnahmegesetzes vom
27. März 1984 (GV NW S. 214) in der Fassung des Vierten Gesetzes zur
Änderung des Flüchtlingsaufnahmegesetzes vom 29. November 1994 (GV
NW S. 1087) nichtig ist.
40
Zur Begründung führt sie im wesentlichen aus:
41
Der Gesetzgeber habe dadurch ihr Selbstverwaltungsrecht verletzt, daß er bei der
Zuweisung der ausländischen Flüchtlinge die Anrechnung der de-facto-Flüchtlinge
ausschließe, deren Aufenthalt länger als drei Jahre seit der erstmaligen Erteilung einer
Duldung oder Aufenthaltsgenehmigung andauere. Er habe den ihm bei der Übertragung
von Aufgaben auf die Gemeinden zustehenden Gestaltungsspielraum überschritten.
Denn die eingeführte Anrechnungsbeschränkung sei willkürlich, weil Gemeinden mit
zufällig hohem Anteil nicht integrierter de-facto-Flüchtlinge gegenüber Gemeinden mit
zufällig geringem Anteil dieser Ausländer benachteiligt würden. Jedenfalls fehle es an
einer ihre - der Antragstellerin - Situation berücksichtigenden Härtefallregelung.
42
Die Zuwanderung der de-facto-Flüchtlinge sei nicht steuerbar. In ihrem Gemeindegebiet
hielten sich - im Vergleich mit anderen Gemeinden - herausragend viele diesem
Personenkreis zuzurechnende Ausländer, vor allem Libanesen, auf. Deshalb sei sie von
der gerügten Gesetzesänderung in besonders starkem Maße betroffen. Von den zum
Stichtag 1. Januar 1994 durch sie gemeldeten 5.383 de-facto-Flüchtlingen seien in
Anwendung der durch das 3. Änderungsgesetz zum Flüchtlingsaufnahmegesetz
geschaffenen neuen Gesetzeslage 4.275 (fast 80 %) nicht mehr auf die Asylbewerber-
Aufnahmequote angerechnet worden, obwohl sie sich - abgesehen von einer
geringfügigen Fluktuation - noch in ihrem Gebiet befänden und sie, die
Beschwerdeführerin, mit Sozialhilfeaufwendungen belasteten. Von den zur Zeit 5.489
43
de-facto-Flüchtlingen, die Sozialhilfe bezögen, seien nur 155 nach § 3 Abs. 3 Satz 2
FlüAG anrechenbar.
Die der Gesetzesänderung zugrundeliegende Annahme, de-facto-Flüchtlinge stellten
nach drei Jahren des Aufenthalts in der Regel keine Belastung mehr für die
Aufnahmegemeinde dar, treffe nicht zu. Ihr weit überwiegender Teil bedürfe auch nach
drei Jahren noch sozialer Betreuung. Nach dem Stand vom März 1994 lebten aus der
Gruppe der Libanesen und der Personen ungeklärter Staatsangehörigkeit aus dem
Libanon 87,6 % auch nach einem Aufenthalt von 3 Jahren noch dauernd von der
Sozialhilfe; bezogen auf alle de-facto-Flüchtlinge, die sich in F. aufhielten, betrage der
entsprechende Anteil 72 %. Ca. 90 % dieser statistisch erfaßten Sozialhilfeempfänger
erhielten bereits länger als drei Jahre, ca. 77 % länger als fünf Jahre und ca. 12 %
länger als zehn Jahre laufend Sozialhilfe. Mit der Aufnahme der de-facto-Flüchtlinge
seien zudem besondere Belastungen durch Wohnungsfürsorge, Beratungs- und
Betreuungsdienste verbunden. Die Belastungen seien noch dadurch angewachsen,
daß seit dem 1. Januar 1994 sämtliche Sozialhilfeaufwendungen für de-facto-
Flüchtlinge aus dem städtischen Haushalt zu erbringen seien.
44
2.
