Urteil des SozG Dresden vom 20.01.2010

SozG Dresden: rollstuhl, diabetes mellitus, körperliche untersuchung, wohnung, behinderung, gutachter, haus, firma, fortbewegung, gerichtsakte

Sozialgericht Dresden
Urteil vom 20.01.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Dresden S 25 KR 365/08
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 31.01.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
19.06.2008 verurteilt, dem Kläger einen Elektrorollstuhl mit einer Begrenzung der Fahrgeschwindigkeit auf 5 km/h zu
gewähren.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger einen Rollstuhl mit Elektroantrieb bzw. einen
Elektrorollstuhl zu gewähren hat.
Der 1940 geborene Kläger leidet als Folge eines insulinpflichtigen Diabetes mellitus Typ I unter anderem an
Neuropathie und einem diabetischem Gangrän. Er wurde durch die Beklagte mit einem Leichtgewichtsrollstuhl
versorgt. Der Kläger ist nicht in der Lage, sich aus eigener Kraft in diesem Rollstuhl innerhalb des Nahbereiches der
Wohnung fortzubewegen. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Darüber hinaus leidet der Kläger unter
Hypoglykämien, die meistens nachts manchmal auch tagsüber auftreten. Aus diesem Grund verlässt der Kläger das
Haus nur in Begleitung seiner Ehefrau, die über eine Aus-bildung als Operationsschwester verfügt. Im Falle einer sich
ankündigenden Hypoglykämie gibt sie ihm eine Glukosespritze.
Die Beklagte hatte dem Kläger im Juni 2007 eine elektrische Schiebehilfe für den Leichtgewichtsrollstuhl gewährt.
Diese Schiebehilfe wurde im Januar 2008 durch den Kläger an das Sanitätshaus zurückgegeben.
Unter dem 09.01.2008 verordnete die behandelnde Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. med. H. dem Kläger einen
elektrischen Zusatzantrieb für den vorhandenen Rollstuhl. Ausweislich eines Kostenvoranschlages vom 11.01.2008
der Firma Orthopädie-Service R. GbR belaufen sich die Kosten für einen solchen elektrischen Zusatzantrieb auf
5.238,14 EUR. Unter Vorlage der Verordnung und des Kostenvoranschlages beantragte der Kläger die
Kostenübernahme für den elektrischen Zusatzantrieb. Im Rahmen des Antragsverfahrens nach Einholung einer
Stellungnahme der gemeinsamen Hausärztin und nach Konsultation des medizinischen Dienstes der
Krankenversicherung (MDK) lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 31.01.2008 die Kostenübernahme für den
Zusatzantrieb unter Verweis auf die im Juni 2007 gewährte Schiebehilfe ab.
Mit seinem unter dem 05.02.2008 eingelegten Widerspruch wies der Kläger darauf hin, dass die Schiebehilfe keine
Möglichkeit mehr darstelle, da das Gerät zu schwer für seine Ehefrau sei. Die Schiebehilfe sei am 10.01.2008 an die
Firma R. zurückgegeben worden. Im Widerspruchsverfahren kam es zu einem Besuch der Hilfsmittelberaterin der
Beklagten Frau E ... Darüber hinaus gab die Beklagte ein Gutachten des MDK in Auftrag. Die MDK-Gutachterin
kommt in dem Gutachten vom 20.03.2008 nach Aktenlage zu dem Ergebnis, dass eine selbständige Rollstuhlnutzung
dem Versicherten nicht möglich und bei diabetesbedingtem Anfallsleiden und häufigen Unterzuckerungen auch nicht
erlaubt sei. Sie verweist darauf, dass bei einem Zusatzantrieb die Radeinheiten abmontiert werden müssten und das
15 kg Gewicht pro Rad nicht unerheblich für die Hilfsperson sei. Dagegen sei die bereits zur Verfügung gestellte
Schiebehilfe zu empfehlen. Die Förderung der Selbständigkeit sei im konkreten Fall bei notwendiger ständiger
Begleitung des Versicherten nicht realistisch. Der Kläger wies im Widerspruchsverfahren darauf hin, dass seine
Ehefrau gesundheitlich nicht mehr in der Lage sei, einen Rollstuhl mit Schiebehilfe zu schieben. Mit
Widerspruchsbescheid vom 19.06.2008 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Da der Kläger an einem
diabetesbedingten Anfallsleiden erkrankt sei und es häufig zur Unterzuc-kerung komme, sei es ihm nicht möglich den
Rollstuhl zu bedienen und selbständig zu fahren.
