Urteil des SozG Berlin vom 27.10.2005

SozG Berlin: wohnung, einkommen aus erwerbstätigkeit, fristlose kündigung, unterbringung, entlassung, heizung, einkünfte, hauptsache, freizeit, haftstrafe

Sozialgericht Berlin
Beschluss vom 27.10.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Berlin S 94 AS 9350/05 ER
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 14 B 1307/05 AS ER
Der Antragsgegner wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, die Miet-rückstände der Antragstellerin in Höhe
von 1710,- Euro darlehnsweise zu übernehmen und der Antragstellerin ab Oktober 2005 Arbeitslosengeld II in Höhe
der Mietkosten von 340,- Euro monatlich vorläufig zu zahlen.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.
Gründe:
I. Die Antragstellerin begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Übernahme von Mietschulden sowie die
Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes.
Die 1955 geborene Antragstellerin verbüßt seit dem 5. Januar 2004 eine mehrjährige Haftstrafe. Sie ist seit Mai 2004
Freigängerin und arbeitete zunächst bis November 2004 außerhalb der Vollzugsanstalt als Zimmermädchen. Von
November 2004 bis Juni 2005 nahm sie an einer von der Agentur für Arbeit geförderten Qualifizierungsmaßnahme im
Bereich Gebäudetechnik/Hausmeisterdienste teil. Nachfolgend war sie arbeitslos und arbeitet seit dem 7. Juli 2005
wieder als Zimmermädchen. Die Entlohnung richtet sich nach den Zimmern, sie betrug im Juli 2005 579,60 Euro
brutto/452,66 Euro netto, im August 2005 739,80 Euro brutto/577,78 Euro netto.
Zum 23. Dezember 2004 mietete die Antragstellerin eine Wohnung in der Karl-Marx-Straße 169 in 12043 Berlin, zwei
Zimmer, ca. 68,5 m² Wohnfläche. Das Bezirksamt Neukölln erklärte am 14. Dezember 2004 die Mietkosten und
Wohnungsgröße als angemessen.
Am 17. Mai 2005 beantragte die Antragstellerin die vorläufige Mietkostenübernahme durch den Antragsgegner. Der
Ehemann habe am 4. Mai 2005 die gemeinsame Wohnung verlassen, sie lebe nunmehr dauernd getrennt. Sie könne
die Miete nicht alleine bezahlen. Ferner reichte sie die Antragsformulare für Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhaltes, unterschreiben am 17. Mai 2005 ein.
Am 23. Juni 2005 wendete sich die Antragstellerin erneut schriftlich an den Antragsgegner wegen des
Arbeitslosengeldes II. Am 14. Juli 2004 übersandte sie das Kündigungsschreiben ihres Vermieters über die fristlose
Kündigung der Wohnung am 18. August 2005 wegen Mietrückstandes seit Juni 2005.
Mit Schreiben vom 22. August 2005 wendete sich die Justizvollzugsanstalt Reinickendorf an den Antragsgegner mit
einer Stellungnahme zum Antrag auf Übernahme der Mietschulden. Die Vollzugsplanung gehe von einer vorzeitigen
Entlassung der Antragstellerin zum 2/3-Zeitpunkt = 19. April 2006 aus. Während der eingeräumten
Vollzugslockerungen und Beurlaubungen habe sie Gelegenheit, die Wohnung zu nutzen. Sie habe sich bisher sehr um
den Erhalt der Wohnung und auch um eine besser bezahlte Arbeit bemüht. Eine Übernahme der Mietschulden werde
befürwortet.
Mit Bescheid vom 23. August 2005 lehnte der Antragsgegner die Übernahme der Mietrückstände für die Wohnung
Karl-Marx-Straße 169 ab. Eine konkret in Aussicht stehende Beschäftigung liege nicht vor. Es werde nahegelegt, die
Übernahme der Mietrückstände im Rahmen des SGB XII beim zuständigen Bezirksamt zu beantragen.