45
Sie bringt im wesentlichen vor:
46
Die angegriffene Regelung verletze das Selbstverwaltungsrecht nicht. Die Anrechnung
der de-facto-Flüchtlinge sei eine zwar zulässige, von der Verfassung aber nicht
gebotene Vergünstigung der betroffenen Gemeinden. Die Anrechnungsregelung sei von
der Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers gedeckt. Sie verfolge das Ziel, die
besonders hohe Anfangsbelastung, die sich aus der Erstaufnahme und Betreuung der
de-facto-Flüchtlinge ergebe, auszugleichen. Die Dreijahresfrist sei als eine
Pauschallösung gedacht, die im Durchschnitt, aber nicht in jedem Einzelfall die
Wirklichkeit treffen solle. Sie finde sich bereits in § 6 Abs. 4 Nr. 2 der ursprünglichen
Fassung des Flüchtlingsaufnahmegesetzes, der die Erstattung von Sozialhilfekosten
geregelt habe. Auch § 30 Abs. 4 AuslG zeige, daß nach Ablauf eines bestimmten
Zeitraums (dort zwei Jahre) eine gewisse Integrationsfähigkeit des Ausländers
angenommen werde. Die Unterschiede zwischen dem besonders
betreuungsbedürftigen Flüchtling und dem anderen Sozialhilfeempfänger schwänden
mit dem Zeitablauf. Die Zahl der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger werde im
(allgemeinen) kommunalen Finanzausgleich berücksichtigt. Die nach dreijähriger
Aufenthaltsdauer noch verbleibenden Aufwendungen fügten sich in die herkömmlichen
kommunalen Aufgaben der Sozialhilfeträger ein und bedürften keines speziellen
Ausgleichs.
47
Der Landtag hat zu der Verfassungsbeschwerde nicht Stellung genommen.
48
Wegen des Sach- und Streitstandes im übrigen wird auf die Gerichtsakte verwiesen.
49
B.
50
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Nach Art. 75 Nr. 4 LV, § 12 Nr. 8, § 52
VerfGHG können Gemeinden die Verfassungsbeschwerde mit der Behauptung
erheben, Landesrecht verletze die Vorschriften der Landesverfassung über das Recht
der Selbstverwaltung. Die Beschwerdeführerin hat mit ihrem Vorbringen zur
51
Zuwanderung der de-facto-Flüchtlinge und zu den ihr dadurch entstehenden
Aufwendungen einen Sachverhalt dargelegt, der eine Verletzung ihres Rechts auf
Selbstverwaltung aus Art. 78 Abs. 1 und 2 LV (Art. 28 Abs. 2 GG) möglich erscheinen
läßt. Da das - die Befristung der Anrechnung erstmals einführende - 3. Änderungsgesetz
zum Flüchtlingsaufnahmegesetz am 1. April 1993 in Kraft getreten ist (Art. III), hat die
Beschwerdeführerin mit der Einlegung der Verfassungsbeschwerde am 17. März 1994
die in § 52 Abs. 2 VerfGHG bestimmte einjährige Antragsfrist gewahrt.
C.
52
Die Verfassungsbeschwerde ist jedoch unbegründet. Die zeitliche Beschränkung der
Anrechnung von de-facto-Flüchtlingen nach § 3 Abs. 3 Satz 2 FlüAG in der Fassung des
4. Änderungsgesetzes verletzt die Beschwerdeführerin nicht in ihrem Recht auf
kommunale Selbstverwaltung nach Art. 78 Abs. 1 und 2 LV (Art. 28 Abs. 2 GG). Mit
dieser Regelung ist der Gesetzgeber vielmehr in den Grenzen des ihm zustehenden
Gestaltungsspielraums geblieben.
53
I.
54
Art. 78 Abs. 1 LV (Art. 28 Abs. 2 GG) gewährleistet den Gemeinden das Recht der
Selbstverwaltung mit der Befugnis zur grundsätzlich eigenverantwortlichen Führung der
Geschäfte in allen Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft (vgl. BVerfGE 56, 298
(312); VerfGH NW OVGE 26, 270 f; 33, 318 f). Die Gewährleistung gilt jedoch nicht
uneingeschränkt. Art. 78 Abs. 2 LV (Art. 28 Abs. 2 GG) ermächtigt dazu, durch Gesetz in
den Bereich der Selbstverwaltung einzugreifen.
