Urteil des VerfG Nordrhein-Westfalen vom 16.12.2008

VerfG Nordrhein-Westfalen: politische partei, verteilung der sitze, sperrklausel, chancengleichheit, zahl, sitzzuteilung, sitzverteilung, gesetzgebungsverfahren, eingriff, gestaltungsspielraum

Verfassungsgerichtshof NRW, VerfGH 12/08
Datum:
16.12.2008
Gericht:
Verfassungsgerichtshof NRW
Spruchkörper:
Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein- Westfalen
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
VerfGH 12/08
Tenor:
Der Antragsgegner hat das Recht der Antragstellerin auf
Chancengleichheit als politische Partei aus Art. 21 Abs. 1 des
Grundgesetzes (GG), Art. 1 Abs. 1 der Landesverfassung (LV) und auf
Gleichheit der Wahl aus Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG, Art. 1 Abs. 1, Art. 2 LV
dadurch verletzt, dass er durch das Gesetz zur Änderung des
Kommunalwahlgesetzes vom 9. Oktober 2007 (GV. NRW. S. 374) in §
33 Abs. 3 Satz 1 des Kommunalwahlgesetzes (KWahlG) Parteien oder
Wählergruppen bei der Sitzzuteilung unberücksichtigt lässt, die nach §
33 Abs. 2 KWahlG nicht mindestens eine Zahl von 1,0 für einen einzigen
Sitz erreichen.
Die notwendigen Auslagen der Antragstellerin sind vom Land
Nordrhein-Westfalen zu erstatten.
G r ü n d e :
1
A.
2
Der Organstreit betrifft die Frage, ob der Antragsgegner die Rechte der Antragstellerin
auf Chancengleichheit als politische Partei und auf Gleichheit der Wahl verletzt hat,
indem die Berücksichtigung bei der Sitzzuteilung bei der Kommunalwahl nunmehr
voraussetzt, dass eine Partei oder Wählergruppe mindestens eine Zahl von 1,0 für einen
einzigen Sitz erreicht (§ 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG).
3
I.
4
1. Dem Kommunalwahlrecht in Nordrhein-Westfalen liegt ein Mischsystem aus
vorgeschalteter Mehrheitswahl und ausgleichender Verhältniswahl nach Reservelisten
im ganzen Wahlgebiet zugrunde.
5
Mit Urteil vom 6. Juli 1999 entschied der Verfassungsgerichtshof für das Land
Nordrhein-Westfalen, dass die Beibehaltung der 5 v.H.-Sperrklausel in § 33 Abs. 1
KWahlG (a.F.) mit dem Recht auf Chancengleichheit als politische Partei aus Art. 21
GG, Art. 1 Abs. 1 LV und dem Recht auf Gleichheit der Wahl aus Art. 28 Abs. 1 Satz 2
GG, Art. 1 Abs. 1, Art. 2 LV nicht vereinbar ist. Der Verfassungsgerichtshof stellte
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maßgeblich darauf ab, der nordrhein-westfälische Gesetzgeber habe seine
Entscheidung, die 5 v.H.-Sperrklausel nicht aufzuheben oder abzumildern, vor dem
Hintergrund der substantiellen Neuordnung der Kommunalverfassung (Verlagerung der
Wahl des kommunalen Hauptverwaltungsbeamten auf die Bürger) nicht hinreichend
begründet (OVGE 47, 304). Auf Grund des Urteils wurde die Sperrklausel durch das
Gesetz zur Änderung wahlrechtlicher Vorschriften vom 14. Juli 1999 (GV. NRW. S. 412)
ersatzlos gestrichen.
Auf eine Kleine Anfrage zu den Auswirkungen des Wegfalls der 5 v.H.- Sperrklausel in
den 427 Kommunalvertretungen des Landes (Landtags-Drucksache - LT NRW-Drs. -
14/3610) antwortete der Innenminister im Februar 2007, nach dem Ergebnis der
Kommunalwahl 1994 hätten sich unter 17.293 Mandaten 44 Einzelmandatsträger
befunden. Für die Kommunalwahl 1999 (erstmals ohne Sperrklausel) hätte sich ein
Verhältnis von 16.722 Mandaten zu 241 Einzelmandatsträgern ergeben. Nach der
Kommunalwahl von 2004 liege das Verhältnis bei 16.838 zu 195. Die Landesregierung
verfüge über keine Erkenntnisse, dass wegen des Wegfalls der 5 v.H.-Sperrklausel die
Beratungs- und Entscheidungsabläufe in den 427 Kommunalvertretungen maßgeblich
beeinträchtigt seien (LT NRW-Drs. 14/3758).
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2. Im März 2007 brachte die Landesregierung den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
des Kommunalwahlgesetzes in den Landtag ein (LT NRW-Drs. 14/3977). U.a. sollte die
Berechnung der Sitze nach der Reserveliste von dem Proportionalverfahren nach
Hare/Niemeyer auf das Divisorverfahren mit Standardrundung nach Sainte-
Laguë/Schepers umgestellt sowie ein Mindestsitzanteil von 0,75 für die Erlangung eines
ersten und einzigen Mandats vorgesehen werden.
8
In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es dazu, das Divisorverfahren mit
Standardrundung führe anerkanntermaßen zu einer noch besser austarierten Verteilung
der Sitze. Zahlenreste unter 0,5 würden nicht berücksichtigt, wohl aber alle ab 0,5 durch
Aufrundung. Durch die "Mittelung" der Zahlenbruchteile bringe das Divisorverfahren
allen Parteien und Wählergruppen grundsätzlich gleichermaßen Vor- und Nachteile.
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Zu dem Mindestsitzanteil von 0,75 vermerkt die Begründung des Gesetzentwurfs: Wenn
eine Partei oder Wählergruppe nicht einen rechnerischen Zahlenbruchteil oder
"Sitzanteil" von mindestens 0,75 und damit nicht annähernd einen ersten und einzigen
Sitz erreiche, erscheine es mangels ausreichenden Rückhalts in der Wählerschaft nicht
gerechtfertigt, ihr bei der Verwertung der Reststimmen hinter dem Komma nach
Ermittlung der ganzzahligen Sitze vor dem Komma rechnerisch einen Sitz in der
Kommunalvertretung zu Lasten anderer Wahlvorschlagsträger zuzuteilen. Bereits nach
der Standardrundung erhalte eine Partei oder Wählergruppe mit einem rechnerischen
Zahlenbruchteil von unter 0,5 systemimmanent und damit in Bezug auf alle
Wahlvorschlagsträger gleichermaßen neutral keinen Sitz. Nach der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts sei es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, die je für
sich nicht absolut zu verwirklichenden Belange der Gleichheit der Wahl und der
Chancengleichheit der Wahlvorschlagsträger zum Ausgleich zu bringen.
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Der Ausschuss für Kommunalpolitik und Verwaltungsstrukturreform führte im Juni 2007
eine öffentliche Anhörung durch. Neben Rechtswissenschaftlern äußerten sich u.a.
Vertreter des Städte- und Gemeindebundes Nordrhein-Westfalen und des
Landkreistages Nordrhein-Westfalen (Ausschussprotokoll 14/437). Zur abschließenden
Ausschusssitzung im September 2007 wurde der Änderungsantrag eingebracht, die
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rechnerische Mindestsitzzahl für die Erlangung eines ersten und einzigen Mandats auf
1,0 zu erhöhen. Zur Begründung ist vermerkt, es handele sich dabei um eine
Zugangsbeschränkung, die dem vom Bundesverfassungsgericht für eine Zugangshürde
als legitim erachteten Anliegen einer effektiven Integration des Staatsvolkes diene. Der
Gesetzgeber müsse zu verhindern suchen, dass gewichtige Anliegen im Volke von der
Volksvertretung ausgeschlossen blieben. Er verfüge über einen Beurteilungs- und
Gestaltungsspielraum bei der Entscheidung, inwieweit Gruppierungen zu
berücksichtigen seien, die nur eine geringe Stimmenzahl auf sich vereinigten. Die
Anhebung des bislang vorgesehenen Mindestsitzanteils von 0,75 auf 1,0 bewege sich
innerhalb des gesetzgeberischen Spielraums (LT NRW-Drs. 14/4980). Am Ende der
Beratungen nahm der Ausschuss den Gesetzentwurf der Landesregierung mit der
vorgenannten Änderung mehrheitlich an (Ausschussprotokoll 14/479).
