Urteil des SozG Frankfurt am Main vom 14.12.2009

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Sozialgericht Frankfurt
Gerichtsbescheid vom 14.12.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Frankfurt S 25 KR 479/08
1. Der Bescheid vom 25. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juni 2008 wird
aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten für eine myoelektrische Armprothese mit i Limb-Hand zu
übernehmen.
2. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Versorgung mit einer myoelektrischen Armprothese mit i Limb-Hand.
Der 1989 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Er leidet an einer angeborenen Fehlbildung des
linken Unterarmes mit nur kurzstumpfig angelegtem Unterarm und fehlender linker Hand. Er ist bisher mit einem
myoelektrischen Unterarmprothesenschaft mit kondylenübergreifender Schafttechnik und elektrisch gesteuerter
Prothesenhand des Herstellers B. versorgt. Unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung des Orthopäden Dr. R. vom 29.
Juni 2007 und eines Kostenvoranschlages der Firma Z. Orthopädie GmbH beantragte der Kläger die Neuversorgung
mit einer myoelektrischen Armprothese mit i-Limb-Hand des Herstellers Touch B. zu einem Gesamtpreis in Höhe von
31.119,18 EUR. Hierzu führte die Firma Z. mit Schreiben vom 1. August 2007 aus, die vorhandene Armprothese sei
altersbedingt und proportional nicht mehr passgerecht und die bereits wiederverwendeten Myo-Armpassteile würden
Verschleißerscheinungen und Funktionsausfälle zeigen. Im Weiteren werden die Funktionsvorteile der i-Limb-Hand
angeführt.
Die Beklagte holte ein sozialmedizinisches Gutachten nach Untersuchung vom 12. Oktober 2007 und ein weiteres
sozialmedizinisches Gutachten nach Aktenlage vom 17. März 2008 des Medizinischen Dienstes der
Krankenversicherung (MDK) in Hessen ein. Der Arzt für Orthopädie Dr. F. gelangte zu der Beurteilung, dass eine
Versorgung mit einer neuen myoelektrischen Unterarmprothese mit zum Beispiel Sensor Hand Speed des Herstellers
B. ausreichend sei. Die angestrebte Versorgung mit der Prothesenhand i Limb ermögliche in keiner Weise wesentliche
erweiterte Anwendungsmöglichkeiten beziehungsweise Gebrauchsvorteile im Vergleich zu der bisherigen
Unterarmprothese. Bei elektrisch betriebenen Unterarmprothesen beschränke sich der Behindertenausgleich im
Wesentlichen auf das Öffnen und Schließen des "Greiforganes Prothesenhand", um damit Gegenstände ergreifen und
festhalten zu können. Auch bei der i-Limb-Hand könnten einzelne Finger nicht aktiv und differenziert bewegt werden.
Der Kläger verfüge über Fähigkeiten, die es ihm erlauben, seinen rechten Arm für sämtliche im Alltag anfallenden
Tätigkeiten im grob- und feinmotorischen Bereich uneingeschränkt einzusetzen. Es sei nicht vorstellbar, dass bei
voller Leistungsfähigkeit der rechten Seite vom Kläger überhaupt vermehrt die linke prothetisch versorgte Seite
genutzt werde. Der Mehraufwand für die i-Limb-Prothesenhandversorgung stehe in keiner Relation zu einem allenfalls
unwesentlichen funktionellen Zugewinn.
Durch förmlichen Bescheid vom 25. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. Juni 2008
lehnte die Beklagte die beantragte Kostenübernahme ab. Zur Begründung verwies sie auf die Beurteilungen des MDK.
Der Wunsch des Klägers bestehe vordergründig darin, mit der beantragten Prothesenhand eine verbesserte
Anwendung der Prothese insbesondere bei der Tätigkeit am Computer während des Studiums zu erreichen. Die
beantragte Prothese übersteige somit das Maß des Notwendigen.
Am 28. Juli 2008 hat der Kläger beim Sozialgericht Frankfurt am Main Klage erhoben. Er hat vorgetragen, die
Versorgung mit einer myoelektrischen Armprothese mit i-Limb-Hand sei erforderlich, um seine Behinderung
auszugleichen. Bei der i-Limb-Prothesenhand für elektrische Armprothesen handele es sich um ein neuartiges
Handprothesensystem, das gegenüber den bisher üblichen Prothesenhandsystemen erhebliche Gebrauchsvorteile
biete.
