Urteil des SozG Detmold vom 30.09.2009

SozG Detmold (antragsteller, bundesrepublik deutschland, verhalten, anordnung, antrag, sgg, angabe, identität, deutschland, buch)

Sozialgericht Detmold, S 6 AY 29/09 ER
Datum:
30.09.2009
Gericht:
Sozialgericht Detmold
Spruchkörper:
6. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
S 6 AY 29/09 ER
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung
verpflichtet, den Antragstellern zu 1) bis 5) für die Zeit vom 28.07.09 an
bis zum 30.09.09 vorläufig - unter dem Vorbehalt einer abweichenden
Entscheidung in der Hauptsache - Leistungen gemäß § 2 des
Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylblG) in Verbindung mit dem
Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) unter Berücksichtigung
bereits gewährter Leistungen nach § 3 AsylblG zu gewähren.
Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des
Verfahrens.
Gründe: I.
1
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung so genannter privilegierter Leistungen
gemäß § 2 AsylblG in Verbindung mit SGB XII anstelle von Leistungen gemäß § 3
AsylblG im Streit.
2
Die Antragsteller zu 1) bis 3) reisten im Jahre 1992 aus dem Kosovo in die
Bundesrepublik Deutschland ein. Im Asylverfahren gaben sie an, dem Volksstamm der
Roma anzugehören. Der gestellte Asylantrag wurde mit Bescheid vom 23.04.1993
abgelehnt und erlangte durch ein Urteil des Verwaltungsgerichtes Minden vom
12.04.1994 am 18.05.1994 Rechtskraft.
3
In der Folgezeit tauchten die Antragsteller unter und stellten unter einem falschen
Namen einen weiteren Asylantrag. Im Rahmen dieses Antrages gaben sie an, zur
Gruppe der Ashkali zu gehören. In der Folgezeit wurden die Antragsteller zu 4) und 5)
geboren. Die Ablehnung weiterer Asylanträge ist seit dem 25.02.2003 rechtskräftig. Bis
Februar 2003 lebten die Antragsteller unter dem falschen Namen in T und bezogen dort
Leistungen nach dem AsylbLG, bis die wahre Identität aufdeckt wurde.
4
In zwei vorangegangenen Verfahren bei dem Sozialgericht Detmold zu den Az.: S 6 AY
17/05 und S 6 (6,22) AY 12/06 wurden die Klagen der hiesigen Antragsteller mit dem
Begehren auf Erhalt von Leistungen gemäß § 2 AsylblG jeweils abgewiesen. Seinerzeit
5
waren die Antragsteller zu 1) bis 5) noch im Besitz einer Duldung. Das Gericht ist in den
zuvor genannten Entscheidungen vom Vorliegen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens im
Sinne von § 2 Abs. 1 AsylblG ausgegangen. In den Entscheidungen wurde darauf
hingewiesen, die Antragsteller hätten die Dauer ihres Aufenthaltes durch die Angabe
der falschen Identität u.a. während des Leistungsbezuges in T rechtsmissbräuchlich
beeinflusst. Zudem hätten sie auch ab der Aufeckung der Indentität im Jahre 2003 die
Dauer des Aufenthalts dadurch weiter rechtsmissbräuchlich beeinflusst, dass sie ihre
Volkszugehörigkeit verschleiert hätten. Das erkennende Gericht ist insbesondere in der
Entscheidung vom 14.02.2008 zum Az.: S 6 (6,22) AY 12/06 davon ausgegangen, dass
die Antragsteller zunächst angegeben haben, Roma zu sein. Darauf wurde die
Volkszugehörigkeit Ashkali angegeben. Im Rahmen einer geplanten Rückführung im
Jahre 2007 wurde sodann die Volkszugehörigkeit der Ägypter bei den Antragstellern
festgestellt. In der zuvor genannten Entscheidung wurde ebenfalls darauf hingewiesen,
dass einer Stellungnahme des Gesundheitsamtes des Kreises M vom 05.01.2006 und
16.01.2007 eine Reisefähigkeit der damaligen Kläger, somit der hiesigen Antragsteller,
vorgelegen habe. Ein Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 60 Abs. 7
Aufenthaltsgesetz sei am 04.04.2006 abgelehnt worden.