Am 20. September 2007 verabschiedete der Landtag in dritter Lesung das Gesetz zur
Änderung des Kommunalwahlgesetzes (Plenarprotokoll 14/70), das am 16. Oktober
2007 verkündet worden ist (GV. NRW. S. 374) und am 17. Oktober 2007 in Kraft getreten
ist.
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Die einschlägige Bestimmung des Kommunalwahlgesetzes, zuletzt geändert durch das
Gesetz über die Zusammenlegung der allgemeinen Kommunalwahl mit den
Europawahlen (KWahlZG) vom 24. Juni 2008 (GV. NRW. S. 514), lautet:
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§ 33
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(1) 1Der Wahlausschuss zählt zunächst die für alle Bewerber abgegebenen gültigen
Stimmen, nach Parteien, Wählergruppen und Einzelbewerbern getrennt, zusammen
(Gesamtstimmenzahl). 2Durch Abzug der Stimmen der Parteien und Wählergruppen, für
die keine Reserveliste zugelassen ist, und der Stimmen der Einzelbewerber von der
Gesamtstimmenzahl wird die bereinigte Gesamtstimmenzahl gebildet.
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(2) 1Von der gemäß § 3 in jedem Wahlgebiet zu wählenden Gesamtzahl von Vertretern
wird die Zahl der erfolgreichen Wahlbezirksbewerber abgezogen, die als
Einzelbewerber aufgetreten oder von einer nach Absatz 1 Satz 2 nicht zu
berücksichtigenden Partei oder Wählergruppe vorgeschlagen sind. 2Von der so
gebildeten Ausgangszahl werden den am Verhältnisausgleich teilnehmenden Parteien
und Wählergruppen nach dem Divisorverfahren mit Standardrundung so viele Sitze
zugeteilt, wie ihnen im Verhältnis der auf ihre Reserveliste entfallenen Stimmenzahlen
zur Gesamtstimmenzahl nach Absatz 1 zustehen (erste Zuteilungszahl). 3Jede Partei
oder Wählergruppe erhält so viele Sitze, wie sich nach Teilung ihrer Stimmen durch den
Zuteilungsdivisor und anschließender Rundung ergeben. 4Der Zuteilungsdivisor ist so
zu bestimmen, dass insgesamt so viele Sitze wie nach der Ausgangszahl auf die
Reserveliste entfallen. 5Bei der Rundung sind Zahlenbruchteile unter 0,5 auf die
darunter liegende Zahl abzurunden und Zahlenbruchteile ab 0,5 auf die darüber
liegende Zahl aufzurunden. 6Kommt es bei Berücksichtigung von bis zu vier Stellen
nach dem Komma zu Rundungsmöglichkeiten mit gleichen Zahlenbruchteilen,
entscheidet das vom Wahlleiter zu ziehende Los. 7Zur Ermittlung des Zuteilungsdivisors
ist die Gesamtstimmenzahl durch die Ausgangszahl zu teilen. 8Falls nach dem sich so
ergebenden Divisor bei Rundung insgesamt weniger Sitze als nach der Ausgangszahl
vergeben würden, ist der Divisor auf den nächstfolgenden Divisor, der bei Rundung die
Ausgangszahl ergibt, herunterzusetzen; würden insgesamt mehr Sitze als nach der
Ausgangszahl vergeben, ist der Divisor auf den nächstfolgenden Divisor, der bei
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Rundung die Ausgangszahl ergibt, heraufzusetzen.
(3) 1Parteien oder Wählergruppen, die nach Absatz 2 nicht mindestens eine Zahl von
1,0 für einen einzigen Sitz erreichen, bleiben bei der Sitzzuteilung unberücksichtigt. 2In
diesem Fall findet eine erneute Sitzberechnung nach Absatz 2 statt. 3Dabei werden von
der Gesamtstimmenzahl nach Absatz 1 die Stimmenzahlen der nach Satz 1 und nach
Absatz 2 bei der Sitzverteilung nicht zu berücksichtigenden Parteien oder
Wählergruppen abgezogen.
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3. Die Antragstellerin hat in Nordrhein-Westfalen mehrfach an Landtags- und
Kommunalwahlen teilgenommen. Bei der letzten Kommunalwahl im September 2004
erreichte sie Sitze in verschiedenen Gemeinderäten und Kreistagen, darunter jeweils
einen Sitz in den Städten Münster und Dülmen, der Gemeinde Verl sowie im Kreis
Gütersloh.
18
II.
19
1. Mit dem am 8. April 2008 eingeleiteten Organstreitverfahren wendet sich die
Antragstellerin gegen die Regelung in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG.
20
Sie beantragt,
21
festzustellen, dass der Antragsgegner dadurch das Recht der Antragstellerin auf
chancengleiche Teilnahme an den Kommunalwahlen aus Art. 21 GG, Art. 1 Abs. 1
Landesverfassung NRW und auf Gleichheit der Wahl aus Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 1
Abs. 1, Art. 2 Landesverfassung NRW verletzt hat, dass er im Zuge der Änderung des
Kommunalwahlgesetzes durch das Gesetz zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes
vom 09.10.2007, verkündet am 16.10.2007 (GV. NRW. S. 374), in § 33 Abs. 3 S. 1
KWahlG eine 1,0-Sitz-Sperrklausel eingeführt hat,
22
hilfsweise,
23
festzustellen, dass der Antragsgegner das Recht der Antragstellerin auf chancengleiche
Teilnahme an den Kommunalwahlen aus Art. 21 GG, Art. 1 Abs. 1 Landesverfassung
NRW und auf Gleichheit der Wahl aus Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 1 Abs. 1, Art. 2
Landesverfassung NRW dadurch verletzt hat, dass er es unterlassen hat, im Zuge der
Änderung des Kommunalwahlgesetzes durch das Gesetz zur Änderung des
Kommunalwahlgesetzes vom 09.10.2007, verkündet am 16.10.2007 (GV.NRW. S. 374),
den in § 33 Abs. 3 S. 1 KWahlG für die Zuteilung eines ersten Sitzes vorgesehenen
Faktor auf einen niedrigeren Wert als 1,0 festzulegen.
24
Zur Begründung trägt die Antragstellerin vor:
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a) Die in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG getroffene Regelung begründe im Ergebnis für
kleinere Parteien eine erhebliche Zugangshürde, die in ihren Wirkungen einer
Sperrklausel gleichkomme. Zwar verfüge der Antragsgegner bei der Ausgestaltung des
kommunalen Wahlsystems unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich über einen weiten Gestaltungsspielraum.
Diesen Spielraum habe er mit der Regelung in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG jedoch
deutlich überschritten.
