Urteil des SozG Dresden vom 10.12.2009

SozG Dresden: krankengeld, anspruchsdauer, arbeitsunfähigkeit, berufskrankheit, ausschluss, krankenversicherung, unfallversicherung, alter, bezugsdauer, kumulation

Sozialgericht Dresden
Urteil vom 10.12.2009 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Dresden S 18 KR 458/06
I. Der Bescheid vom 17.03.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.07.2006 wird aufgehoben. Die
Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Krankengeld über den 02.07.2006 hinaus längstens bis zum Ende der sich ohne
Anrechnung des Bezugs von Verletztengeld vom 14.02.2005 bis zum 18.03.2005 und vom 26.05.2005 bis zum
22.07.2005 ergebenden Anspruchshöchstdauer unter Anrechnung der für den gleichen Zeitraum gezahlten
Lohnersatzleistungen zu gewähren. II. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des
Verfahrens zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Anrechnung des Bezugs von Verletztengeld auf die Dauer eines Anspruchs auf
Krankengeld.
Der Kläger war seit dem 03.01.2005 arbeitsunfähig erkrankt. Bis zum 13.02.2005 erhielt er Arbeitslosengeld
fortgezahlt, vom 14.02.2005 bis zum 18.03.2005 bezog er Verletztengeld, vom 19.03.2005 bis zum 25.05.2005
Krankengeld, vom 26.05.2005 bis zum 22.07.2005 erneut Verletztengeld und vom 23.07.2005 bis zum 02.07.2006
wiederum Krankengeld. Mit Krankengeld-Auszahlungsschein vom 20.06.2006 bescheinigte der behandelnde Arzt dem
Kläger weiterhin Arbeitsunfähigkeit über den 02.07.2006 hinaus.
Mit Bescheid vom 17.03.2006 stellte die Beklagte das Ende des Anspruchs auf Krankengeld zum Ablauf des
02.07.2006 fest. Die Anspruchsdauer von 546 Tagen sei ausgeschöpft.
Der Kläger erhob hiergegen mit Schreiben vom 13.04.2006 am 18.04.2006 Widerspruch. Das Ende der
Anspruchsdauer von 78 Wochen sei unzutreffend berechnet, weil er Krankengeld erst seit dem 29.07.2005 wegen
orthopädischer Krankheiten bezogen habe, zuvor habe er wegen verschiedener voneinander unabhängiger Krankheiten
Kranken- und Verletztengeld erhalten.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 26.07.2006, der am 27.07.2006 abgesandt wurde,
zurück. Der Ausschluss der Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung, wenn Leistungen als Folge eines
Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit zu erbringen sind, führe nicht dazu, Versicherten, deren Arbeitsunfähigkeit
auf eine unfallbedingte Erkrankung bzw. eine Berufskrankheit zurückzuführen ist, einen längeren
Entgeltersatzanspruch zu verschaffen und sie gegenüber Versicherten, deren Arbeitsunfähigkeit unfallunabhängig
eingetreten ist, besser zu stellen (Verweis auf Bundessozialgericht, Urteil vom 08.11.2005, Az. B 1 KR 33/03 R).
Hiergegen richtet sich die am 28.08.2006 beim Sozialgericht Dresden eingegangene Klage. Die Dauer des Bezugs von
Verletztengeld sei nicht auf die Anspruchsdauer des Krankengeldes anzurechnen. Selbst wenn die Gesetzesfassung
auf einem Versehen beruht haben sollte, wäre der Gesetzgeber gehalten gewesen, sobald er den Fehler erkennt,
diesen zu korrigieren. Eine solche Korrektur sei jedoch nicht erfolgt.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 17.03.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.07.2006 aufzuheben und die Beklagte
zu verurteilen, dem Kläger Krankengeld über den 02.07.2006 hinaus für die sich ohne Anrechnung des Bezugs von
Verletztengeld vom 14.02.2005 bis zum 18.03.2005 und vom 26.05.2005 bis zum 22.07.2005 ergebende
Anspruchsdauer zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Anliegen der Gesetzesänderung zum 01.01.2005 sei lediglich gewesen, den gleichzeitigen Bezug von Krankengeld
und Verletztengeld auszuschließen, nicht aber die Anrechnung der Bezugsdauer des Verletztengeldes auf den
Krankengeldanspruch abzuschaffen (Verweis auf Sozialgericht Regensburg, Urteil vom 09.06.2009, Az S 2 KR
252/06).
Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der gerichtlichen Verfahrensakte mit der
Niederschrift über die mündliche Verhandlung und auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist begründet. Der Bescheid, in dem die Beklagte das Ende des Anspruchs auf Krankengeld festgestellt
hat, ist aufzuheben. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zahlung von Krankengeld über den 02.07.2006 hinaus. Die
Anspruchsdauer war zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgeschöpft.
