Urteil des SozG Berlin vom 13.03.2017

SozG Berlin: serbien und montenegro, ermittlung des sachverhaltes, angemessene frist, rechtliches gehör, hauptsache, anhörung, behörde, sozialhilfe, familie, erwerbstätigkeit

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Gericht:
SG Berlin 88.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
S 88 AY 335/05 ER
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 7 Abs 1 S 1 AsylbLG, § 20 SGB
10, § 28 VwVfG
Einstellung von Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz wegen Einnahmen aus einer
(unerlaubten selbständigen) Tätigkeit im Straßenhandel
Leitsatz
Zur vollständigen Einstellung von Asylbewerberleistungen:
1) Eine Kürzung von Sozialleistungen "auf Null" bedarf gemäß § 28 VwVfG einer vorherigen
Anhörung der Betroffenen mit ausreichender Äußerungsfrist.
2) Bei Zweifel an der Hilfsbedürftigkeit sind Leistungen der Sozialhilfe nicht ohne weiteres
einzustellen, sondern nur, wenn die Behörde den Sachverhalt gemäß § 20 SGB 10 aufgeklärt
hat.
3) Die Sozialbehörde darf von ihr gewährte Leistungen nicht mit Verweis auf Einkommen aus
verbotenen Erwerbsquellen entziehen.
Tenor
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den
Antragstellern, die bisher nach § 3 sowie § 6 Asylbewerberleistungsgesetz gewährten
Leistungen ab 09. November bis zur bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache
weiter zu gewähren.
Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller.
Gründe
I. Die Antragsteller sind Staatsangehörige von Serbien und Montenegro. Sie sind im
Besitz von Duldungsverfügungen nach § 60 a Abs. 2 Aufenthaltsgesetz. Die Ausübung
selbständiger Tätigkeiten ist ihnen nach ausländerrechtlichen Bestimmungen nicht
gestattet. Die Antragsteller bezogen von dem Antragsgegner laufend Leistungen nach
dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Der Antragsgegner (Ag) übernahm dabei
die Kosten für die Unterbringung der Antragsteller (Ast) in einem Wohnheim der
Arbeiterwohlfahrt incl. der dort gewährten Vollverpflegung. Zusätzlich erhielten die Ast
die in § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG vorgesehenen Barbeträge, sowie Leistungen nach § 6
AsylbLG und zum Teil Aufwandsentschädigungen nach § 5 Abs. 2 AsylbLG.
Am 12. Oktober 2005 ist bei dem Ag gemäß eines Aktenvermerkes bekannt geworden,
dass der Ast zu 1. in der B einem Straßenhandel mit Elektroschrott nachgehen soll.
Mitarbeiter des Ag fanden den Ast zu 1. mit einem großen Ankaufsschild (suche
Waschmaschinen, Kühlschränke, TV – Hifi etc.) hinter einem Auto am Straßenrand vor.
Hinter ihm habe sich eine Sackkarre befunden, die zum Abtransport bereitgestellt war.
Bei einer Vorsprache am 13. Oktober 2005 hat der Ast zu 1. erklärt, dass er nicht mit
gebrauchten Elektrowaren handele, und damit zusätzlich Geld verdiene, sondern in der
Bstraße lediglich anwesend war, um Freunde zu treffen und das besagte Schild lediglich
für einen Freund hochgehalten habe.
Mit Bescheid vom 13. Oktober 2005 stellte der Ag alle Leistungen nach dem AsylbLG mit
Wirkung ab dem 14. Oktober 2005 ein. Zur Begründung führte er aus, der Ast zu 1. sei
bei einer unerlaubten Tätigkeit angetroffen worden. Nach § 7 Abs. 1 AsylbLG sei
Einkommen und Vermögen eines Leistungsberechtigten vorrangig heranzuziehen. Der
Hilfeempfänger habe seine Bedürftigkeit dem Leistungsträger nachzuweisen. Habe der
Sozialhilfeträger berechtigte Zweifel an der Hilfebedürftigkeit, so sei die Leistung
abzulehnen und einzustellen. Es obliege den Ast darzulegen und zu beweisen, dass sie
ihren notwendigen Bedarf nicht aus eigenen Mittel decken könnten. Die
Nichtaufklärbarkeit gehe zu ihren Lasten. Die Einlassungen des Ast zu 1. seien nicht
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Nichtaufklärbarkeit gehe zu ihren Lasten. Die Einlassungen des Ast zu 1. seien nicht
geeignet, Zweifel an dessen Glaubwürdigkeit und damit auch die Zweifel an dessen
Hilfebedürftigkeit zu beseitigen. Dementsprechend sei die Hilfe zum Lebensunterhalt
nach § 7 Abs. 1 AsylbLG zum 14.10.2005 einzustellen gewesen.