Mit der am 08.07.2008 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Seiner Ehefrau sei es aus
gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich, den Rollstuhl mit Schiebehilfe zu schieben. Sie leide insbesondere
unter den Folgen eines Bandscheibenvorfalls und einer Rotatoren-Manschettenruptur. Darüber hinaus leide sie an den
Folgen eines Darmverschlusses im Jahr 2007. Ihr rechter Arm falle zum Schieben praktisch aus, so dass sie auch
bei Verwendung der Schiebehilfe ausschließlich mit dem linken Arm schiebe. Das Schieben selber koste nicht so viel
Kraft, da der Rollstuhl praktisch wie von selber laufe. Sie habe jedoch nicht mehr ausreichend Kraft, den Rollstuhl
festzuhalten, unter Kontrolle zu halten und zu lenken. Darüber hinaus sei die Schiebehilfe zu schwer zum An- und Ab-
montieren. Hierzu müsse sie sich bücken und die sehr schwere Schiebehilfe wie einen Be-tonklotz ausheben bzw.
wieder reinheben.
Er selber miete seit geraumer Zeit Elektrorollstühle von der Firma R ... Er habe keine Probleme diese zu steuern und
es sei noch zu keiner kritischen oder gefährlichen Situation im Straßenverkehr gekommen. Er sei sich bewusst, dass
seine Frau ihn außerhalb der Wohnung ständig begleiten müsse. Er genieße jedoch das selbständige Fahren mit dem
Elektrorollstuhl, da dies so ziemlich das Einzige sei, was er noch selbständig machen könne. Es sei ihm mit einem
Elektrorollstuhl auch möglich, kleinere Besorgungen in dem Zeitschriftenladen und dem Supermarkt, der sich bei ihm
im Erdgeschoss des Hauses befindet, selbständig zu machen und den Briefkasten, den er mit einem Aufzug
erreichen könne, zu leeren. Er habe zwar den E-Fix-Zusatzantrieb beantragt, weil er nicht so anspruchsvoll habe sein
wollen. Ein Elektrorollstuhl habe jedoch den Vorteil, dass der Zusatzantrieb an den Greifreifenrollstuhl nicht durch
seine gesundheitlich beeinträchtigte Frau montiert werden müsse.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 31.01.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
19.06.2008 zu verurteilen, die Kosten für einen Elektrorollstuhl zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl gehe über das Maß des Notwendigen hinaus. Der Kläger sei mit einem
manuellen Rollstuhl ausgestattet. Sofern dieser mit einer Brems- und Schiebehilfe ausgestattet werde, sei auch das
Grundbedürfnis der Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraumes gewahrt, zumal die Ehefrau den Kläger
ohnehin ständig begleiten müsse. Dem Kläger werde durch den Elektrorollstuhl kein selbständiges Leben ermöglicht,
da der Kläger sich auch mit dem Elektrorollstuhl von seiner Ehefrau nicht entfernen dürfe. Dass der Kläger vielleicht
bei einem Stadtbummel ein anderes Schaufenster als seine Ehefrau betrachten wolle oder dass er schon zu einer
Parkbank fahre, während seine Ehefrau noch ein Eis oder Ähnliches vom Imbissstand hole, könne nicht die
Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung begründen. Die Beklagte hat im Kla-geverfahren zwei weitere
Besuche ihrer Hilfsmittelberaterinnen bei dem Kläger sowie ein Fahrtauglichkeitsgutachten bei der TÜV Süd Life
Service GmbH veranlasst. Auf die Berichte der Hilfsmittelberaterinnen und das Gutachten wird Bezug genommen (vgl.
Blatt 99, 136 ff. und 153 ff. der Gerichtsakte).