Mit Bescheid vom 25. August 2005 lehnte der Antragsgegner den Antrag auf Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhaltes vom 29. Juni 2006 ab. Nach ihren Angaben könne die Antragstellerin ihren Lebensunterhalt
ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern. Sie gehöre nicht zum
Personenkreis, der Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II habe. Bei ihr liege der Ausschlusstatbestand des § 7
Abs. 4 SGB II vor, da ihr Haftaufenthalt länger als sechs Monate dauere. Sollte ein Fehlbetrag zwischen dem von der
JVA zur Verfügung gestellten Einkommen und den monatlich anfallenden Kosten, etwa zur Deckung der Miete,
vorhanden sein, könne dieser notwendige Bedarf nicht über ergänzende Leistungen des SGB II abgedeckt werden.
Hiergegen erhob die Antragstellerin Widerspruch und verwies insbesondere auf die Entscheidung des Sozialgerichts
Berlin S 37 AS 907/05 ER vom 24. Juni 2005.
Ihr Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist am 29. September 2005 beim Sozialgericht Berlin
eingegangen. Die Antragstellerin macht geltend, die Voraussetzungen für eine Mietkostenübernahme resp. ergänzend
Alg II haben zum Zeitpunkt der Antragstellungen durchaus vorgelegen. Aufgrund der von Vermieter angedrohten
Räumungsklage zum 4. Oktober 2005 sei die sofortige Bearbeitung geboten. Sie habe Aufwendungen für Haftkosten:
147,50 Euro, Monatskarte: 67,- Euro, Miete 340,- Euro, Strom und Gas: 102,50 Euro monatlich, ferner eine
Nachzahlung für Heizkosten über 458,79 Euro zu zahlen. Die Räumungsklage werde weitere 800,- Euro verursachen.
Sie verbinge nur noch die vorgeschriebenen acht Stunden täglich in der Vollzugsanstalt. Ihre freie Zeit nach der Arbeit
sowie die Urlaubstage verbringe sie in der Wohnung.
Der Antragstellerin beantragt sinngemäß, den Antragsgegner zur Zahlung von Arbeitslosengeld II und Zahlung der
Mietschulden zu verurteilen.
Der Antragsgegner beantragt, den Antrag abzuweisen.
Die Antragstellerin müsse darauf verwiesen werden, ihre Grundbedürfnisse (Schlaf, Hygiene, Essen usw.) auch
außerhalb der Arbeitszeit in der JVA zu decken, da die gesetzlichen Regelungen eine andere Entscheidung nicht
zuließen. Die Anmietung der Wohnung sei unter anderen Voraussetzungen erfolgt, da die Wohnung derzeit vom
Ehemann bewohnt worden sei.
Mit Widerspruchsbescheiden vom 11. Oktober 2005 hat der Antragsgegner die Widersprüche der Antragstellerin als
unbegründet zurückgewiesen.
II.
Der Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung hat überwiegend Erfolg.
Nach § 86b Absatz 2 Sozialgerichtsgesetz kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung
in bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden
Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte.
Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Entsprechend § 920 Absatz 2 Zivilprozessordnung, der nach § 86b Absatz 2 Satz 4 Sozialgerichtsgesetz Anwendung
findet, sind Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund glaubhaft zu machen. Von einem Anordnungsanspruch ist
auszugehen, wenn nach summarischer Prüfung die Hauptsache Erfolgsaussicht hat. Ein Anordnungsgrund liegt vor,
wenn dem Antragstellerin unter Abwägung seiner sowie der Interessen Dritter und des öffentlichen Interesses nicht
zumutbar ist, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten. Nur in besonderen Ausnahmefällen ist darüber hinaus die
Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung zulässig.
Nach der gebotenen summarischen Prüfung hat die Antragstellerin Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches. Dem Anspruch steht entgegen der Auffassung
des Antragsgegners nicht § 7 Absatz 4 Sozialgesetzbuch Zweites Buch entgegen. Danach erhält Leistungen nach
diesem Buch nicht, wer für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht ist.
Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist die Verbüßung einer Haftstrafe in der Justizvollzugsanstalt nicht zwingend als
stationäre Unterbringung zu verstehen. Auch nach dem Sinn und Zweck des Leistungsausschlusses ist Strafhaft im
offenen Vollzug nicht stationäre Unterbringung. Unterbringung in einer vollstationären Einrichtung bedeutet, dass der
Einrichtungsträger von der Aufnahme bis zur Entlassung die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung des
Hilfebedürftigen übernimmt und Gemeinschaftseinrichtungen vorhanden sind (Spellbrink, Kommentar zum SGB II, § 7
Randziffer 34). Die Unterbringung in einer Justizvollzugsanstalt zur Verbüßung einer richterlich angeordneten
Freiheitsentziehung fällt zur Überzeugung der Kammer hierunter jedenfalls dann nicht, wenn der Antragsteller
Freigänger ist (so auch schon Sozialgericht Berlin, Urteil vom 24. Juni 2005 Az. S 37 AS 907/05). Bei Unterringung im
offenen Vollzug ist der Inhaftierte zwar weiterhin den Regeln und Anordnungen im Rahmen der Vollzugsplanung
unterworfen. Diese sieht aber vor, den Umgang mit den Vollzugslockerungen und dem Freigang zu erproben und
langfristig Lockerungen und Freiheiten zuzugestehen, die die Resozialisierung fördern sollen. Wie die für die
Antragstellerin zuständige Sozialarbeiterin im Erörterungstermin am 27. Oktober 2005 überzeugend darlegte, ist das
System des offenen Vollzuges darauf angelegt, dass die Inhaftierten ihre Angelegenheiten außerhalb des Vollzuges,
zu Hause erledigen. Das durch den Vollzugsplan im Rahmen des Strafvollzugsgesetzes gesetzlich niedergelegte
Resozialisierungsinteresse gebietet die Einbeziehung der im offenen Vollzug Inhaftierten in den Anwendungsbereich
des Zweiten Buches des Sozialgesetzbuches. Zudem steht der Freigänger dem Arbeitsmarkt zur Verfügung und
erhält sogar bei Erfüllung der Anwartschaft Arbeitslosengeld I nach den strengeren Regeln des Dritten Buches des
Sozialgesetzbuches.
Die Antragstellerin hat Anspruch auf Arbeitslosengeld II dem Grunde nach seit Antragstellung. Der Antrag ist zur
Überzeugung der Kammer mit Schreiben vom 17. Mai 2005 gestellt. Die Antragstellerin teilt in diesem ersten an den
Antragsteller gerichteten Schreiben mit, die laufenden Kosten der Miete seit dem Auszug ihres Ehemannes nicht
mehr aufbringen zu können. Nach § 16 Absatz 3 Sozialgesetzbuch Erstes Buch ist darin sachgerecht ein Antrag auf
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu sehen. Der Antragsgegner hatte jedenfalls die gesetzliche
Verpflichtung auf eine klare, eindeutige Antragstellung hinzuwirken und kann sich nicht auf eine etwaige
Missverständlichkeit berufen.
Vom Zeitpunkt der Antragstellung an hatte die Antragstellerin, die zum damaligen Zeitpunkt keine Einkünfte erzielte,
jedenfalls Anspruch auf Leistungen für die Kosten der Unterkunft und Heizung, § 22 Sozialgesetzbuch Zweites Buch.
Die Kammer sieht den Wohnbedarf auch im Hinblick auf die Unterbringung in der Justizvollzugsanstalt als existentiell
notwendig an. Nur durch den Besitz der eigenen Wohnung kann die Antragstellerin die Möglichkeiten, die ihr die
Vollzugslockerung bzw. der Freigang bieten, nutzen. Ist der offene Vollzug seinem Inhalt nach darauf angelegt, dass
die Inhaftierten ihre Angelegenheiten weitgehend zu Hause erledigen, benötigen sie hierfür auch eine Wohnung. Auch
für die Antragstellerin ist die Wohnung nicht nur Rückzugsort, wo sie Sonderurlaub und Freizeit verbringt, sie hat dort
ihre Wäsche zu erledigen, ihre persönlichen und die Dinge des Haushalts aufzubewahren. Die Wohnung ist zudem
auch erforderlich für Zeiten vor- oder nach der Arbeit, außerhalb der achtstündigen Einschlusszeit in der
Justizvollzugsanstalt.