Zwischenzeitlich wurde eine weitere Stellungnahme vom Fachgebiet Gesundheit des
Kreises M eingeholt. Mit Datum vom 14.02.2008 teilte der dortige Amtsarzt, Dr. H mit, bei
dem Antragsteller zu 1) bestünde eine personenbezogene Flugreiseunfähigkeit. Wie der
Antragsgegner in seinem Schriftsatz vom 25.09.2009 mitgeteilt hat, werden
Rückführungen auf dem Landweg seitens des Ausländeramtes M bzw. der beteiligten
Behörden nicht praktiziert.
6
Zwischenzeitlich wurden den Antragstellern zu 1) bis 5) von dem zuständigen
Ausländeramt Aufenthaltserlaubnisse gemäß § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes
(AufenthG) ausgestellt.
7
Mit hier streitgegenständlichem Bescheid vom 26.06.2009 wurden den Antragstellern zu
1) bis 5) Leistungen gemäß § 3 AsylblG gewährt.
8
Hiergegen wandten sich die Antragsteller mit dem vom 28.07.2009 datierenden
Widerspruch, zu dessen Begründung sie ausführen, ihnen sei ein
rechtsmissbräuchliches Verhalten nicht vorzuwerfen. Die zuständige Ausländerbehörde
hätte mit der Erteilung der Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 5 AufenthG infolge der
Reiseunfähigkeit des Antragstellers zu 1) und den Vorgaben des Art. 6 Grundgesetz
(GG) immerhin eine Entscheidung dahingehend getroffen, dass eine Ausreise aus
rechtlichen Gründen unmöglich sei.
9
Ein Widerspruchsbescheid ist, soweit ersichtlich, bislang nicht ergangen. Die
Antragsteller wandten sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes am 28.07.2009
an das SG Detmold.
10
Die Antragsteller beantragen,
11
ihnen im Wege der einstweiligen Anordnung Leistungen gemäß § 2 des
Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylblG) in Verbindung mit dem Zwölften Buch
Sozialgesetzbuch (SGB XII) unter Anrechnung bereits gewährter Leistungen gemäß § 3
AsylblG zu gewähren.
12
Der Antragsgegner beantragt,
13
den Antrag abzulehnen.
14
Zur Begründung verweist er darauf, dass für die Beurteilung eines
rechtsmissbräuchlichen Verhaltens der gesamte Zeitraum des Leistungsberechtigten in
Deutschland zu betrachten sei. Zur Bejahung eines Rechtsmissbrauchs werde eine
unredliches von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten vorausgesetzt. Beispielhaft
hierfür sei die Angabe einer falschen Identität. Da die Antragsteller ihre Identität durch
die Angabe falscher Volkszugehörigkeiten immer wieder verschleiert hätten, sei hierin
schon ein vorsätzlicher Rechtsmissbrauch zu sehen. Auch das Untertauchen über einen
Zeitraum von acht Jahren unter falschem Namen und das Stellen eines verdeckten
Asylantrages seien ein nicht zu billigendes Verhalten und folglich rechtsmissbräuchlich.
Auch die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG führe
nicht zu einer leistungsrechtlichen Privilegierung der Antragsteller. Durch die
Einbeziehung von Personen mit einem Aufenthaltstitel gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG in
den Kreis der Leistungsberechtigten des AsylblG habe der Gesetzgeber
unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass dieser Personenkreis grundsätzlich
genauso zu behandeln ist wie die sonstigen Leistungsberechtigten nach § 1 Abs. 1
AsylblG. Aufgrunddessen bestünde schließlich auch kein automatischer Anspruch auf
Leistungen gemäß dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
15
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Verwaltungsakte des Antragsgegners sowie der Gerichtsakte und der beigezogenen
Ausländerakten Bezug genommen, der vorgelegen hat und Gegenstand der
Entscheidungsfindung gewesen ist.
16
II.
17
Der Antrag ist zulässig und begründet.