Dar Ag veranlasste auch den Auszug aller Ast aus dem Wohnheim der Arbeiterwohlfahrt.
Gegen diesen Bescheid haben die Ast am 03. November 2005 Widerspruch erhoben.
Am 09. November 2005 haben sich die Ast mit dem Begehren des Erlasses einer
einstweiligen Anordnung an das Gericht gewandt. Sie tragen vor, die Ast zu 2. leide an
einer somatoformen Störung mit schwerer Atemnot. Eine Reisetauglichkeit würde
ärztlicherseits verneint. Die Kinder (Ast zu 3. und 4.) besuchten die Schule. Fahrgeld und
Zuschüsse für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel würden derzeit nicht gewährt.
Nach summarischer Prüfung sei davon auszugehen, dass die Ast einen Anspruch auf die
begehrten Leistungen hätten und damit sei auch die Vorwegnahme der Hauptsache
gerechtfertigt. Der Ast zu 1. bestreitet weiterhin, erwerbsmäßig Handel zu treiben.
Angesichts der gravierenden Folgen, die eine Einstellung der Leistungen für die Ast
bedeute, seien auch die Anforderungen, die an eine derartige Begründung
heranzutragen sind, umso höher. Dem genüge der angefochtene Bescheid nicht.
Zudem könne die behauptete Erwerbstätigkeit des Ast zu 1. nicht ohne Weiteres zu
Lasten der übrigen Antragsteller gehen. Die Ast bemängeln auch, dass ihrem Recht auf
ausreichendes rechtliches Gehör nicht genüge getan worden sei, weil der Bescheid vom
13. Oktober 2005 ohne ausreichende vorherige Anhörung ergangen sei.
Die Antragsteller beantragen,
den Antragsgegner zu verpflichten, den Antragstellern Leistungen nach dem AsylbLG zu
gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, der Antragsteller habe einen Anordnungsanspruch nicht mit der für die
Vorwegnahme der Hauptsache hinreichenden hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft
gemacht. Es bestünden erhebliche Zweifel an der Hilfebedürftigkeit des Antragstellers
und seiner Familienangehörigen.
Ergänzend wird hinsichtlich des Sach- und Streitstandes auf die Schriftsätze der
Beteiligten sowie den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der die Ast betreffenden
Verwaltungsakten des Ag Bezug genommen.
II. Der Antrag hat Erfolg. Der Ag war im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu
verpflichten, die bisher gewährten Leistungen nach § 3 und § 6 AsylbLG ab 09.
November 2005, dem Zeitpunkt des Eingangs bei Gericht, bis zur rechtskräftigen
Entscheidung in der Hauptsache vorläufig weiter zu gewähren.
Gemäß § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine
einstweilige Anordnung in Bezug auf einen Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr
besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung
eines Rechtes des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte.
Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes zulässig,
wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Entscheidungserhebliche Angaben sind dabei von den Beteiligten glaubhaft zu machen
(§ 86 b Abs. 2 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -).
Zusammengefasst müssen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung regelmäßig
zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Zum einen muss es im Ergebnis einer Prüfung der
materiellen Rechtslage überwiegend wahrscheinlich sein, dass der Antragsteller mit
seinem Begehren im hauptsächlichen Verwaltungs- oder Klageverfahren erfolgreich sein
wird (Anordnungsanspruch). Zum anderen muss eine gerichtliche Entscheidung
deswegen dringend geboten sein, weil es dem Antragsteller wegen drohender
schwerwiegender Nachteile nicht zuzumuten ist, den Ausgang des
Hauptsacheverfahrens abzuwarten (Anordnungsgrund). Dabei hat das Gericht die
Belange der Öffentlichkeit und des Antragstellers miteinander abzuwägen.
Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind vorliegend mit ausreichender
Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht.
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Der Bescheid vom 13. Oktober 2005 ist rechtswidrig.