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Das Bundesverfassungsgericht leite aus dem Recht auf Chancengleichheit der
politischen Parteien und auf Gleichheit der Wahl bezogen auf Verhältniswahlen das
Gebot her, dass jeder Wählerstimme im Grundsatz nicht nur der gleiche Zählwert,
sondern auch der gleiche Erfolgswert zukommen müsse. Dieses Gebot werde durch die
Neuregelung in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG erheblich tangiert, weil Wählerstimmen, die
auf eine Partei entfielen, die bei der Berechnung der Sitzverteilung nicht mindestens
einen Zuteilungswert von 1,0 erreiche, kein Erfolgswert beigemessen werde. Die
verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Sperrklauseln unterliege hohen Anforderungen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 95, 408, 418) und
ebenso des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen (OVGE 47, 304)
zu den 5 v.H.-Sperrklauseln auf Kommunalwahlebene seien derartige Zugangshürden
nur bei Vorliegen eines zwingenden Grundes gerechtfertigt. Die Rechtsprechung sei auf
die hier in Rede stehende Sperrklausel übertragbar.
27
b) Für die Einführung der Sperrklausel nach § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG fehle es an
einer sachlichen Rechtfertigung. Ein zwingender Grund im Sinne der genannten
verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung sei im Gesetzgebungsverfahren nicht
dargelegt worden und auch sonst nicht ersichtlich. Nicht ausreichend sei der Hinweis in
den Gesetzesmaterialien, § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG gewährleiste für die Zuteilung des
ersten und einzigen Sitzes einen durch genügend Stimmen manifestierten Rückhalt in
der Wählerschaft. Diese Erwägung werde den verfassungsgerichtlichen Vorgaben nicht
gerecht, wonach bislang allein der Schutz des zu wählenden Gremiums vor
Funktionsbeeinträchtigungen als zwingender Grund anerkannt sei.
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Darüber hinaus überzeuge die Argumentation auch in der Sache nicht. Es sei nicht
nachvollziehbar, weshalb ein einzelner gewählter Bewerber einen stärkeren Rückhalt in
der Wählerschaft benötigen solle als er nach den allgemein geltenden
Sitzverteilungsregelungen ohnehin schon erforderlich sei. Dass sich die
Berücksichtigung von Zahlenbruchteilen bei der Sitzverteilung im Einzelfall zu Lasten
anderer Parteien auswirken könne, sei keine Besonderheit der Sitzzuteilung an Parteien
oder Wählergruppen mit vergleichsweise geringem Stimmenanteil, sondern dem
zugrunde liegenden Berechnungssystem immanent.
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Schließlich erscheine die Festlegung des rechnerischen Mindestsitzanteils auf 1,0
willkürlich gegriffen, zumal nach dem Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens
ursprünglich bereits ein Wert von 0,75 einen ausreichenden Rückhalt in der
Wählerschaft belegen sollte. Die spätere Anhebung auf 1,0 sei nicht weiter begründet
worden.
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Die Auswertung der Gesetzesmaterialien lasse eher auf die gesetzgeberische Absicht
schließen, den politisch möglicherweise unerwünschten Einzelmandatsträgern den
Zugang zu den Kommunalvertretungsorganen durch Einführung einer Sperrklausel zu
erschweren. Auch diese Zielsetzung sei indes nur tragfähig, wenn der verstärkte Einzug
von Einzelmitgliedern in Gemeinderäte bzw. Kreistage zwangsläufig und nachweisbar
zu einer erheblichen Funktionsbeeinträchtigung in den Gremien führe. Nach der
Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen müsse
der Gesetzgeber unter gründlicher Herausarbeitung der wesentlichen Aufgaben der
Kommunalvertretungen und unter Heranziehung empirischer Erhebungen begründen,
welche Funktionsstörungen ganz konkret ohne Sperrklausel zu erwarten seien bzw.
welche Funktionsbeeinträchtigungen in der Vergangenheit bereits eingetreten seien.
Diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt.
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c) Die Intensität der durch § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG bewirkten Verletzungen der
Antragstellerin in ihren Rechten auf Chancengleichheit und Gleichheit der Wahl werde
deutlich, wenn man untersuche, welche Auswirkungen die Sperrklausel auf die
Sitzverteilung bei der letzten Kommunalwahl gehabt hätte. Danach würde die
Antragstellerin in immerhin vier der sieben Vertretungsorgane, in denen sie bislang
vertreten sei, nicht mehr präsent sein. Diese Schlechterstellung beruhe nicht auf der
Einführung des Divisorverfahrens mit Standardrundung, sondern allein auf der durch §
33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG begründeten zusätzlichen Hürde für die Zuweisung eines
ersten Sitzes. Bemerkenswert sei zudem, dass die Stimmenzahl, die im Rahmen der
ausgleichenden Verhältniswahl zur Erlangung eines ersten Sitzes erreicht werden
müsse, von Wahlkreis zu Wahlkreis in Abhängigkeit von der Zahl der zu vergebenden
Sitze differiere. Je kleiner die Sitzzahl, desto höher sei prozentual gesehen die benötigte
Stimmenzahl. So bewege sich in den hier einbezogenen Wahlkreisen der
Stimmenanteil innerhalb einer Spannbreite von 1,36 v.H. und 3,27 v.H.
32
2. Der Antragsgegner beantragt,
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den Antrag zurückzuweisen.
34
Er macht geltend, der Antrag sei unbegründet.
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a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedeute das Erfordernis
des "zwingenden Grundes" nicht, dass sich die Differenzierung beim Erfolgswert der
Wählerstimmen von Verfassungs wegen als notwendig darstellen müsse. Es genügten
auch zureichende, sich aus der Natur des Sachbereichs der Wahl der Volksvertretung
ergebende Gründe. Das erlaubte Ausmaß einer Differenzierung richte sich ferner
danach, mit welcher Intensität in den Grundsatz der Gleichheit der Wahl eingegriffen
werde.
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Eine Sperrklausel auf Kommunalwahlebene sei nicht generell unzulässig. Soweit die
Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretungen gefährdet sei, dürfe der Gesetzgeber sie
durch eine Sperrklausel sichern. Voraussetzung sei eine belastbare
Prognoseentscheidung. Nach den Maßgaben des Verfassungsgerichtshofs für das Land
Nordrhein-Westfalen in seiner Entscheidung vom 6. Juli 1999 müsse die Prognose
nachvollziehbar begründet und auf tatsächliche Entwicklungen gerichtet sein, deren
Eintritt der Gesetzgeber bei einem Wegfall bzw. Beibehalten der Sperrklausel konkret
erwarte. Drohten Funktionsstörungen lediglich in einzelnen Kommunalvertretungen,
seien die Wirkungen der Sperrklausel gegen die Bedeutung der Grundsätze der Wahl-
und Chancengleichheit für alle Kommunalvertretungen abzuwägen. Zur Rechtfertigung
einer Sperrklausel sei ferner die Erwägung tragfähig, damit den Charakter der Wahl als
eines Integrationsvorganges bei der politischen Willensbildung des Volkes zu sichern.
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b) Die Anforderungen an die Zulässigkeit von Sperrklauseln seien auf
Rundungsregelungen nicht ohne Weiteres übertragbar. Letztere erfüllten eine andere
Funktion und seien typischerweise mit geringeren Eingriffen in die Rechte auf
Chancengleichheit als politische Partei und auf Gleichheit der Wahl verbunden.
Während es sich bei den Sperrklauseln um von außen herangetragene
Beschränkungen der Erfolgswertgleichheit handele, seien Rundungsregelungen aus
dem jeweiligen Sitzzuteilungsverfahren resultierende, also systemimmanente
Zugangshürden für die Erlangung des ersten Sitzes. Solche "natürlichen Quoren"
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verlangten anders als die klassischen Sperrklauseln keine feststehende Prozentzahl,
sondern variierten in der Höhe in Abhängigkeit von der Anzahl der zu verteilenden
Sitze. In diesem Sinne entfalteten sie eine faktische Sperrwirkung, die Ähnlichkeiten mit
einer Sperrklausel aufweisen könne.
Die mit Rundungseffekten einhergehenden Verzerrungen seien in einem
Verhältniswahlsystem unvermeidbar und träten - wenngleich in unterschiedlichem
Umfang - bei jedem mathematischen Berechnungsverfahren zur Sitzverteilung auf.