Der Kläger beantragt (sinngemäß), den Bescheid vom 25. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 30. Juni 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für eine myoelektrische Armprothese mit i-
Limb-Hand. zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt (sinngemäß), die Klage abzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung aus den Gründen des Widerspruchsbescheides für zutreffend. Die
Versorgung mit einer myoelektrischen Armprothese mit i-Limb-Hand sei medizinisch nicht notwendig. Ergänzend hat
sie sich auf das sozialmedizinische Gutachten des MDK Hessen vom 27. Juli 2009 berufen.
Das Gericht hat im Rahmen seiner Ermittlungen ein orthopädisches Gutachten des Facharztes für Orthopädie,
Physikalische und Rehabilitative Medizin Dr. E., Chefarzt der Wirbelsäulenklinik E-Stadt, vom 14. Januar 2009 mit
ergänzender gutachterlicher Stellungnahme vom 20. April 2009 eingeholt. Wegen des Ergebnisses der
Beweiserhebung wird auf Blatt 68 bis 84 und 101 bis 102 der Gerichtsakte Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Beteiligtenvorbringens wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch
Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besondere Schwierigkeit tatsächlicher oder rechtlicher Art
aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind gemäß § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG vorher zuhören.
Letzteres ist durch Anhörungsschreiben vom 22. September 2009 erfolgt. Die gerichtliche Verfügung wurde dem
Prozessbevollmächtigten des Klägers mit Empfangsbekenntnis am 30. September 2009 und den
Prozessbevollmächtigten der Beklagten mit Empfangsbekenntnis am 29. September 2009 zugestellt.
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig. Sie ist auch sachlich begründet. Der angefochtene Bescheid
der Beklagten ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf
Kostenübernahme für eine myoelektrische Armprothese mit i-Limb-Hand als Hilfsmittel der gesetzlichen
Krankenversicherung.
Versicherte haben nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung –
(SGB V) Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen
Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1. Variante), einer
drohenden Behinderung vorzubeugen (2. Variante) oder eine Behinderung auszugleichen (3. Variante), soweit die
Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB
V ausgeschlossen sind. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung der gesetzlichen
Krankenversicherung auch, müssen die Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich
sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich
sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen
nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 SGB V).
Im vorliegenden Fall geht es um die Frage eines Behinderungsausgleichs, der von der dritten Variante des § 33 Abs.
1 Satz 1 SGB V erfasst wird. Nach dieser Vorschrift besteht ein Anspruch auf das begehrte Hilfsmittel, wenn es
erforderlich ist, um das Gebot eines möglichst weitgehenden Behinderungsausgleichs zu erfüllen. Gegenstand des
Behinderungsausgleichs sind zunächst solche Hilfsmittel, die auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet
sind, also zum unmittelbaren Ersatz der ausgefallenen Funktionen dienen (Bundessozialgericht - BSG SozR 2200 §
187 Nr. 1; BSG SozR 3 2500 § 33 Nr. 18 und 20). Der in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannte Zweck des
Behinderungsausgleichs umfasst jedoch auch solche Hilfsmittel, die die direkten und indirekten Folgen einer
Behinderung ausgleichen. Ein Hilfsmittel ist von der gesetzlichen Krankenversicherung immer dann zu gewähren,
wenn es die Auswirkungen der Behinderung im täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis
betrifft. Nach der ständigen Rechtsprechung (vgl. BSG, Urteil vom 16. September 2004 - B 3 KR 19/03 R - SozR 4-
2500 § 33 Nr. 7; BSG, Urteil vom 26. März 2003 - B 3 KR 23/02 R - SozR 4-2500 § 33 Nr. 3) gehören zu den
Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, die Nahrungsaufnahme, das
Ausscheiden, die (elementare) Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie das Erschließen eines körperlichen
Freiraums im Nahbereich der Wohnung.
In Anwendung dieser Grundsätze hat der Kläger einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für die
streitgegenständliche myoelektrische Armprothese mit i-Limb-Hand. Dieses Hilfsmittel der gesetzlichen
Krankenversicherung ist geeignet und erforderlich, um eine Behinderung des Klägers in nicht unwesentlichem Umfang
auszugleichen. Sie überschreitet weder das Maß des Notwendigen noch ist sie unwirtschaftlich. Nach der
Rechtsprechung des BSG sind Versicherte zur Sicherstellung eines allgemeinen Grundbedürfnisses mit dem
Hilfsmittel auszustatten, das die bestehende Behinderung, soweit wie nach dem Stand von Wissenschaft und Technik
möglich, ausgleicht (Urteil vom 6. Juni 2002 – B 3 KR 68/01 R – SozR 3 – 2500 § 33 Nr. 44 – C-Leg; Urteil vom 16.