55
Eingriffe in die kommunale Selbstverwaltung können nicht nur durch den Entzug von
Aufgaben und durch Vorschriften betreffend die Art und Weise der Aufgabenerfüllung
erfolgen, sondern mittelbar auch durch die Übertragung von zusätzlichen Aufgaben, die
die kommunalen Mittel in erheblichem Maße beanspruchen und dadurch die
Kapazitäten zur Wahrnehmung der Selbstverwaltungsaufgaben schmälern (vgl. VerfGH
NW OVGE 38, 301 (303); Petz DÖV 1991, 320 (325)).
56
Dem Gesetzgeber sind bei Eingriffen in die kommunale Selbstverwaltung Grenzen
gesetzt. Er darf den Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie nicht antasten.
Außerhalb des Kernbereichs hat der zuständigkeitsverteilende Gesetzgeber das
verfassungsrechtliche Aufgabenverteilungsprinzip hinsichtlich der Angelegenheiten der
örtlichen Gemeinschaft zu Gunsten der Gemeinden (BVerfGE 79, 127 (143, 150)) und
das Willkürverbot (VerfGH NW, NWVBl. 1993,7 (12 f.)) zu berücksichtigen. Diese
Grundsätze hat der Gesetzgeber auch bei der Festlegung der Maßstäbe für die
Verteilung der durch Gesetz der kommunalen Ebene zugeordneten Aufgaben auf die
einzelnen Gemeinden zu beachten.
57
II.
58
§ 3 Abs. 3 Satz 2 FlüAG in der Fassung des 4. Änderungsgesetzes berührt nicht den
Kernbereich der Selbstverwaltung. Trotz der zeitlichen Beschränkung der Anrechnung
des Bestandes der de-facto-Flüchtlinge und der damit einhergehenden Steigerung der
Belastung durch eine höhere Quote aufzunehmender ausländischer Flüchtlinge
verbleibt den betroffenen Gemeinden - auch der Beschwerdeführerin - ein
hinreichendes Betätigungsfeld zu eigenverantwortlicher Gestaltung. Die Aufnahme
59
weiterer Flüchtlinge mag sich auf weite Bereiche des kommunalen Lebens auswirken;
dies hat jedoch nicht zur Folge, daß ein substantieller, eigenverantwortlich
wahrzunehmender Aufgabenbestand der Kommunen nicht mehr gesichert ist.
III.
60
Auch außerhalb des Kernbereichs verletzt die angegriffene Regelung nicht das
Selbstverwaltungsrecht der Beschwerdeführerin.
61
Der Verfassungsgerichtshof hat bereits festgestellt, daß die Zuweisung der Aufgaben
der Flüchtlingsaufnahme an die Kommunen grundsätzlich verfassungsrechtlich
unbedenklich ist (NWVBl. 1993, 7 (9)). Die in der zeitlichen Beschränkung der
Anrechnung von de-facto-Flüchtlingen liegende - das Aufgabenverteilungsprinzip
zugunsten der Gemeinden nicht antastende - Ausgestaltung der Aufnahme der
Asylbewerber und anderen Flüchtlinge ist im Ergebnis nicht anders zu bewerten. Sie
steht mit dem Willkürverbot im Einklang.
62
1.