Soweit die Verzerrungen auf der konsequenten Anwendung eines verfassungsrechtlich
nicht zu beanstandenden Zählverfahrens beruhten, seien die mit ihnen zwangsläufig
verbundenen Beeinträchtigungen der Wahl- und Chancengleichheit - soweit überhaupt
rechtfertigungsbedürftig - jedenfalls im Interesse der Durchführbarkeit des
Wahlverfahrens gerechtfertigt. Weder das Grundgesetz noch die Verfassung des
Landes Nordrhein-Westfalen schrieben für Kommunalwahlen ein bestimmtes
Berechnungssystem für die Sitzzuteilung im Rahmen der ausgleichenden
Verhältniswahl vor. Bei der Regelung solch eher technischer Fragen verfüge der
Gesetzgeber über einen deutlich größeren Gestaltungsspielraum als bei der Einführung
einer Sperrklausel. Greife er allerdings in das Wahlsystem ein, indem er einzelne
Parameter oder Wirkungen des Zählverfahrens modifiziere, seien die Auswirkungen auf
die Erfolgswertgleichheit der Stimmen nicht unvermeidbar. In einem solchen Fall müsse
sich der Eingriff an den Anforderungen für die Zulässigkeit von Sperrklauseln messen
lassen.
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c) Hieran gemessen sei die mit § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG eingeführte Mindestsitzzahl
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es handele sich um eine
Rundungsregelung, die an die Umstellung des Sitzzuteilungsverfahrens auf die
Methode nach Sainte-Laguë/Schepers anknüpfe. § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG
modifiziere das Divisorverfahren mit Standardrundung für Listen, auf die rechnerisch
kein ganzer Sitz entfalle. Die damit verbundenen Beeinträchtigungen der
Erfolgswertgleichheit und wahlrechtlichen Chancengleichheit seien gering. Zu
berücksichtigen sei, dass die betroffenen Wahlvorschlagsträger die mathematisch für
einen Sitz erforderliche Stimmenzahl nicht erreicht hätten und daher grundsätzlich
keinen Sitz beanspruchen könnten. Für sie gehe es letztlich nur um die Vorenthaltung
einer Privilegierung. Dementsprechend habe die überwiegende Anzahl der
Sachverständigen im Anhörungsverfahren die in Rede stehende Regelung als
verfassungsrechtlich unproblematisch eingestuft. Bis zu einem Mindestsitzanteil von
0,75 führe das Divisorverfahren mit Standardrundung stets zu einer überproportionalen
Privilegierung derjenigen Wahlvorschlagsträger, auf die kein ganzer Sitz entfalle, und zu
einer Benachteiligung aller Parteien und Wählergruppen, die einen oder mehr Sitze
erreicht hätten. Wendete man das Verfahren nach Sainte- Laguë/Schepers ohne die
Modifikation in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG an, würden sich Wahlvorschläge, die einen
rechnerischen Sitzanteil von 0,5 erzielten, hinsichtlich der Sitzzuteilung genauso stehen
wie Wahlvorschläge, die mit einem Anteil von 1,49 das dreifache Stimmenaufkommen
auf sich vereinigten. Der Gesetzgeber sei nicht verpflichtet, diese aus der Anwendung
eines bestimmten Berechnungssystems resultierenden Verzerrungen bei der
Erfolgswertgleichheit der Stimmen hinzunehmen. Es unterliege seinem
Beurteilungsspielraum, wie er damit umgehe, es sei denn, eine bestimmte Lösung
erweise sich unter Gleichheitsgesichtspunkten als evident vorzugswürdig. Dies sei hier
nicht der Fall.
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d) Soweit § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG im Bereich eines Mindestsitzanteils von mehr als
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0,75 und weniger als 1,0 faktisch als Sperrklausel wirke, lasse sich der Eingriff in die
Erfolgswert- und Chancengleichheit mit der Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der
Kommunalvertretung rechtfertigen. Auf Grund der eher geringen Eingriffsintensität stelle
sich das gesetzgeberische Ziel, eine zu starke Zersplitterung innerhalb der kommunalen
Vertretungskörperschaft zu vermeiden, auch bei abstrakter Betrachtung als legitimer
Grund für die streitige Regelung dar. Zudem seien im Gesetzgebungsverfahren konkrete
Anhaltspunkte für eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Vertretungsorgane
angesprochen worden.
Darüber hinaus habe der Gesetzgeber die Rundungsregelung zulässigerweise auch mit
der Erwägung rechtfertigen können, nur solchen Parteien und Wählergruppen den
Zugang zu den Kommunalvertretungen ermöglichen zu wollen, die ein gewisses Maß
an Unterstützung in der Bevölkerung hätten. Die vom Verfassungsgerichtshof für das
Land Nordrhein-Westfalen entwickelten Anforderungen an die gesetzgeberische
Darlegung und Begründung der Notwendigkeit einer Sperrklausel seien auf die
Rundungsregelung in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG nicht übertragbar. Ausreichend sei die
Begründbarkeit der Regelung. Im Übrigen seien zwei Sachgründe im
Gesetzgebungsverfahren benannt und diskutiert worden.
42
3. Der Landesregierung Nordrhein-Westfalen ist von der Einleitung des Verfahrens
Kenntnis gegeben worden.
43
B.
44
Der Antrag ist gemäß Art. 75 Nr. 2 LV, § 12 Nr. 5, §§ 43 ff. VerfGHG zulässig.
45
I.
46
Die Antragstellerin kann als Landesverband einer politischen Partei Beteiligte eines
Organstreitverfahrens sein (vgl. VerfGH NRW, OVGE 44, 301 <303>; OVGE 47, 304
<305>; OVGE 49, 290, jeweils m.w.N.).
47
II.
48
Die Antragstellerin ist gemäß § 44 Abs. 1 VerfGHG antragsbefugt. Sie kann geltend
machen, sie sei durch ein Verhalten des Antragsgegners in den ihr durch die
Landesverfassung übertragenen Rechten verletzt oder unmittelbar gefährdet.
49
1. Zum verfassungsrechtlichen Status der politischen Parteien gehört zum einen ihr
Recht auf Chancengleichheit bei Wahlen. Der Grundsatz der Chancengleichheit für
Wahlbewerber findet für politische Parteien seine Grundlage in Art. 21 Abs. 1 GG,
dessen Grundsätze als Landesverfassungsrecht unmittelbar auch in den Ländern gelten
(vgl. VerfGH NRW, OVGE 47, 304 <305> m.w.N.). Das Recht der politischen Parteien
auf Chancengleichheit ergibt sich aus der Bedeutung, die der Freiheit der
Parteigründung und dem Mehrparteienprinzip für die freiheitliche Demokratie zukommt,
und aus dem vom Grundgesetz gewollten freien und offenen Prozess der Meinungs-
und Willensbildung des Volkes (vgl. BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -,
NVwZ 2008, 407 <409>; VerfGH NRW, OVGE 47, 304 <305>; Beschluss vom 23. Juli
2002 - VerfGH 2/01 -, NWVBl. 2003, 12, jeweils m.w.N.). Der Grundsatz der
Chancengleichheit verlangt, dass jeder Partei, jeder Wählergruppe und ihren
Wahlbewerbern grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren
50
und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden (BVerfG,
a.a.O.).