September 2004 – B 3 KR 20/04 R – SozR 4 – 2500 § 33 Nr. 8 – C-Leg)
Im Falle des Klägers ist das allgemeine Grundbedürfnis des Greifens betroffen. Die streitgegenständliche
myoelektrische Armprothese mit i-Limb-Hand ist erforderlich, um das aufgrund der angeborenen Fehlbildung des
linken Arms bestehende Funktionsdefizit auszugleichen. Dies steht zur Überzeugung der Kammer fest aufgrund des
nach einer körperlichen Untersuchung des Klägers getroffenen schlüssigen und überzeugenden orthopädischen
Gutachtens des Dr. E. vom 14. Januar 2009 mit ergänzender gutachterlicher Stellungnahme vom 20. April 2009.
Danach ist die Versorgung des Klägers mit einer myoelektrischen Armprothese mit i-Limb-Hand notwendig,
zweckmäßig und wirtschaftlich, um die bestehende Behinderung auszugleichen. Der Sachverständige führte aus,
dass die Versorgung mit einer myoelektrischen Unterarmprothese mit zum Beispiel Sensor Hand Speed vom
Hersteller B. zwar ebenso als zweckmäßig einzuschätzen sei, die i-Limb-Prothese stelle jedoch eine sinnvoll
erscheinende Weiterentwicklung in der prothetischen Versorgung dar. Im Vergleich zu der in den Prothesen – Daumen
integrierten "SUVA – Sensorik" ermögliche die i-Limb-Prothesenhand eine differenzierte Ansteuerung
beziehungsweise Aktivierung jedes einzelnen Fingers mit einem entsprechenden Griffspektrum.
Die von dem Kläger, der die i-Limb-Prothesenhand im November 2007 bei deren Vertriebsfirma X GmbH ausprobieren
konnte, vorgetragenen und in einer von dem Kläger vorgelegten Darstellung eines Nutzers der i-Limb-Prothesenhand
bestätigten (Blatt 139 bis 151 der Gerichtsakte, auf die Bezug genommen wird) Gebrauchsvorteile der i-Limb-
Prothesenhand bei Alltagsaktivitäten können entgegen der Ansicht der Beklagten und des MDK nicht als unwesentlich
bezeichnet werden. Mittels der i-Limb-Prothesenhand sind dem Kläger auch linksseitig sämtliche Greifmuster
(Schlüssel – Griff, Kraft – Griff, Präzisions – Griff, isolierte Abspreizung des Zeigefingers und der Daumen – Park –
Modus) möglich, was bei der von der Beklagten für ausreichend erachteten Versorgung mit Sensor Hand Speed nicht
der Fall ist. Wenn neue Hilfsmittel nach dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik den natürlichen Arm- und
Handfunktionen immer weiter angenähert werden, stellt jeder Entwicklungsschritt die gerade ausreichende Versorgung
dar. Werden – wie hier durch die i-Limb-Prothesenhand – erhebliche Gebrauchsvorteile erzielt, dürfen Versicherte nicht
auf das zweitbeste Hilfsmittel verwiesen werden. Der Kläger kann auch nicht darauf verwiesen werden, sämtliche im
Alltag üblicherweise erforderlichen Tätigkeiten mit der nicht beeinträchtigten rechten Hand durchzuführen.
Die myoelektrische Armprothese mit i-Limb-Hand ist schließlich auch wirtschaftlich, denn deren Gebrauchsvorteile
sind weder auf spezielle Lebensbereiche begrenzt, noch erschöpfen sie sich in der Bequemlichkeit oder im Komfort
der Nutzung. Die Gebrauchsvorteile sind nicht nur gering, so dass die – von der Beklagten nicht bezifferten –
Mehrkosten gegenüber einer Prothese mit Sensor Hand Speed vom Hersteller B. nicht unverhältnismäßig sind. Die
mit der i-Limb-Prothesenhand verbundenen Funktionsvorteile wirken sich im gesamten Alltagsleben des Klägers aus.
Eine zusätzliche Kosten – Nutzen – Erwägung ist nicht zusätzlich zum Erfordernis der umfassenden Einsetzbarkeit
des Hilfsmittels beziehungsweise des Gebrauchsvorteils bei einem Grundbedürfnis anzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.