Das Gericht hat Befundberichte der den Kläger und seine Frau behandelnden Ärzte eingeholt, nämlich von der
Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. med. H., dem Facharzt für Augenheilkunde Dr. med. M. und von der
Internistin/Diabetologin Dipl.-Med. H ... Auf die Befundberichte nebst den mit ihnen übersandten Unterlagen wird
Bezug genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitverhältnisses wird auf den Inhalt der
Verwaltungsakte und der Gerichtsakte, hier insbesondere auf die Niederschriften über den Erörterungstermin am
08.04.2009 und über die mündliche Verhandlung vom 20.01.2010 verwiesen. Die vorgenannten Akten haben
vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Gewährung eines Elektrorollstuhls.
Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen
Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden
Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine
Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Nach
der ständigen Rechtsprechung gehören zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Greifen,
Sehen, Hören, die Nahrungsaufnahme, das Ausscheiden, die (elementare) Körperpflege, das selbstständige Wohnen
sowie das Erschließen eines körperlichen Freiraums im Nahbereich der Wohnung und das Bedürfnis, bei Krankheit
oder Behinderung Ärzte und Therapeuten aufzusuchen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 24.05.2006, Az. B 3 KR
16/05 R).
Vorliegend ist die Gewährung eines Elektrorollstuhls erforderlich, um das anerkannte Grundbedürfnis der
Bewegungsfreiheit zu befriedigen. Nach der Rechtsprechung umfasst dieses Grundbedürfnis die Möglichkeit,
diejenigen Entfernungen zurückzulegen, die ein gesunder Mensch üblicherweise noch zu Fuß zurücklegt. Hierzu
gehört, sich in der eigenen Wohnung bewegen und die Wohnung verlassen zu können, um bei einem kurzen
Spaziergang " an die frische Luft zu kommen" oder die – üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden –
Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (vgl. BSG, Urteil vom 12.08.2009 Az.: B 3 KR 8/08
R Rdnr. 15 m.w.N.). Der Kläger kann aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen dieses Grundbedürfnis
nicht mehr mit dem ihm zur Verfügung gestellten Greifreifenrollstuhl befriedigen, sondern ist hierfür auf einen
Elektroantrieb angewiesen.
Die Kammer ist davon überzeugt, dass der Kläger einen Elektrorollstuhl unter der Voraussetzung, dass die
Fahrgeschwindigkeit auf 5 km/h begrenzt wird, selbständig bedienen kann. Dies ergibt sich aus dem von der
Beklagten in Auftrag gegebenen Eignungsgutachten zum Führen motorisierter Krankenfahrstühle vom 12.10.2009. Der
Verkehrsmedizini-sche Gutachter Dr. F. sowie die Dipl.-Psych. M. sind zu dem Ergebnis gekommen, dass der Kläger
bei einer Begrenzung der Fahrgeschwindigkeit des Elektrorollstuhls auf 5 km/h und bei ständiger Begleitung durch die
Ehefrau in der Lage ist, einen Elektrorollstuhl sicher im Straßenverkehr zu führen. Die Kammer folgt den
Ausführungen der Gutachter. Das Gutachten wurde nach verkehrsmedizinischer Untersuchung, die ein ärztliches
Untersu-chungsgespräch und eine körperliche Untersuchung umfasste sowie einer umfangreichen
verkehrspsychologischen Leistungsdiagnostik erstellt. Die Kammer geht ferner davon aus, dass die beiden Gutachter
in der Einschätzung der Fahrtauglichkeit erfahren sind. Darüber hinaus wird die Einschätzung, dass unter den
genannten Bedingungen keine Bedenken gegen die selbständige Nutzung eines Elektrorollstuhls bestehen, durch den
behandelnden Augenarzt, die behandelnde Internistin und die behandelnde Hausärztin geteilt. Alle vorgenannten Ärzte
sind davon überzeugt, dass der Kläger einen Elektrorollstuhl unter den genannten Bedingungen ohne Gefährdung
seiner Person oder Dritter benutzen könnte.