Zum verfassungsrechtlichen Status der politischen Parteien gehört zum anderen ihr
Recht auf Wahlrechtsgleichheit. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl wird ebenso wie
die anderen Wahlrechtsgrundsätze im Bereich der Länder und Gemeinden durch Art. 28
Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet. Der Grundsatz der Wahlgleichheit ist zudem
Ausprägung des Demokratieprinzips, das auf der Ebene des Landesverfassungsrechts
durch Art. 2 LV garantiert ist (vgl. VerfGH NRW, OVGE 47, 304 <305 f.>; Beschluss vom
23. Juli 2002 - VerfGH 2/01 -, NWVBl. 2003, 12). Der Grundsatz der gleichen Wahl
sichert - gemeinsam mit dem Grundsatz der allgemeinen Wahl - die vom
Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Staatsbürger. Er gebietet, dass alle
Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise
ausüben können. Daraus folgt für das Wahlgesetz, dass die Stimme eines jeden
Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche
Erfolgschance haben muss (vgl. BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -,
NVwZ 2008, 407 <408> m.w.N).
51
2. Nach dem Antragsvorbringen besteht die Möglichkeit, dass der Antragsgegner mit der
Normierung einer rechnerischen Mindestsitzzahl in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG die
Rechte der Antragstellerin auf Wahlgleichheit und Chancengleichheit im politischen
Wettbewerb verletzt hat. Die Antragstellerin hat hinreichend dargelegt, dass die
Regelung eine Hürde für die Berücksichtigung bei der Sitzverteilung aufstellt und ihre
Wahlchancen beeinträchtigen kann.
52
III.
53
Die Antragsfrist des § 44 Abs. 3 VerfGHG ist eingehalten. Die Sechsmonatsfrist begann
mit der Verkündung des Gesetzes zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes am 16.
Oktober 2007. Damit galt die angegriffene Rechtsnorm als allgemein bekannt geworden
(vgl. BVerfGE 114, 107 <115 f.> m.w.N., zu der gleichlautenden Fristregelung für den
bundesrechtlichen Organstreit in § 64 Abs. 3 BVerfGG). Der am 8. April 2008 bei Gericht
eingegangene Antrag ist somit rechtzeitig gestellt.
54
C.
55
Der Antrag ist begründet. Der Antragsgegner hat das Recht der Antragstellerin auf
Gleichheit der Wahl und auf Chancengleichheit als politische Partei dadurch verletzt,
dass er durch das Gesetz zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes vom 9. Oktober
2007 (GV. NRW. S. 374) in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG Parteien oder Wählergruppen
bei der Sitzzuteilung unberücksichtigt lässt, die nach § 33 Abs. 2 KWahlG nicht
mindestens eine Zahl von 1,0 für einen einzigen Sitz erreichen. Die dadurch bewirkte
Ungleichgewichtung der Wählerstimmen ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.
Hinreichende Gründe, die diese Differenzierung beim Erfolgswert erforderlich machen,
hat der Antragsgegner weder im Gesetzgebungsverfahren noch im Verfahren vor dem
Verfassungsgerichtshof dargelegt.
56
I.
57
1. Das Recht der Parteien auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb aus Art. 21
Abs. 1 GG ist ebenso wie der Grundsatz der gleichen Wahl aus Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG
58
wegen des Zusammenhangs mit dem egalitären demokratischen Prinzip im Sinne einer
strengen und formalen Gleichheit zu verstehen (BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 - 2
BvK 1/07 -, NVwZ 2008, 407 <408, 409> m.w.N.). Der Grundsatz der Wahlgleichheit
erfordert bei der Verhältniswahl grundsätzlich, jeder Wählerstimme den gleichen
Erfolgswert beizumessen. Ziel des Verhältniswahlsystems ist es, dass alle Parteien und
Wählergruppen in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem
zu wählenden Organ vertreten sind. Dem Gesetzgeber verbleibt für Differenzierungen
nur ein eng bemessener Spielraum. Entsprechendes folgt aus dem Grundsatz der
Chancengleichheit der politischen Parteien. Regelt der Gesetzgeber den Bereich der
politischen Willensbildung bei Wahlen in einer Weise, welche die Chancengleichheit
der politischen Parteien und Wählervereinigungen verändern kann, sind seinem
Gestaltungsspielraum besonders enge Grenzen gezogen (BVerfG, Urteil vom 13.
Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -, NVwZ 2008, 407 <408, 409>; Urteil vom 3. Juli 2008 - 2
BvC 1/07 u.a. -, DVBl. 2008, 1045 <1046> m.w.N.).
2. Bei der Prüfung, ob eine Differenzierung in diesem Bereich zulässig ist, ist
grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen. Danach bedürfen Differenzierungen zu
ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten, "zwingenden"
Grundes. Hierzu zählt insbesondere die Verwirklichung der mit der Wahl verfolgten
Ziele. Dazu gehören die Sicherung des Charakters der Wahl als eines
Integrationsvorganges bei der politischen Willensbildung des Volkes und die
Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung (BVerfG,
Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -, NVwZ 2008, 407 <409>; Urteil vom 3. Juli
2008 - 2 BvC 1/07 u.a. -, DVBl. 2008, 1045 <1046>, jeweils m.w.N.).
59
Differenzierende Regelungen müssen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und
erforderlich sein. Ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich auch danach, mit welcher Intensität in
das - gleiche - Wahlrecht eingegriffen wird. Der Gesetzgeber darf sich bei seiner
Einschätzung und Bewertung nicht von abstrakt konstruierten Fallgestaltungen leiten
lassen. Er muss sich vielmehr an der politischen Wirklichkeit orientieren (BVerfG,
a.a.O.).
60
3. a) Die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen bei der Verhältniswahl verlangt nicht,
dass sich - bei einer ex-post-Betrachtung - für jeden Wähler die ihm gewährleistete
gleiche Erfolgschance auch als exakt "verhältnismäßiger" Stimmerfolg realisiert haben
muss. Bei jedem Sitzberechnungsverfahren bleiben zwangsläufig Reststimmen
unberücksichtigt. Eine Auf- oder Abrundung zur nächsten ganzen Zahl von Sitzen ist
danach unausweichliche Folge eines jeden Verteilungsverfahrens. Stehen
verschiedene Berechnungssysteme zur Verfügung, von denen sich unter dem
Gesichtspunkt der Wahlrechtsgleichheit keines als allein systemgerecht erweist, ist es
der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überlassen, für welches
Berechnungsverfahren er sich entscheidet. Die mit dem jeweiligen Verteilungsverfahren
verbundenen systembedingten Differenzierungen im Erfolgswert der Stimmen sind
grundsätzlich hinzunehmen (vgl. z.B. BVerfGE 79, 169 <170 f.>; BVerfG, 3. Kammer des
2. Senats, Beschluss vom 8. September 1994 - 2 BvR 1484/94 -, NVwZ-RR 1995, 213
<214>; BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. -, DVBl. 2008, 1045 <1047>;
BayVerfGH, Entscheidung vom 12. August 1994 - Vf. 6-IVb-94 -, BayVBl. 1994, 716
<718>).
61
b) Modifizierungen im Berechnungssystem sind zulässig, wenn sie sachlich
gerechtfertigt sind.
62
Eine Modifizierung, die ihrerseits zu einer Erfolgswertungleichheit führt, erweist sich
danach als verfassungskonform, soweit sie darauf zielt, eine im Berechnungsverfahren
angelegte, aber über das Normalmaß hinausgehende Ungleichgewichtigkeit zu
beseitigen. In einem solchen Fall zweier unvermeidbarer Ungleichgewichtigkeiten bei
der Sitzverteilung ist es der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überlassen, für
welche der beiden er sich entscheidet (vgl. BVerfG, 3. Kammer des 2. Senats,
Beschluss vom 8. September 1994 - 2 BvR 1484/94 -, NVwZ-RR 1995, 213 <214>;
BVerwG, Urteil vom 29. November 1991 - BVerwG 7 C 13.91 -, NVwZ 1992, 488; Nds.
StGH, Urteil vom 20. September 1977 - StGH 1/77 -, DVBl. 1978, 139 <145>).