Die Kammer verweist auf die ausführliche Darlegung durch die Sozialarbeiterin Frau Grimm im Erörterungstermin: Der
offene Vollzug ist darauf ausgerichtet, zu erproben, wie der Gefangene mit dem Freigang bzw. den
Vollzugslockerungen umgeht. Der Vollzugsplan sieht gestaffelte Lockerungen vor, zuerst nur Freigang für Arbeits- und
Wegezeit, dann Erweiterungen, bis schließlich nur noch 8 Stunden täglich in der JVA verbracht werden müssen. Es
kann für 21 Tage im Vollstreckungsjahr Urlaub gewährt werden. In den letzen neun Monaten vor der Entlassung ist
Sonderurlaub gemäß § 15 Absatz 1 Strafvollzugsgesetz zur Vorbereitung der Entlassung vorgesehen. Dieser umfasst
144 Stunden pro Monat, regelmäßig wird er von Samstag auf Sonntag gewährt. Er dient zur Regenerierung aber auch
Erprobung der Gefangenen. Eine feste Adresse ist hierfür unabdingbar. Mehr als 95 % der Gefangenen haben eigenen
Wohnraum oder zumindest Möglichkeiten, bei der Familie etc. zu wohnen. Der Erhalt der eigenen Wohnung während
des Vollzugs spielt eine zentrale Rolle. Wenn jemand keine Wohnung hat, kann in ganz seltenen Fällen möglich
gemacht werden, dass er auch nach der Arbeit beispielsweise in den Vollzug und wieder heraus kann, um seine
Freizeit zu verbringen. Das System ist aber darauf angelegt, dass die Freigänger ihre Angelegenheiten zu Hause
erledigen. Es muss genehmigt werden, was an Sachen in den Haftraum mitgebracht wird. Die Wäsche beispielsweise
ist zu Hause zu waschen, Anziehsachen sind nur in begrenztem Umfang mitzubringen erlaubt.
Die seit Mai 2005 aufgelaufenen Mietschulden sind vom Antragsgegner darlehnsweise zu übernehmen. Zwar ist die
Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nur zur Abwendung gegenwärtig drohender wesentlicher Nachteile möglich,
Leistungen für die Vergangenheit sind damit grundsätzlich nicht zu erbringen. Wenn der Antragsgegner aber zu
Unrecht laufende Leistungen nicht gewährt, und dadurch – wie hier die Miete nicht gezahlt werden konnte, so dass der
Verlust der Wohnung droht – handelt es sich um einen gegenwärtig drohenden Nachteil, der auch im Verfahren auf
einstweiligen Rechtsschutz abzuwenden ist (so auch das Landessozialgericht Berlin, Beschluss vom 15. Februar
2005, L 15 B 2/05 SO ER). Mit der Zahlung der rückständigen Miete kann der Verlust der Wohnung abgewendet
werden. Um allerdings nicht unzulässig die Hauptsachentscheidung vorwegzunehmen, war die rückständige Miete hier
nur darlehnsweise zuzusprechen.
Da sich ihre Einkommenssituation trotz Erwerbstätigkeit nicht grundlegend verbesserte, besteht der Anspruch auf
Übernahme der Kosten für Heizung und Unterkunft bis zum heutigen Tage und darüber hinaus fort.
Im Hinblick auf das von der Antragstellerin gegenwärtig erzielte Einkommen aus Erwerbstätigkeit besteht im Wege der
einstweiligen Anordnung kein die Kosten für Unterkunft und Heizung übersteigender Bedarf zur Sicherung des
Lebensunterhaltes. Die Einkünfte reichen zur Deckung des absolut Notwendigen aus.