18
Dabei wurde das Passivrubrum - von Amts wegen - unter Bezug auf die Entscheidung
des Bundessozialgerichtes vom 17.06.2008, Az.: B 8/9 b AY 1/07 R, dort Rdnr. 15
korrigiert. Gemäß § 70 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i. V. m. § 3 des
Ausführungsgesetzes zum SGG vom 08.12.1953 (GVBl. NRW 541, zuletzt geändert
durch das Gesetz vom 24.12.1989, GVBl. 678) findet in Nordrhein-Westfalen im Bereich
des Asylbewerberleistungsrechts anstelle des Rechtsträgerprinzips das
Behördenprinzip Anwendung. Richtiger Antragsgegner ist demzufolge der
Bürgermeister der Gemeinde F.
19
Nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine
einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein
streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwehr wesentlicher
Nachteile notwendig ist. Das ist immer dann der Fall, wenn ohne den vorläufigen
Rechtsschutz eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung von
Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt
werden kann (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, Az.: 1 BvR 569/05 m. w. N.). Steht
dem Antragsteller ein vom ihm geltend gemachter Anspruch voraussichtlich zu und ist
es ihm nicht zuzumuten, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten, ist der
Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes begründet. Eine aus Gründen der
Gewährung effektiven Rechtsschutzes gebotene Vorwegnahme der Hauptsache im
20
einstweiligen Anordnungsverfahren ist jedoch nur zulässig, wenn dem Antragsteller
ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung unzumutbare Nachteile drohen und für
die Hauptsache hohe Erfolgsaussichten prognostiziert werden können (LSG
Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 08.09.2004, Az.: L 7 AL 103/04 ER).
Ausgehend von diesen Grundsätzen haben die Antragsteller zu 1) bis 5)
Anordnungsanspruch und -grund glaubhaft gemacht. Ein Anordnungsgrund, d. h. die
Eilbedürftigkeit ist anzunehmen, da erst die so genannten Analogleistungen nach § 2
AsylbLG die Höhe von Sozialhilfeleistungen erreichen und erst damit das nach der
gesetzgeberischen Wertung im SGB XII in Deutschland bestehende so genannte
soziokulturelle Existenzminimum sichergestellt wird. Entsprechend der Judikatur des
Landessozialgerichtes Nordrhein-Westfalen (vgl. beispielsweise Beschluss vom
26.06.2008, Az.: L 20 B 77/07 AY ER) ist daher ein Anordnungsgrund in Fällen, in
denen - wie hier - Leistungen nach § 2 AsylbLG dem Grunde oder der Höhe nach im
Streit stehen, stets dann zu bejahen, wenn ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht
ist.
21
Vom Vorliegen eines derartigen Anordnungsanspruches ist das Gericht ausgegangen.
Dieser folgt aus § 2 Abs. 1 AsylblG i.V.m. dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB
XII). Das Gericht ist dabei unbeschadet der übrigen Voraussetzungen des § 2 AsylblG
nach der im Antragsverfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen
summarischen Prüfung davon ausgegangen, dass ein rechtsmissbräuchliches
Verhalten im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylblG derzeit nicht mehr anzunehmen ist.
22
Das Bundessozialgericht hat sich mit Urteil vom 17.06.2008 (B 8/9 b AY 1/07 R),
teilweise unter ausdrücklicher Aufgabe der Rechtsprechung des zuvor zuständigen 9 b.
Senates (vgl. hierzu insbesondere die Entscheidung des BSG vom 08.02.2007 - B 9 b
AY 1/06 R), mit der Definition des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens
auseinandergesetzt. Es hat dabei insbesondere festgestellt, dass eine
rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer, die höhere Leistungen in
entsprechender Anwendung des SGB XII (Analogleistungen) für Leistungsberechtigte
nach dem AsylbLG nach einem 36- bzw. 48-monatigen Vorbezug von Leistungen nach
§ 3 AsylbLG (Grundleistungen) ausschließt, ein auf die Aufenthaltsverlängerung
fehlendes vorsätzliches, sozialwidriges Verhaltens unter Berücksichtigung des
jeweiligen Einzelfalles voraussetzt. Hierfür genüge nicht schon die Inanspruchnahme
einer ausländerrechtlichen Duldung, wenn es dem Ausländer möglich und zumutbar sei,
freiwillig auszureisen. Eine Beeinflussung der Aufenthaltsdauer läge schon dann vor,
wenn bei generell - abstrakter Betrachtungsweise das rechtsmissbräuchliche Verhalten
typischerweise die Aufenthaltsdauer verlängern könne (vgl. hierzu Urteil des BSG 8.