63
Im Übrigen ist eine Modifizierung des Berechnungsverfahrens, die eine (zusätzliche)
Erfolgswertungleichheit bewirkt, verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn dafür ein
"zwingender" Grund (vgl. oben 2.) vorliegt. Auf Grund der besonders engen Grenzen,
die dem Gesetzgeber bei der Beschränkung der Wahlrechts- und Chancengleichheit
gezogen sind, unterliegt die Ausgestaltung von Wahlrechtsbestimmungen, die eine
Zugangshürde für die Sitzverteilung nach dem Verhältnisausgleich begründen, generell
einem Rechtfertigungsbedürfnis. Dementsprechend erstreckt sich das Erfordernis eines
Rechtfertigungsgrundes nicht nur auf den Einsatz einer klassischen Sperrklausel (vgl.
dazu zuletzt BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -, NVwZ 2008, 407
<411>), sondern gilt gleichermaßen für sonstige Regelungen im
Sitzzuteilungsverfahren, die die Berücksichtigung einer Partei oder Wählergruppe beim
Verhältnisausgleich von dem Erreichen eines Quorums der abgegebenen
Wählerstimmen abhängig machen (vgl. BVerfGE 34, 81 <100 f.>).
64
4. a) Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, die Verwirklichung der mit der Wahl
verfolgten Ziele mit dem Gebot der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit
politischer Parteien zum Ausgleich zu bringen. Der Verfassungsgerichtshof hat diesen
Spielraum zu achten. Er kann insbesondere nicht die Aufgabe des Gesetzgebers im
Gesetzgebungsverfahren übernehmen und alle zur Überprüfung der in Rede stehenden
Wahlrechtsbestimmung relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte selbst
ermitteln und gegeneinander abwägen (BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK
1/07 -, NVwZ 2008, 407 <411>; VerfGH NRW, OVGE 44, 301 <312>; OVGE 47, 304
<308, 315>).
65
b) Die Ausgestaltung des Wahlrechts unterliegt einer strikten verfassungsgerichtlichen
Kontrolle (BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -, NVwZ 2008, 407 <411>).
Dem entspricht es, die Maßgaben, die der Verfassungsgerichtshof als gerichtlichen
Kontrollmaßstab in Bezug auf die Beibehaltung der 5 v.H.-Sperrklausel angelegt hat
(vgl. OVGE 44, 301 <312 ff.>; OVGE 47, 304 <308 ff.>; ähnlich BVerfG, a.a.O., <411 ff.>),
ebenso als Prüfungsmaßstab zugrunde zu legen, wenn es um die Einführung einer
(sonstigen) Zugangshürde für die Sitzzuteilung beim Verhältnisausgleich geht.
66
c) Danach muss der Gesetzgeber für den Fall, dass er sich zur Rechtfertigung der
Zugangshürde auf eine anderenfalls drohende Funktionsunfähigkeit der
Kommunalvertretung beruft, für die dann zu erstellende Prognose alle in rechtlicher und
tatsächlicher Hinsicht relevanten Gesichtspunkte heranziehen und abwägen. Er darf
sich nicht mit einer abstrakten, schematischen Beurteilung begnügen. Die Prognose
muss vielmehr nachvollziehbar begründet und auf tatsächliche Entwicklungen gerichtet
sein, deren Eintritt der Gesetzgeber ohne die in Rede stehende Wahlrechtsbestimmung
konkret erwartet (VerfGH NRW, OVGE 47, 304 <308 f.>).
67
Der Gesetzgeber darf nicht bei der Feststellung stehen bleiben, ohne die normierte
Zugangshürde für die Sitzzuteilung begünstige das Verhältniswahlrecht das
Aufkommen kleinerer Parteien und Wählergruppen. Nicht ausreichend ist die daran
anknüpfende und durchaus plausible Erwägung, dass es in aller Regel zu einer
schwerfälligeren Meinungsbildung führt, wenn in einer Kommunalvertretung ein
erweiterter Kreis von Fraktionen und Gruppen mitwirkt. Diese Schwerfälligkeit in der
Meinungsbildung darf der Gesetzgeber nicht mit einer Funktionsstörung oder
Funktionsunfähigkeit gleichsetzen. Vielmehr sind weitergehende Feststellungen zu
treffen, bevor die Funktionsfähigkeit der kommunalen Vertretungskörperschaften als
gefährdet angesehen werden kann. Denn Demokratie setzt das Aufeinandertreffen
verschiedener Positionen und das Finden von Kompromissen voraus. Nicht jeder
Konflikt und nicht jede politische Auseinandersetzung in den Kommunalvertretungen
kann als Störung der Funktionsfähigkeit angesehen werden (VerfGH NRW, OVGE 47,
304 <310>; BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -, NVwZ 2008, 407
<410>).
68
II.
69
Nach diesen Maßstäben ist der mit der Regelung in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG
verbundene Eingriff in das Recht der Antragstellerin auf Wahlrechtsgleichheit und
Chancengleichheit nicht gerechtfertigt.
70
1. a) Die Regelung in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG bewirkt eine Ungleichgewichtung der
Wählerstimmen. Während der Zählwert aller Wählerstimmen von der Bestimmung nicht
berührt wird, werden die Stimmen in Bezug auf ihren Erfolgswert ungleich behandelt.
Diejenigen Stimmen, die für eine Partei oder Wählergruppe abgegeben worden sind,
die nach dem Sitzberechnungsverfahren nach Sainte-Laguë/Schepers (vgl. § 33 Abs. 2
KWahlG, § 61 Abs. 4 der Kommunalwahlordnung) mehr als einen Sitz oder mindestens
eine Zahl von 1,0 für einen einzigen Sitz erreichen, haben unmittelbaren Einfluss auf die
Sitzverteilung nach dem Verhältnisausgleich. Dagegen bleiben diejenigen
Wählerstimmen, die für eine Partei oder Wählergruppe abgegeben worden sind, die an
dieser Zugangshürde scheitern, ohne Erfolgswert.
71
b) Zugleich wird durch § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG das Recht der Antragstellerin auf
Chancengleichheit beeinträchtigt. Dabei handelt es sich nicht nur um eine unerhebliche
und zu vernachlässigende Benachteiligung. Die Antragstellerin hat am Beispiel der
Ergebnisse der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2004 dargelegt,
dass sie bei Anwendung der Regelung des § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG in vier der
sieben Kreise und Gemeinden, in denen sie aktuell vertreten ist, keinen Sitz erlangt
hätte (Städte Münster und Dülmen, Gemeinde Verl, Kreis Gütersloh). Die Berechnungen
der Antragstellerin zeigen zugleich, dass sich die Mindestsitzklausel in § 33 Abs. 3 Satz
1 KWahlG hinsichtlich des zu erreichenden Stimmenquorums in den einzelnen
Wahlgebieten nicht nur unterschiedlich, sondern zu Lasten der Betroffenen prozentual
erheblich auswirken kann. So wären beispielsweise in der Stadt Münster ca. 1,36 v.H.
der abgegebenen gültigen Stimmen erforderlich gewesen, um die in § 33 Abs. 3 Satz 1
KWahlG vorgesehene Zahl von 1,0 zu erreichen (von der Antragstellerin seinerzeit
erzielt: 0,9 v.H. der Stimmen). Im Kreis Gütersloh wären zur Überwindung der
Zugangshürde ca. 1,67 v.H. der abgegebenen gültigen Stimmen notwendig gewesen
(von der Antragstellerin seinerzeit erzielt: 1,1 v.H. der Stimmen), in der Stadt Bottrop ca.
1,73 v.H. (erzielt: 6,6 v.H.), im Kreis Coesfeld ca. 1,85 v.H. (erzielt: 2,3 v.H.), in der
72
Gemeinde Verl ca. 2,6 v.H. der Stimmen (erzielt: 2,596 v.H.), in der Stadt Dülmen ca.