Der Benutzung eines Elektrorollstuhls steht auch nicht entgegen, dass der Kläger bei Ausfahrten auf die ständige
Begleitung seiner Ehefrau angewiesen ist. Wie die Ehefrau des Klägers in dem Erörterungstermin anschaulich
beschrieben hat, kündigt sich eine Hypoglykämie 10 bis 15 Minuten vorher an. Sowohl der Kläger als auch seine
Ehefrau sind seit Jahren mit den Symptomen vertraut. Es ist daher davon auszugehen, dass der Kläger zwar bei
Ausfahrten auf die ständige Begleitung seiner Ehefrau angewiesen ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Ehefrau
ständig in unmittelbarer Nähe des Rollstuhls bleiben muss. Ein Elektrorollstuhl wird es dem Kläger ermöglichen sich
auch kurze Strecken von seiner Ehefrau zu entfernen, um selbständig die allernächste Umgebung zu erkunden oder
sogar ein Geschäft für eine kleine Besorgung selbständig aufzusuchen. Nach Ansicht der Kammer ist diese
selbständige Bewegung von dem Grundbedürfnis der Fortbewegung umfasst, auch wenn die selbständige
Fortbewegung begrenzt ist (vgl. zu dieser Problematik Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 05.12.2008, Az.: 1
BvR 120/09). Ist eine selbständige Bewegung mit einem Elektrorollstuhl noch möglich, kann der Kläger nicht auf eine
Schiebehilfe verwiesen werden (vgl. hierzu auch BSG Urteil vom 12.08.2009, Az.: B 3 KR 8/08 R Rdnr. 20). Wie sehr
der Bewegungsradius durch die Nutzung eines Elektrorollstuhls erweitert wird, hat der Kläger anschaulich in der
mündlichen Verhandlung be-richtet. Er war in der Lage, mit Hilfe des Aufzuges und eines ausgeliehenen
Elektrorollstuhls in seinem Haus selber den Briefkasten zu seiner Wohnung zu leeren und die im gleichen Haus
befindlichen Geschäfte aufzusuchen. Nach dem Eindruck, den das Gericht in dem Erörterungstermin und der
mündlichen Verhandlung von den Persönlichkeiten des Klägers und seiner Ehefrau gewonnen hat, ist die Kammer
davon überzeugt, dass der Kläger die Nutzung des Elektrorollstuhls verantwortungsvoll gestalten und sich nur soweit
von seiner Frau entfernen wird, als dass sie ihm rechtzeitig (d. h. innerhalb von 10 bis 15 Minuten) im Falle einer
Hypoglykämie eine Glukosespritze verabreichen kann.
Darüber hinaus ist die Ehefrau des Klägers nach Überzeugung der Kammer nicht in der Lage, den vorhandenen
Rollstuhl selbst unter Zuhilfenahme einer Schiebehilfe zu schieben. Die Angaben der Ehefrau des Klägers, dass sie
aufgrund der Rotatorenmanschettenruptur, aufgrund derer sie nur mit dem linken Arm schieben kann, des
Bandscheibenvorfalls sowie des Darmverschlusses im Jahre 2007 nicht mehr in der Lage ist, den Rollstuhl mit der
Schiebehilfe zu schieben, sind glaubhaft und nachvollziehbar. Die vorgenannten Krankheiten sind durch medizinische
Befunde belegt. Die behandelnde Hausärztin Dr. med. H. hat angegeben, dass die Ehefrau des Klägers kraftlos und
nicht mehr belastbar ist. Die Angaben der Ehefrau des Klägers, dass sie insbesondere den Rollstuhl auch mit einer
Schiebehilfe nicht mehr halten, lenken und in Gefahrensituationen kontrollieren könne, sind ebenfalls glaubhaft, dies
insbesondere vor dem Hintergrund, dass nur der linke Arm einsatzfähig ist. Darüber hinaus ist es der
bandscheibengeschädigten Ehefrau des Klägers nicht zuzumuten, die relativ schwere Schiebehilfe jeweils an- und
abzumontieren. Aus dem gleichen Grund stellt auch der elektrische Zusatzantrieb für den vorhandenen
Greifreifenrollstuhl keine Versorgungsalternative dar.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.