Es ergibt sich schon eine formelle Rechtswidrigkeit des Bescheides, weil er ohne
ausreichende vorherige Anhörung der Antragsteller ergangen ist. Eine derartig
gravierende Einschränkung der bisher gewährten Leistungen wie die hier vorgenommene
Kürzung auf Null bedarf in jedem Fall gemäß § 28 VwVfG einer vorherigen Anhörung der
Betroffenen mit ausreichender Äußerungsfrist. Die Gelegenheit zur Stellungnahme, die
dem Ast zu 1. offenbar am 13. Oktober 2005 eingeräumt worden ist, genügt dem auf
keinen Fall, da schon nicht erkennbar ist, dass der Ast zu 1. auf die möglichen
Rechtsfolgen hingewiesen worden ist, und ihm außerdem keine angemessene Frist zur
Äußerung gegeben worden ist.
Auch materiell ist der Bescheid vom 13. Oktober 2005 nicht rechtmäßig. Keineswegs
sind Leistungen der Sozialhilfe bei berechtigten Zweifel an der Hilfebedürftigkeit ohne
Weiteres einzustellen. Die Behörde verkennt, dass sie sich nicht in bloßen Vermutungen
zu ergehen hat, sondern grundsätzlich dem Sachverhalt von Amts wegen gemäß § 20
SGB X aufzuklären hat. Der Leistungsberechtigte bzw. Antragsteller kann allerdings bei
der Ermittlung des Sachverhaltes herangezogen werden und ggf. gemäß § 66 SGB I
auch sanktioniert werden, wenn er der Mitwirkungspflicht nicht ausreichend nachkommt.
Entsprechend dem Verfahren gemäß § 60 ff SGB I ist die Behörde aber nicht
ansatzweise vorgegangen.
Fraglich erscheint auch, ob die Behörde bei verständiger Würdigung des Sachverhaltes
wirklich Zweifel an der gänzlichen Hilfebedürftigkeit der Ast insgesamt haben durfte. Die
dem zugrunde liegende Annahme, der Ast zu 1. könne seine Familie durch den von ihm
möglicherweise betriebenen Straßenhandel mit Elektroschrott ausreichend versorgen,
erscheint dem Gericht sehr gewagt.
Der Ag dürfte die Ast aber auch nicht auf vorrangig aufzubrauchendes Einkommen aus
dem Straßenhandel gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 verweisen. Dabei handelt es sich nämlich
um eine dem Ast nicht erlaubte selbständige Tätigkeit. Dem Bescheid vom 13. Oktober
2005 liegt ersichtlich die Annahme zugrunde, der Ast zu 1. könne sich um seine Familie
auch in Zukunft durch diese Tätigkeit ausreichend versorgen. Dies muss vom Ast zu 1.
als Anstiftung zu weiterem Verstoß gegen ausländerrechtliche Bestimmungen
betrachtet werden. Die Sozialbehörde darf von ihr gewährte Leistungen aber nicht mit
Verweis auf verbotene Erwerbsquellen ablehnen.
Die Sanktionierung ausländerrechtlich verbotener Erwerbstätigkeit hat ggf
ordnungswidrigkeitsrechtlich bzw. strafrechtlich zu erfolgen.
Ungeachtet dessen bestehen unter Berücksichtigung von Artikel 1 Abs. 1, Artikel 2 Abs.
2, Artikel 6 Abs. 1 und 2 sowie Artikel 20 Abs. 1 des Grundgesetzes erheblichste
verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Vorgehensweise bzw Gesetzesinterpretation
des Ag. Seine extreme Reaktion auf den möglichen Regelverstoß des Ast zu 1. nimmt
nämlich die Mittel- und Obdachlosigkeit aller Antragsteller inklusive der minderjährigen
Ast zu. 3 u. 4 billigend in Kauf. Dies widerspricht den genannten
Verfassungsbestimmungen
Auf jeden Fall führt die verfassungsrechtlich gebotene Folgenabwägung zu dem
Ergebnis, dass die bisher gewährten Leistungen weiter zu zahlen sind, denn die totale
Mittellosigkeit der Antragsteller incl. des Wegfalls der bisher gewährten Unterbringung
und Verpflegung nicht hingenommen werden.
Eine Gewährung abgesenkter Leistungen kommt vorliegend nicht in Betracht, da die
Leistungen nach dem AsylbLG gegenüber den Regelleistungen nach dem SGB II und
dem SGB XII ohnehin deutlich abgesenkt sind und nur den absolut notwendigen Bedarf
berücksichtigen.
Nach alledem war dem Antrag stattzugeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 in Verbindung mit § 86 b Sozialgerichtsgesetz
und folgt der Sachentscheidung.
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