2,19 v.H. (erzielt: 2,11 v.H.) und in der Stadt Bad Driburg ca. 3,27 v.H. (erzielt: 8,7 v.H.).
2. a) Es handelt sich bei der Wahlrechtsbestimmung in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG nicht
um eine systembedingte Differenzierung im Erfolgswert.
73
Mit dem novellierten § 33 Abs. 2 KWahlG ist anstelle des Proportionalverfahrens nach
Hare/Niemeyer das Divisorverfahren mit Standardrundung nach Sainte-
Laguë/Schepers als Sitzberechungsverfahren eingeführt worden. Der Systemwechsel
zum Berechnungsverfahren Sainte-Laguë/Schepers ist verfassungsrechtlich
unbedenklich. Den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit
lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass das Verfahren nach
Hare/Niemeyer oder das Verfahren nach Sainte-Laguë/Schepers für die Berechnung
und Verteilung von Mandaten den Vorzug verdient. Mit keinem der Verfahren kann eine
absolute Gleichheit des Erfolgswerts der Wählerstimmen erreicht werden, weil bei
beiden Verfahren Reststimmen unberücksichtigt bleiben. Unter diesen Umständen ist es
der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überlassen, für welches Berechnungssystem
er sich entscheidet (vgl. allgemein zu diesen Maßgaben BVerfGE 79, 169; BVerfG, 3.
Kammer des 2. Senats, Beschluss vom 8. August 1994 - 2 BvR 1484/94 -, NVwZ-RR
1995, 213).
74
Nach dem Verfahren Sainte-Laguë/Schepers werden die nach Zahlenbruchteilen zu
vergebenden Sitze bei Resten unter 0,5 auf die darunter liegende ganze Zahl
abgerundet und bei Resten ab 0,5 auf die darüber liegende ganze Zahl aufgerundet
(vgl. § 33 Abs. 2 Satz 5 KWahlG). Zahlenreste unter 0,5 werden also durchweg nicht
berücksichtigt, während beim bisherigen Verfahren Hare/Niemeyer alle für die
Sitzzuteilung noch in Betracht kommenden höchsten Zahlenreste ohne Rundung zum
Zuge kommen konnten, das heißt auch solche unter 0,5 (vgl. LT NRW-Drs. 14/3977, S.
43 f.). Demgegenüber ist es beim Divisorverfahren mit Standardrundung systemkonform,
auch im Falle eines einzigen Sitzes Zahlenreste ab 0,5 und kleiner als 1,0 für die
Sitzzuteilung zu berücksichtigen. Von diesem System weicht § 33 Abs. 3 Satz 1
KWahlG ab.
75
b) Die durch § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG bewirkte Modifizierung des
Berechnungsverfahrens für die Sitzzuteilung eines einzigen Sitzes kann nicht für sich in
Anspruch nehmen, eine im Rechenverfahren angelegte, aber über das Normalmaß
hinausgehende Ungleichgewichtigkeit zu beseitigen. Dass Zahlenbruchteile unterhalb
von 1,0 gleichwohl zur Zuteilung eines Sitzes führen können, bewegt sich im normalen
Rahmen der nach dem Divisorverfahren mit Standardrundung systemimmanent
vorgegebenen Ungleichgewichtigkeiten. Die Gesetzesbegründung zur Novellierung des
Sitzberechnungsverfahrens in § 33 Abs. 2 KWahlG verweist ausdrücklich darauf, das
Divisorverfahren mit Standardrundung bringe durch seine Mittelung der
Zahlenbruchteile allen Parteien und Wählergruppen grundsätzlich gleichermaßen Vor-
und Nachteile, je nach dem aufgrund ihrer Stimmenzahl errechneten Zahlenrest beim
jeweiligen Sitzanteil (LT NRW-Drs. 14/3977, S. 44). Zusammenfassend heißt es dort,
dass das neue Berechnungsverfahren zu einer noch besser austarierten Verteilung der
Sitze führe (LT NRW-Drs. 14/3977, S. 37).
76
Es lässt sich auch nicht feststellen, dass die Modifizierung in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG
geboten ist, um eine speziell mit dem Rechensystem nach Sainte-Laguë/ Schepers
verbundene systemwidrige Verzerrung beim Erfolgswert im Fall der Zuteilung eines
77
einzigen Sitzes zu beseitigen. Der Vergleich mit dem bisherigen Verfahren nach
Hare/Niemeyer zeigt im Gegenteil - wie nicht zuletzt die Ergebnisse der Antragstellerin
bei der letzten Kommunalwahl belegen -, dass es auch dort systemkonform durch
Berücksichtigung eines Zahlenrestes zur Zuteilung eines einzigen Sitzes kommen kann.
Vor diesem Hintergrund erweist sich § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG als eine Modifizierung
der Rundungssystematik, die in Bezug auf die Erreichung eines einzigen Sitzes eine
zusätzliche Ungleichgewichtigkeit im Erfolgswert der Wählerstimmen bewirkt, die zu
ihrer Rechtfertigung eines "zwingenden Grundes" bedarf.
78
3. An einer solchen hinreichenden Begründung fehlt es.
79
a) Der Antragsgegner hat weder im Gesetzgebungsverfahren noch im Rahmen des
Organstreitverfahrens deutlich gemacht, dass die Sperrregelung in § 33 Abs. 3 Satz 1
KWahlG zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretungen erforderlich
ist.
80
aa) Es ist nicht mit hinreichender Deutlichkeit ersichtlich, dass der Gesetzgeber die
Einführung der Regelung auf diesen Gesichtspunkt gestützt hat. Es fehlt schon an
Hinweisen darauf, was der Antragsgegner unter einer Funktionsstörung oder
Funktionsunfähigkeit verstehen würde, die einen Eingriff in die Erfolgswertgleichheit von
Stimmen rechtfertigte. In der Begründung zum zugehörigen Gesetzentwurf wird
jedenfalls nicht auf eine drohende Funktionsstörung oder Funktionsunfähigkeit der
kommunalen Vertretungsorgane abgestellt (vgl. LT NRW-Drs. 14/3977, S. 37 und S. 45).
Ebenso sind im Laufe der Plenarberatungen erhebliche Zweifel geäußert worden, ob
sich die Annahme einer Funktionsstörung nach Maßgabe der Rechtsprechung des
Verfassungsgerichtshofs hinreichend begründen ließe (vgl. LT NRW, Plenarprotokoll
14/69, S. 7936, 7938; 14/70, S. 8016, 8021).
81
bb) Soweit der Aspekt der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretungen
während der parlamentarischen Beratungen als möglicher Rechtfertigungsgrund
angesprochen worden ist, werden die Erörterungen den vom Verfassungsgerichtshof
aufgestellten Anforderungen an die Annahme einer Funktionsstörung oder
Funktionsunfähigkeit schon im Ansatz nicht gerecht. Die Einschätzung, das Fehlen
einer Sperrklausel bedrohe die Handlungsfähigkeit der Kommunen (vgl. Plenarprotokoll
14/70, S. 8017), entbehrt einer tragfähigen tatsächlichen Grundlage. Valide empirische
Untersuchungsergebnisse, die die Annahme rechtfertigen, wegen des ersatzlosen
Wegfalls der 5 v.H.-Sperrklausel komme es nicht nur in einzelnen
Kommunalvertretungen infolge einer Vielzahl von Einzelmandatsträgern zu
Funktionsstörungen, hat der Antragsgegner weder im Gesetzgebungsverfahren noch im
Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof vorgelegt. Solche tatsächlichen Erhebungen
wären indes, wollte sich der Antragsgegner auf diesen Gesichtspunkt stützen, gerade
vor dem Hintergrund der Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 1360 (LT
NRW-Drs. 14/3758) veranlasst gewesen. Denn danach lagen noch im Februar 2007
keine Erkenntnisse dafür vor, dass wegen des Wegfalls der 5 v.H.-Sperrklausel die
Beratungs- und Entscheidungsabläufe in den kommunalen Vertretungsorganen im Land
maßgeblich beeinträchtigt waren.