Senat vom 17.06.2008 - B 8/9b AY 1/07 R).
23
In der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 17.06.2008 - B 8/9 b AY 1/07 R, dort
insbesondere Rd.-Nr.n. 43 und 44) wurde ausgeführt, eine Ausnahme von der
typisierenden Betrachtungsweise im Sinne der zwischenzeitlich erfolgten
höchstrichterlichen Rechtsprechung müsse dann gemacht werden, wenn eine etwaige
Ausreisepflicht des betroffenen Ausländers unabhängig von seinem Verhalten ohnehin
in dem gesamten Zeitraum ab dem Zeitpunkt des Rechtsmissbrauchs nicht hätte
vollzogen werden können, etwa weil die Erlasslage des zuständigen Innenministeriums
eine Abschiebung ohnehin nicht zugelassen hätte. In diesen Fällen sei eine
typisierende Betrachtungsweise nicht mehr zulässig. Dabei kann vorliegend
dahinstehen, ob und ggf. seit wann diese Voraussetzung vorgelegen hat. Denn
24
zwischenzeitlich ist gegenüber den Entscheidungen des SG Detmold vom 14.02.2008
zu den Az.: S 6 AY 17/05 und S 6 (6,22) AY 12/06 eine Änderung im Sachverhalt
dahingehend eingetreten, dass sämtlichen Antragstellern Aufenthaltserlaubnisse
gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt wurden. Die obergerichtliche Judikatur geht nach
hiesigem Kenntnisstand weitestgehend davon aus, dass für den Fall, dass den
Leistungsberechtigten Aufenthaltserlaubnisse gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt
wurden, von einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylblG
jedenfalls bei der im Antragsverfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes
gebotenen summarischen Prüfung nicht ausgegangen werden kann (vgl. hierzu
Beschluss des LSG NRW vom 06.08.2007, Az.: L 20 B 50/07 AY ER, darüber hinaus
Urteil des LSG Baden-Württemberg 7. Senat vom 22.11.2007, Az.: L 7 AY 4504/06
sowie Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg v. 06.09.2007, L 15 B 12/07 AY ER).
Das Gericht verkennt dabei nicht, dass die Antragsteller in der Vergangenheit durch die
Angabe unterschiedlicher Identitäten und Volkszugehörigkeiten sowie wiederholte
Asylantragstellungen verbunden mit Untertauchen ihre Aufenthaltsdauer in der
Bundesrepublik Deutschland, sowie es auch in den zuvor genannten Entscheidungen
des SG Detmold ausgeurteilt wurde, verlängert haben dürften. Mit der vom
Gesundheitsdienst des Kreises M bescheinigen Flugreiseunfähigkeit des Antragstellers
zu 1) und der Äußerung des Antragsgegners, Rückführungen auf dem Landweg würden
nicht erfolgen, ist jedoch deutlich geworden, dass derzeit zumindest für eine
zwangsweise Durchsetzung der Ausreise kein Raum besteht. Insoweit ist gegenüber
den zuvor getroffenen Entscheidungen eine Zäsur eingetreten, die zwischenzeitlich eine
abweichende Entscheidung rechtfertigt.
25
Hinsichtlich der Antragsteller zu 1) bis 5) waren die Leistungen vom Zeitpunkt der
Anhängigkeit des Antrages auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes bei dem SG
Detmold an zuzusprechen und auf das Monatsende der Entscheidung zu befristen, da
der Erlass einer einstweiligen Anordnung nur der Beseitigung einer gegenwärtigen
Notlage dient.
26
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 183 SGG.
27