nur in einzelnen Merkmalen gleichen, ist es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers zu
entscheiden, welche von diesen Merkmalen er als maßgebend für eine Gleich- oder
Ungleichbehandlung ansieht. Das Willkürverbot verwehrt ihm grundsätzlich nur, Art und
Gewicht der tatsächlichen Unterschiede sachwidrig außer Acht zu lassen. Demgemäß
müssen bei Eingriffen in die Selbstverwaltung durch Aufgabenänderung die Ermittlung
und Abwägung der für die Aufgabenverteilung sprechenden Gründe und der mit ihr für
die einzelnen Gemeinden verbundenen Einschränkungen des eigenen
Betätigungsbereichs anhand von Sachkriterien unter Orientierung an den
Anforderungen erfolgen, die an eine ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung zu stellen
sind. Dabei sind die im Blick auf die jeweilige Aufgabenübertragung erheblichen
Besonderheiten betroffener Gemeinden zu berücksichtigen. Eine Notwendigkeit zur
Differenzierung besteht allerdings nur in beschränktem Umfang; angesichts des
generellen Charakters der gesetzgeberischen Einschätzung ist eine Typisierung und
Pauschalierung zulässig (VerfGH NW NWVBl. 1993, 7 (9)). Der hierfür gegebene
Spielraum ist um so weiter, je mehr sich der zu regelnde Sachverhalt aufgrund seiner
Komplexität und Wandlungsanfälligkeit einer Prognose entzieht. Im Einzelfall kann sich
deshalb jede nicht offensichtlich sachwidrige Regelung als willkürfrei erweisen. Von
einem selbst gesetzten Regelsystem oder von ihm getroffenen Wertungen darf der
Gesetzgeber abweichen, wenn dies durch plausible Gründe gerechtfertigt und vertretbar
ist (vgl. BVerfGE 81, 156 (207); 85, 238 (247)). Bei Eingriffen in die kommunale
Selbstverwaltung durch die Übertragung oder den Entzug von Aufgaben beschränkt
sich die verfassungsgerichtliche Prüfung der Vertretbarkeit nach der Rechtsprechung
des Verfassungsgerichtshofs nicht auf die vom Gesetzgeber angestellten -
gegebenenfalls in den Gesetzesmaterialien dokumentierten - Überlegungen. Die
Vertretbarkeit kann vielmehr auch aus objektiven Gründen hervorgehen (VerfGH NW
OVGE 42, 270 ff.).
63
2.
Anrechungsregelung ist im Zusammenhang mit den weiteren Anrechnungsvorschriften
aus objektiven Gründen vertretbar.
64
a)
65
regelnden Sachverhalts einen weiten Gestaltungsspielraum. Diesen hat er mit der
angegriffenen, nicht offensichtlich sachwidrigen Regelung nicht überschritten. Das mit
den Anrechnungsvorschriften verfolgte Ziel ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Es
bestand darin, die mit der Aufnahme von Flüchtlingen - im Vergleich zur Betreuung
deutscher Sozialhilfeempfänger - verbundenen besonderen Belastungen bei der
Flüchtlingszuweisung zu berücksichtigen. Um dieses Ziel zu erreichen, war es
sachgerecht und nicht willkürlich, die Anrechnung des Bestands der bereits in einer
Gemeinde lebenden Flüchtlinge nur für eine bestimmte Dauer des Aufenthalts
zuzulassen. Dem liegt die plausible Annahme zugrunde, daß die Integration von
ausländischen Flüchtlingen mit der Dauer ihres Aufenthalts in Deutschland fortschreitet.
Ihre Plausibilität wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß sie nicht für jede der
zahlreichen und vielfältigen Ausländergruppen in Deutschland in gleichem Maße gilt.
Ausmaß und Zeiterfordernis der Eingliederung werden je nach Kulturkreis bzw.
Herkunftsland, aus dem die Flüchtlinge stammen, verschieden sein. Außerdem hängt
die Möglichkeit einer kontinuierlichen Integration von den unterschiedlichen
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen in den Aufnahmegemeinden (etwa
von der Lage auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt) ab.
Die zeitliche Begrenzung der Anrechnung von de-facto-Flüchtlingen erweist sich auch
angesichts dessen als nicht sachwidrig, daß inzwischen nach § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1
FlüAG auch Asylbewerber nur noch zeitlich begrenzt angerechnet werden.