82
cc) Die Voraussetzung einer hinreichenden Begründung wird auch nicht dadurch erfüllt,
dass der Landrat des Rhein-Sieg-Kreises anlässlich der öffentlichen Anhörung im
Gesetzgebungsverfahren eine die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigende Zersplitterung des
83
Kreistages geschildert hat, die im weiteren Verlauf der parlamentarischen Beratungen
verschiedentlich aufgegriffen worden ist (vgl. LT NRW, Ausschussprotokoll 14/437, S.
21 ff.; Plenarprotokoll 14/69, S. 7930, 7932). Dies gilt bereits deshalb, weil der
Gesetzgeber für den Fall, dass er Funktionsstörungen nur für einzelne
Kommunalvertretungen erwartet, die in Rede stehende wahlrechtliche
Zugangsschranke für das Sitzzuteilungsverfahren gegen die Bedeutung der Wahlrechts-
und Chancengleichheit für alle Kommunalvertretungen abwägen muss (VerfGH NRW,
OVGE 47, 304 <310>). Daran fehlt es hier.
Darüber hinaus ist die Stellungnahme des Landrats darauf gerichtet, die Zunahme von
Einzelmandatsträgern zu besorgen, die von ihm als extremistisch eingeschätzten
Parteien und Wählergruppen angehören. Die Regelung in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG
kann jedoch nicht damit gerechtfertigt werden, dass sie dem Zweck diene, Vertreter
extremistischer Gruppierungen von der Beteiligung an kommunalen Wahlorganen
fernzuhalten. Die Bekämpfung politischer Parteien oder Wählergruppen ist in diesem
Sachzusammenhang ein sachfremdes Motiv. Denn § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG wirkt
nicht nur gegen extremistische Parteien, sondern trifft alle Parteien und ebenso
kommunale Wählervereinigungen gleichermaßen. Zudem steht es dem
Wahlgesetzgeber nicht zu, über die Einführung einer Zugangshürde für das
Sitzzuteilungsverfahren bestimmte (unerwünschte) Parteien oder Wählergruppen gezielt
von der Mitwirkung an der politischen Willensbildung auszuschließen (vgl. BVerfG,
Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -, NVwZ 2008, 407 <410>).
84
b) Der mit der Regelung in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG verbundene Eingriff in die
Rechte der Antragstellerin auf Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit lässt sich
auch nicht mit der Erwägung rechtfertigen, die Zugangshürde diene einer effektiven
Integration des Staatsvolkes, indem sie einen gewissen Mindestrückhalt in der
Wählerschaft gewährleiste.
85
aa) Dies gilt zunächst, soweit der Antragsgegner damit auf eine Sicherung der
Gemeinwohlorientierung der in den kommunalen Wahlorganen vertretenen Parteien
und Wählergruppen abzielt. Aus der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung folgt,
dass die Auslese der Kandidaten für die kommunalen Vertretungskörperschaften nach
partikularen Zielen möglich sein muss. Gerade auch den Kandidaten ortsgebundener,
lediglich kommunale Interessen verfolgender Wählergruppen ist eine chancengleiche
Teilnahme an den Kommunalwahlen zu gewährleisten. Die Entscheidung darüber,
welche Partei oder Wählergruppe die Interessen der Bürger am besten vertritt, obliegt
nicht dem Wahlgesetzgeber, sondern dem Wähler (VerfGH NRW, OVGE 47, 304 <316>;
BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -, NVwZ 2008, 407 <410> m.w.N.).
86
bb) Auch sonst lässt sich aus dem Integrationsgedanken ein hinreichender
Rechtfertigungsgrund nicht ableiten. In der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts steht der Aspekt der "Sicherung des Charakters der Wahl
als eines Integrationsvorganges bei der politischen Willensbildung" nicht isoliert als
eigenständiger Rechtfertigungsgrund für Differenzierungen im Erfolgswert der Stimmen
bei der Verhältniswahl. Er wird vielmehr regelmäßig im Zusammenhang mit der
Zielsetzung der Sicherung der Handlungsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung
angeführt. Wird eine Aufspaltung des Vertretungsorgans in (zu) viele kleine Gruppen
vermieden, sichert dies dessen Fähigkeit zur Mehrheitsbildung und schützt damit
sowohl dessen Funktionsfähigkeit als zugleich auch - durch die Bündelung von
Interessen - den Charakter der Wahl als einen Integrationsvorgang (vgl. BVerfGE 51,
87
222 <236>; BVerfGE 71, 81 <97>; BVerfGE 95, 408 <421>; BVerfG, Urteil vom 13.
Februar 2008 - 2 BvK 1/07 -, NVwZ 2008, 407 <410/411>). Auf Grund dieser Konnexität
kann für den Fall, dass wie hier das Funktionsargument als Rechtfertigungsgrund nicht
eingreift, auch dem Integrationsaspekt eine legitimierende Wirkung nicht zukommen.
Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Grundmandatsklausel (BVerfGE 95,
408) folgt nichts Gegenteiliges. Zur Überprüfung stand dort die verfassungsrechtliche
Zulässigkeit einer alternativen Zugangshürde zur 5 v.H.- Sperrklausel auf
Bundeswahlebene. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Entscheidung ausgeführt,
dass die Zielsetzung einer effektiven Integration des Staatsvolkes und das Wahlziel der
Funktionsfähigkeit der Volksvertretung teils auch gegenläufig sein können. Daraus hat
es abgeleitet, die durch die Grundmandatsklausel bewirkte Differenzierung im
Erfolgswert könne ihre Rechtfertigung darin finden, dass der Gesetzgeber der
funktionssichernden Sperrklauselregelung eine andere Zugangshürde zur Seite stelle,
die im Zusammenwirken mit jener ausbalancierend dem Integrationsaspekt Rechnung
trage (vgl. BVerfGE 95, 408 <419 ff.>). Aus der Entscheidung lässt sich für die hier in
Rede stehende Wahlrechtsbestimmung nichts herleiten, weil die Fallkonstellationen
nicht vergleichbar sind. Anders als bei der vom Bundesverfassungsgericht überprüften
Grundmandatsklausel geht es vorliegend nicht um das (ausbalancierende)
Zusammenwirken mehrerer alternativer Hürden für den Zugang zum
Sitzverteilungsverfahren.
88
III.
89
Gemäß § 46 Abs. 1 VerfGHG kann der Verfassungsgerichtshof lediglich die im Tenor
ausgesprochene Feststellung des Verfassungsverstoßes des Antragsgegners treffen.
Es obliegt dem Landesgesetzgeber, den festgestellten verfassungswidrigen
Rechtszustand zeitnah zu beheben.
90
Die Anwendbarkeit der angegriffenen Norm im Übrigen wird durch die Feststellung des
Verfassungsverstoßes nicht in Frage gestellt. Das Berechnungsverfahren zur
Sitzverteilung nach § 33 Abs. 2 KWahlG ist unabhängig von der Regelung in § 33 Abs.
3 Satz 1 KWahlG durchführbar.
91
D.
92
Gemäß § 54 Abs. 4 VerfGHG ist die Anordnung gerechtfertigt, dass der Antragstellerin
die notwendigen Auslagen zu erstatten sind. Sie hat durch ihren Antrag zur Klärung
einer wesentlichen verfassungsrechtlichen Frage beigetragen. Sie kann nicht wie der
Antragsgegner, und wie es in der Regel bei Organstreitverfahren der Fall ist, die für die
Führung des Rechtsstreits erforderlichen Aufwendungen aus Mitteln öffentlicher
Haushalte bestreiten.
93