Soweit sich der Kläger gegen die Anrechnung des Bezugs von Krankengeld wegen anderweitiger Vorerkrankungen
wendet, greifen die Einwände nicht durch. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB V erhalten Versicherte Krankengeld
ohne zeitliche Begrenzung, für den Fall der Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit jedoch für längstens
achtundsiebzig Wochen innerhalb von je drei Jahren, gerechnet vom Tage des Beginns der Arbeitsunfähigkeit an; tritt
während der Arbeitsunfähigkeit eine weitere Krankheit hinzu, wird die Leistungsdauer nicht verlängert. Im Falle des
Klägers werden die - z.T. chronischen - Vorerkrankungen durch die Nahtlosigkeit ihrer Aufeinanderfolge als
hinzugetretene Krankheiten im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB V miteinander verklammert; an die in den
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgewiesenen Diagnosen ist das Gericht dabei nicht gebunden.
Jedoch ist die Dauer des Verletztengeldbezugs nicht gemäß § 48 Abs. 3 SGB V auf die Anspruchsdauer des
Krankengeldes anzurechnen.
Gemäß § 48 Abs. 3 SGB V werden bei der Feststellung der Leistungsdauer des Krankengeldes Zeiten, in denen der
Anspruch auf Krankengeld ruht oder für die das Krankengeld versagt wird, wie Zeiten des Bezugs von Krankengeld
berücksichtigt. Zeiten, für die kein Anspruch auf Krankengeld besteht, bleiben unberücksichtigt.
Gemäß § 48 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 49 Abs. 1 Nr. 3a SGB V in der bis zum 31.12.2004 geltenden Fassung
war die Dauer des Bezugs von Verletztengeld auf die Anspruchsdauer des Krankengeldes anzurechnen, wenn der
Versicherte innerhalb der durch Arbeitsunfallfolgen ausgelösten Blockfrist auch aus unfallfremden Gründen
arbeitsunfähig erkrankt war (Bundessozialgericht, Urteil vom 08.11.2005, Az. B 1 KR 33/03 R).
Gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 3a SGB V alter Fassung ruhte der Anspruch auf Krankengeld unter anderem, solange
Versicherte Verletztengeld beziehen.
Die Rechtslage hat sich durch Artikel 4 Nr. 3 Buchst. c des Gesetzes zur Vereinfachung der Verwaltungsverfahren im
Sozialrecht (Verwaltungsvereinfachungsgesetz) vom 21.03.2005 (BGBl. I S. 818) mit Wirkung ab dem 01.01.2005
geändert. Hierdurch wurde Nummer 3a dahin gehend neu gefasst, dass der Anspruch auf Krankengeld ruht, solange
Versicherte Mutterschaftsgeld oder Arbeitslosengeld beziehen oder der Anspruch wegen einer Sperrzeit nach dem
Dritten Buch ruht. Der Bezug von Verletztengeld ist nicht mehr erwähnt.
Nach dem Wortlaut des Gesetzes führt der Bezug von Verletztengeld damit nicht mehr zum Ruhen des Anspruchs
auf Krankengeld mit der Folge, dass auch die Bezugsdauer des Verletztengeldes nicht auf die Anspruchsdauer des
Krankengeldes anzurechnen ist.
Die Kammer sieht sich an diesen Wortlaut des Gesetzes gebunden.
Die Begründung des Änderungsgesetzes lautet (Deutscher Bundestag, Drucksache 15/4228 Seite 26):
Redaktionelle Änderungen. Ein Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung besteht nach § 11
Abs. 4 SGB V nicht, wenn sie als Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit im Sinne der gesetzlichen
Unfallversicherung zu erbringen sind. Die Nennung des Wortes "Verletztengeld" hatte in der Vergangenheit zu
diesbezüglichen Irritationen geführt. Das Bundessozialgericht hat ausdrücklich bestätigt, dass ein Anspruch auf
Verletztengeld in den o. a. Fällen auch nicht dem Grunde nach besteht.
Abgesehen davon, dass es in Satz 3 richtigerweise "Krankengeld" heißen müsste, ist unklar, ob dem Gesetzgeber die
inhaltliche Tragweite der Änderung des § 49 Abs. 1 Nr. 3a SGB V bewusst war, insbesondere ob damit die
Anrechnungsregelung des § 48 Abs. 3 Satz 1 SGB V für Ansprüche auf Verletztengeld und Krankengeld außer Kraft
gesetzt werden sollte.