66
b)
Anrechnung gerade bei einer dreijährigen Aufenthaltsdauer gezogen und dabei nicht
weiter nach Flüchtlingsgruppen und aufnehmenden Gemeinden differenziert hat. Die
Möglichkeit, eine nach allen denkbaren Faktoren differenzierende
Anrechnungsregelung zu schaffen, scheidet aus. Darüber hinaus entziehen sich die
aufgeführten Entwicklungen verläßlichen Prognosen. Jedenfalls bieten sie keinen
Anhalt für die Notwendigkeit einer unbeschränkten Anrechnung oder der Bemessung
des Anrechnungszeitraums mit einer bestimmten anderen Anzahl von Jahren.
67
Die Begrenzung auf drei Jahre ist zwar nicht durch Ergebnisse spezieller
Untersuchungen gestützt. Jedoch drängt sich unter den möglichen Begrenzungen einer
Anrechnung keine andere als allein sachgerecht auf. Insbesondere wäre eine
Erweiterung des Anrechnungszeitraums auf mehr als drei Jahre den gleichen
Einwendungen ausgesetzt wie die gewählte Begrenzung. Dafür sprechen gerade auch
die von der Beschwerdeführerin zur Inanspruchnahme von Sozialhilfemitteln durch
libanesische Flüchtlinge in F. genannten Zahlen. Danach hält die sozialhilferechtliche
Bedürftigkeit vieler sich bei ihr aufhaltender Libanesen über Jahre an, ohne daß eine
andere Entwicklung erkennbar ist. Dann ist es nicht offensichtlich sachwidrig, wenn der
Gesetzgeber generell auf die Anfangszeit des Aufenthalts abstellt und nur sie zur
Anrechnung bringt.
68
Bei der Gruppe der grundsätzlich nach § 3 Abs. 3 Satz 2 FlüAG in der Fassung des 4.
Änderungsgesetzes anzurechnenden de-facto-Flüchtlinge handelt es sich überdies um
einen durch Fluktuation tendenziell abnehmenden Personenkreis. Denn nach dem 1.
Januar 1995 eingereiste de-facto-Flüchtlinge, für die generelle
Bleiberechtsentscheidungen getroffen worden sind, zählen nicht zu diesem
Personenkreis, sondern zu dem des § 2 Nr. 4 bis 6 FlüAG. Darüber hinaus unterfallen
Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina § 2 Nr. 6 FlüAG und nicht § 3 Abs. 3 Satz 2
FlüAG und zwar unabhängig davon, ob sie vor oder nach dem 1. Januar 1995 eingereist
69
sind, wie sich aus Art. 4 Nr. 1 des Gesetzes vom 29. November 1994 (GV NW S. 1087) -
Übergangsregelung zum 4. Änderungsgesetz zum Flüchtlingsaufnahmegesetz - ergibt.
Ferner ist aus dem Runderlaß des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen
vom 3. Februar 1994 (MBl. NW S. 329) in der Fassung des Runderlasses vom 8. Mai
1995 (MBl. NW S. 705) zu ersehen, daß ein Großteil der nach § 3 Abs. 3 Satz 2 FlüAG
in der Fassung des 4. Änderungsgesetzes grundsätzlich anrechenbaren de-facto-
Flüchtlinge bis zu einem Zeitpunkt in der zweiten Hälfte der 80er Jahre eingereist sein
muß (betroffen sind Flüchtlinge aus Äthiopien, China, Iran, Libanon, Sri Lanka, Türkei,
den Ländern des ehemaligen Ostblocks).
c)
berücksichtigende Härteregelung hätte treffen müssen, sind nicht ersichtlich. Zum einen
handelt es sich bei dem von der Beschwerdeführerin in den Vordergrund gerückten
Personenkreis der sich in F. aufhaltenden Flüchtlinge aus dem Libanon nur um eine
verhältnismäßig kleine Teilgruppe aus dem tendenziell abnehmenden Personenkreis
der in Rede stehenden de-facto-Flüchtlinge. Zum anderen ist aufgrund der Instabilität
der Wanderungsbewegungen, von der potentiell alle nordrhein-westfälischen
Gemeinden betroffen sind, kein generelles Unterscheidungsmerkmal ersichtlich, das
dem Gesetzgeber als Anknüpfungspunkt für eine den Besonderheiten des Einzelfalles
Rechnung tragende Härteregelung hätte dienen können.
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