Urteil des SozG Berlin vom 23.03.2007

SozG Berlin: behandlung im ausland, künstliche befruchtung, ambulante behandlung, schwangerschaft, versorgung, ivf, belgien, injektion, klageart, krankenversicherung

Sozialgericht Berlin
Urteil vom 23.03.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 86 KR 660/04
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Maßnahme zur Herbeiführung einer Schwangerschaft in Verbindung
mit einer Präimplantationsdiagnostik (PID) in Belgien.
Die im Jahre 1974 geborene Klägerin ist Mitglied der Beklagten. Sie leidet an einem Gendefekt (x-chromosomal
vererbte Septische Granulomatose), der von ihr an 50 v. H. ihrer männlichen Nachkommen weitergegeben wird. Dieser
Gendefekt führt bei männlichen Nachkommen zu einer Störung des Immunsys-tems und löst lebensbedrohliche
Erkrankungen aus. Töchter werden – wie die Klägerin – zu 50 v. H. Über-trägerinnen des Defekts. Am 28. August
2003 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung von Maßnahmen zur künstlichen Herbeiführung einer
Schwangerschaft (In-Vitro-Fertilisation (IVF) / intra-cytoplasmatische Spermien-Injektion (ICSI)) in Verbindung mit
einer PID in einer belgischen Klinik. Ziel sollte der Ausschluss eines Gendefekts bei dem Embryo sein. Dieses lehnte
die Beklagte mit Bescheid vom 10. September 2003 ab. Den Widerspruch wies die Beklagte mit
Widerspruchsbescheid vom 19. Februar 2004 zurück.
Mit der Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie trägt im Wesentlichen vor, dass sie in Deutsch-land nicht
die Möglichkeit habe, den Gendefekt bei dem Embryo frühzeitig ausschließen zu lassen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Bescheid der Beklagten vom 10. September 2003 in der Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 19. Februar
2004 aufzuheben und die Beklagte zu ver-urteilen, die Krankenhausbehandlung der Klägerin zur Durchführung von
Maß-nahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft (In-Vitro-Fertilisation (IVF) / intracytoplasmatische Spermien-
Injektion (ICSI)) mit Präimplantationsdi-agnostik (PID) zu bewilligen und festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet
ist, die ambulanten Kosten dieser Maßnahmen zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Ansicht, dass die geforderte PID nach bundesdeutschem Recht verboten sei. Eine Leistungspflicht für eine
solche Behandlung im Ausland komme nicht in Betracht. Zudem seien die nach bundesdeutschem Recht geforderten
Voraussetzungen für die Gewährung einer medizinischen Maßnahme zur Herbeiführung einer Schwangerschaft nicht
erfüllt.
Das Gericht hat die Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Dr. S zu den Einzelheiten der Behand-lung
befragt und den Nationalen Ethikrat sowie das Deutsche Referenzzentrum für Ethik in den Biowissen-schaften (DRZE)
um Auskunft ersucht. Wegen des Ergebnisses der Auskunftsersuchen wird auf den Befund-bericht der Ärztin Dr. S
vom 29. Oktober 2004 und die Auskünfte des Nationalen Ethikrates vom 21. Juli 2006 und des DRZE vom 21. August
2006 verwiesen.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil zugestimmt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Beteiligtenvortrages wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des
Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist unbegründet.
Die Kammer kann mit der Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entschei-den (§ 124
Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).
Richtige Klageart ist, soweit hier eine ambulante Behandlung in Belgien im Streit ist, die Anfechtungs- und
Feststellungsklage, weil es eines genehmigenden Bescheides der Beklagten für ambulante Behandlungen
grundsätzlich nicht bedarf (§ 13 Abs. 4 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V)). Soweit eine Kranken-
hausbehandlung in Belgien im Streit ist, ist hier die Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Genehmigung nach § 13
Abs. 5 SGB V die richtige Klageart.
In der Sache hat die Klage jedoch keinen Erfolg. Die Voraussetzungen zur Leistung der geforderten Maß-nahmen sind
nach bundesdeutschem Recht nicht erfüllt.
Rechtsgrundlage für die Kostenerstattung von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, die in anderen
Staaten der Europäischen Union in Anspruch genommen werden, ist zunächst § 13 Abs. 4 SGB V. Hiernach besteht
ein Anspruch auf Erstattung solcher Aufwendungen in Höhe der Vergütung, die die Kran-kenkasse bei der Erbringung
als Sachleistung im Inland zu tragen hätte (§ 13 Abs. 4 Satz 3 SGB V). Ist eine dem allgemeinen anerkannten Stand
der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung einer Krankheit nur in einem anderen Mitgliedstaat der EU
möglich, kann die Krankenkasse die Kosten der erfor-derlichen Behandlung auch ganz übernehmen (§ 13 Abs. 4 Satz
5 SGB V). Abweichend von § 13 Abs. 4 SGB V können Krankenhausleistungen im EU-Ausland nur nach vorheriger
Zustimmung durch die Kranken-kasse in Anspruch genommen werden. Die Zustimmung darf nur versagt werden,
wenn die gleiche oder eine für den Versicherten ebenso wirksame, dem allgemein anerkannten Stand der
medizinischen Erkennt-nisse entsprechende Behandlung einer Krankheit rechtzeitig bei einem Vertragspartner der
Krankenkasse im Inland erlangt werden kann (§ 13 Abs. 5 Satz 2 SGB V). Nach der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 18. März 2004, Az. C-8/02 Rdnr. 48 und EuGH SozR 4-6030 Art. 59 Nr. 1) ist
es aber allein Sache der Mitgliedsstaaten, den Umfang des Krankenversicherungsschutzes für die Versicherten zu
bestimmen. Die Übernahme der Kosten für ihre Versorgung kann nur insoweit verlangt werden, als das
Krankenversicherungssystem des Mitgliedsstaats der Versicherungszugehörigkeit eine Deckung garantiert (EuGH
SozR, ebd.)