Der Änderung des § 49 Abs. 1 Nr. 3a SGB V hätte es nicht bedurft, um die Geltung des § 11 Abs. 5 SGB V außer
Frage zu stellen, wonach auf Leistungen kein Anspruch (gegenüber der Gesetzlichen Krankenversicherung) besteht,
wenn sie als Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung zu
erbringen sind. Der Regelungsgehalt des § 11 Abs. 5 SGB V liegt zunächst in der Bestimmung der vorrangigen
Leistungszuständigkeit des Unfallversicherungsträgers im Falle unfall- bzw. berufskrankheitsbedingter Schädigungen
in Bezug auf Leistungen zum Ausgleich und zur Überwindung deren Folgen. Der Ausschluss eines Anspruchs (im
Sinne eines Stammrechts) auf Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung, bei dessen Fehlen ein Ruhen
schon von vorn herein nicht in Betracht kommt, lässt sich § 11 Abs. 5 SGB V nur in Bezug auf diese spezifisch im
Recht der Gesetzlichen Unfallversicherung begründeten Leistungen entnehmen. Eine Kumulation von Leistungen im
Falle des Zusammentreffens solcher Schädigungen mit nicht unfall- bzw. berufskrankheitsbedingten
Gesundheitsschäden wurde dagegen nicht durch § 11 Abs. 5 SGB V, sondern gerade durch § 49 Abs. 1 Nr. 3a SGB
V alter Fassung ausgeschlossen. Erst recht ließ und lässt sich weder vor nach der Änderung des § 49 Abs. 1 Nr. 3a
SGB V der Regelung des § 11 Abs. 5 SGB V als Rechtsfolge entnehmen, dass die Dauer des Anspruchs und des
Bezugs vergleichbarer Lohnersatzleistungen, die nacheinander einmal wegen unfall- bzw. berufskrankheitsbedingter
Schädigungen und ein andermal wegen nicht unfall- bzw. berufskrankheitsbedingter Gesundheitsschäden gewährt
werden (Verletzten- und Krankengeld), aufeinander anzurechnen seien. Selbst wenn man die Änderung des § 49 Abs.
1 Nr. 3a SGB V damit begründen wollte, hierdurch die uneingeschränkte Geltung des § 11 Abs. 5 SGB V
klarzustellen, kann in Folge einer solchen Klarstellung § 11 Abs. 5 SGB V keine Rechtsfolge beigemessen werden,
welche ihr zuvor nie innegewohnt hat. Gerade dem erst durch § 49 Abs. 1 Nr. 3a SGB V bewirkten Ausschluss einer
Kumulation von Leistungen und der hierdurch in Verbindung mit § 48 Abs. 3 Satz 1 SGB V bewirkten Anrechnung der
Anspruchsdauer hat die Änderung die gesetzliche Grundlage entzogen, ohne dass eine solche in gleicher Weise in §
11 Abs. 5 SGB V gefunden werden könnte.
Wie bereits das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 08.11.2005, Az. B 1 KR 33/03 R, festgestellt hat, machte
die Anrechnung der Bezugsdauer des Verletztengeldes auf die Anspruchsdauer des Krankengeldes gemäß § 48 Abs.
3 Satz 1 SGB V die wesentliche Rechtsfolge und Rechtfertigung der - ansonsten mangels Stammrechts eigentlich
überflüssigen - Ruhensanordnung des § 49 Abs. 1 Nr. 3a SGB V alter Fassung aus. Daraus folgt mangels eines
sonstigen änderungsfähigen Regelungsgehalts des Stammgesetzes, dass die einzig denkbare Regelungswirkung des
Änderungsgesetzes vom 21.03.2005 objektiv nur darin liegen konnte, diese Anrechnungsfolge außer Kraft zu setzen.
Diese Folge hat das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 08.11.2005 mit den Worten zusammengefasst:
"Der Ausschluss des Krankengeldes nach § 11 Abs. 4 SGB V dürfte ohne die Regelung in § 49 Abs. 1 Nr. 3a SGB V
a.F. dazu führen, dass nach der allgemeinen Regelung des § 48 Abs. 3 Satz 2 SGB V der Verletztengeldbezug nicht
auf die Krankengeldbezugsdauer anzurechnen ist."
Die Kammer geht davon aus, dass diese höchstrichterliche Entscheidung dem Gesetzgeber bekannt ist. Darüber
hinaus haben sowohl die Spitzenverbände der Krankenkassen als während des anhängigen Verfahrens nochmals die
Beklagte beim zuständigen Bundesministerium für Gesundheit die Frage einer evtl. Gesetzeskorrektur aufgeworfen,
ohne dass sich diese Bemühungen in einer Klarstellung durch den Gesetzgeber niedergeschlagen hätten. Ob die
dargestellte Rechtsfolge von den am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten so gewollt war oder nicht, ist in diesem
Falle unerheblich. Wenn der Gesetzgeber diese Hinweise nicht zum Anlass für eine unverzügliche Korrektur
genommen hat, gilt die besagte Rechtsfolge. Von einem "redaktionellen Versehen" (so das Sozialgericht Regensburg,
Urteil vom 09.06.2009, Az. S 2 KR 252/06) kann nicht mehr gesprochen werden.
Vor diesem Hintergrund erachtet sich die Kammer nicht für befugt, nach der Streichung der Ruhensanordnung die
frühere Anrechnungsfolge mit der Begründung weiter anzuwenden, das Gesetz sei versehentlich erlassen worden.
Denn das hieße, der Gesetzesänderung die objektiv einzige Regelungswirkung abzusprechen. Dies würde die durch
das Gewaltenteilungsprinzip und die Gesetzesbindung der Gerichte nach Artikel 20 Abs. 2 und 3 GG gesetzten
Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung überschreiten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 183 Satz 1 und § 193 Abs. 1 SGG. Die Berufung ist mit Rücksicht auf die
kalendertägliche Höhe des Anspruchs auf Krankengeld von 37,92 EUR kraft Gesetzes zulässig (§§ 143, 144 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 SGG).