Hiernach hat die Klägerin keinen Anspruch auf Gewährung der beantragten Leistungen.
Es kann dahinstehen, ob es sich bei der PID überhaupt um eine "Krankenbehandlung" im Sinne der §§ 13 Abs. 4 und
5 SGB V handelt. Die PID ist jedenfalls keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung in der Bundesrepublik
Deutschland. Die rechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung der Maßnahme zur Herbeiführung einer
Schwangerschaft (IVF / ICSI) sind nach bundesdeutschem Recht zudem nicht erfüllt.
Nach des Feststellungen des Gerichts, die auf der Auskunft der behandelnden Frauenärztin Dr. S beruhen, erfüllt die
Klägerin Leistungsvoraussetzungen für die Maßnahme zur Herbeiführung einer Schwangerschaft nach § 27 a SGB V
i.V.m. § 92 SGB V und den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Kranken-kassen (heute: Gemeinsamer
Bundesausschuss) über ärztliche Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung (RL künstliche Befruchtung) nicht, weil die
Spermiogramme ihres Ehegatten die maßgeblichen Grenzwerte nicht unterschreiten. IVF und ICSI standen bisher
nach Aussage der Ärztin auch gar nicht zur Diskussion, weil die Klägerin bereits zweimal spontan schwanger wurde.
Ebenso wenig hat die Klägerin einen Anspruch auf Gewährung bzw. Kostenerstattung für eine PID durch die Beklagte.
Es gibt keine gesetzliche Anspruchsgrundlage (§ 31 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I)) für diese medizinische
Leistung. Soweit es sich im Rechtssinne um eine neue Untersuchungs- und Behand-lungsmethode handelt, sind
deren Leistungsvoraussetzungen nicht erfüllt. Denn nach § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V dürfen in der vertragsärztlichen
Versorgung neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden,
wenn dies in den einschlägigen Richtlinien vorgesehen ist. In der Richtlinie des Gemeinsames Bundesausschuss zu
Untersuchungs- und Behandlungsmethoden der vertragsärztlichen Versorgung (Richtlinie Methoden vertragsärztlicher
Versorgung) in der Fassung vom 17. Januar 2006, veröffentlicht im Bundesanzeiger 2006 Nr. 48; zuletzt geändert am
19. September 2006, ver-öffentlicht im Bundesanzeiger 2006 Nr. 226 ist die PID nicht als Leistung der gesetzlichen
Krankenkassen beschrieben. Ein "Systemversagen", das Anlass gäbe, der Klägerin die Kostenerstattung bzw. die
Behand-lung gleichwohl zuzusprechen (hierzu grundlegend: BSG SozR 3-2500 § 135 Nr. 4) ist hier nicht zu erken-nen.
Zu einem derartigen Systemversagen hat das BSG (ebd.) zwar zutreffend ausgeführt, dass es trotz grundsätzlicher
Verbindlichkeit der Richtlinie nicht völlig in das Belieben des Gemeinsamen Bundesaus-schusses gestellt werden
könne, wie und wann er über eine Methode befindet. Es stehe auch nicht im freien Belieben der antragsberechtigten
Gruppierungen, einen entsprechenden Antrag zu stellen. Vielmehr komme – quasi als Regulativ – eine
Erstattungspflicht für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ohne Aufnahme in den Positivkatalog der
Richtlinien dann in Betracht, wenn aus sachfremden Erwägungen oder schlicht mit Verschleppungsabsicht ein
Anerkennungsverfahren nicht in angemessener Zeit beantragt oder durchgeführt wurde. Eine solche Situation vermag
das Gericht allerdings nicht festzustellen. Denn die rechtliche und ethische Bewertung der PID in der Bundesrepublik
Deutschland ist sehr umstritten. Die Dis-kussionen hierzu sind weiterhin nicht abgeschlossen (DRZE, Dossier
Präimplantationsdiagnostik, Februar 2004, 109 ff; Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung, 17. Aus-schuss gemäß § 56 a der Geschäftsordnung, Bundestagsdrucksache 15/3500;
Genetische Diagnostik vor und während der Schwangerschaft, Stellungnahme, Herausgeber: Nationaler Ethikrat 2003;
Beckmann, ZfL 2002, 1999). Zudem wird zu fordern sein, dass die PID wegen der Schwere des Eingriffs in den
Schutzbe-reich des Lebens (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG)) durch den Gesetzgeber geregelt wird und nicht
durch den gemeinsamen Bundesausschuss. Auch böte nur eine genaue gesetzliche Regelung eine gewisse Gewähr
dafür, dass die PID vor einer Aufnahme in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversiche-rungen
gesellschaftlich in breitem Umfang diskutiert wird (vgl. Bericht, Bundestagsdrucksache 15/2500 Seite 75).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Berufung ist gemäß den §§ 143, 144 SGG statthaft.
Die Sprungrevision ist wegen der grundsätzlichen Bedeutung der hier streitigen Rechtsfragen zuzulassen (§ 161
Abs.1, 2 i.V.m. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).