Urteil des SozG Aachen vom 05.02.2007

SozG Aachen: vorzeitige entlassung, säugling, pflege, krankenversicherung, verpflegung, krankenkasse, abrechnung, behandlungsbedürftigkeit, aufenthalt, vergütung

Sozialgericht Aachen, S 4 KR 81/06
Datum:
05.02.2007
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
4. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 4 KR 81/06
Nachinstanz:
Landessozialgericht NRW, L 5 KR 33/07
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Die Kosten werden der Klägerin auferlegt.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Streitig ist, ob die Beklagte verpflichtet ist, den stationären Aufenthalt eines gesunden
Neugeborenen über den sechsten Tag hinaus in Höhe von 128,98 EUR zu erstatten,
weil sich auch die Mutter noch für diesen Zeitraum im Krankenhaus befand.
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Der bei der Beklagten versicherte Säugling B. L. wurde am 00.00.00 im Krankenhaus
der Klägerin geboren. Für den stationären Aufenthalt in der Zeit vom 00.00.00 bis zum
00.00.00 berechnete die Klägerin der Beklagten insgesamt 905,41 EUR mit Rechnung
vom 00.00.00. Diese Rechnung wurde von der Beklagten nur in Höhe von 767,61 EUR
bezahlt. Die Beklagte beruft sich darauf, dass lediglich für den Entbindungstag sowie
maximal sechs weitere Kalendertage für die Mutter sowie das Neugeborene ein
Anspruch auf Unterkunft, Pflege und Verpflegung gem. § 197
Reichsversicherungsordnung (RVO) bestehe. Darüber hinaus seien Zuschläge bei
Überschreitung der oberen Grenzverweildauer für Neugeborene nur zu berechnen,
wenn die Verweildauer des Kindes aufgrund eigener Behandlungsbedürftigkeit bestehe.
Gesunde Neugeborene, wie der Säugling B. L. erfüllten diese Anforderungen nicht. Aus
diesem Grund wurde der von der Kläger berechnete Zuschlag wegen Überschreitung
der oberen Grenzverweildauer gekürzt.
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Die Klägerin meint, soweit soweit bei einer notwendigen längeren stationären
Behandlung der Mutter Zuschläge bei Überschreitung der oberen Grenzverweildauer
anfielen, seien diese von den Krankenkassen zu bezahlen. Derartige Zuschläge seien
danach auch bei gesunden Neugeborenen zu vergüten. Auch habe die Beklagte nicht
mitgeteilt, wie mit den Neugeborenen in derartigen Fällen zu verfahren sei.
Unbeachtlich sei, dass das Neugeborene nicht notwendigerweise über die Mutter bei
der Beklagten versichert sei. Ausweislich der Fallpauschalenverordnung 2006 sei die
Fallpauschale für gesunde Neugeborene mit dem Kostenträger der Mutter abzurechnen
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(§ 1 Abs. 5 S. 3 Fallpauschalenverordnung 2006). § 197 RVO begründe im Falle einer
Entbindung den Leistungsanspruch für Mutter und Neugeborenes gegenüber der
gesetzlichen Krankenkasse. § 197 RVO korrespondiere aber nicht deckungsgleich mit
dem neuen Vergütungsrecht für Krankenhäuser, wonach für Entbindungsaufenthalte
sowohl für die Mutter als auch für das Neugeborene jeweils Fallpauschalen
abzurechnen seien. Bei der Kalkulation dieser Fallpauschalen sei die 6-Tages-Frist
nach § 197 RVO in keiner Weise berücksichtigt. Eine eigene Behandlungsbedürftigkeit
des Neugeborenen müsste insoweit nicht vorliegen. Auch müsse sich die Beklagte die
Konsequenzen ihrer Zahlungsverweigerung vergegenwärtigen: Der Säugling müsste
unabhängig von seiner Mutter spätestens nach Ablauf der 6-Tages-Frist nach § 197
RVO aus dem Krankenhaus entlassen werden. Die Mutter hätte bei vorzeitiger
Entlassung des Neugeborenen grundsätzlich einen Anspruch auf Haushaltshilfe nach §
199 RVO. Hierauf müsste die Klägerin die Angehörigen hinweisen. Eine von der
Krankenkasse erzwungene vorzeitige Entlassung eines Neugeborenen wäre auch
gegenüber der Öffentlichkeit kaum vermittelbar. Nach dem Änderungsantrag der
Fraktion der CDU/CSU und SPD zum Entwurf des Gesetzes zur Stärkung des
Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung soll die 6-Tages-Frist in § 197
RVO gestrichen werden. In der Begründung dieses Änderungsantrages wird
ausdrücklich auf die Schwierigkeiten in den Fällen, in denen gesunde Neugeborene
noch im Krankenhaus verbleiben mussten, weil die Mutter nach der Entbindung noch
behandlungsbedürftig war, Bezug genommen.
Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, 128,98 EUR nebst Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunkten
über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 00.00.00 zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie wendet ein, dass sich ein möglicher Anspruch der Klägerin aus der
Krankenversicherung der Mutter herleiten müsste, da das Neugeborene nicht unbedingt
über die Mutter bei der Beklagten versichert ist. Für die Abrechnung des Zuschlages
wegen der Überschreitung der oberen Grenzverweildauer sei kein Rechtsgrund
vorhanden. § 197 Abs. 1 RVO gelte lediglich für den Entbindungstag sowie für maximal
sechs weitere Tage. Nach dem Ablauf dieser gesetzlich abschließend und verbindlich
geregelten Anspruchsdauer, käme ausschließlich eine stationäre
Krankenhausbehandlung gem. § 39 Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V)
gesetzliche Krankenversicherung in Betracht. Im vorliegenden Fall hätten die
Voraussetzungen des § 39 SGB V nicht vorgelegen, da das gesunde neugeborene Kind
nicht krankenhausbehandlungsbedürftig gewesen sei.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte, der Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen ist, verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Vergütung
von Unterkunft, Pflege und Verpflegung des Neugeborenen in Höhe von 128,98 EUR
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über den Entbindungstag sowie sechs weitere Tage hinaus. Für die Abrechnung eines
derartigen Zuschlages wegen Überschreitung der oberen Grenzverweildauer besteht
keine Anspruchsgrundlage. Einzig denkbare Anspruchsgrundlage ist § 197 S. 1 RVO.
Dieser beschränkt jedoch die Dauer der stationären Versorgung nach der Entbindung in
Form der stationären Entbindung auf längstens sechs Tage. Die Leistungen zur
stationären Entbindung, die aufgrund spezieller Regelungen für eine Gesamtleistung
ambulanten Einzelleistungen vorgehen, sind von der Krankenbehandlung nach den §§
27 ff. SGB V zu unterscheiden. Die stationäre Entbindung ist in § 197 RVO geregelt.
Danach hat die Versicherte, die zur Entbindung in ein Krankenhaus oder eine andere
Einrichtung aufgenommen wird, für sich und das Neugeborene einen Anspruch auf
Unterkunft, Pflege und Verpflegung für die Zeit nach der Entbindung, jedoch für
längstens sechs Tage. Für diese Zeit besteht kein Anspruch auf
Krankenhausbehandlung, wobei § 39 Abs. 2 SGB V entsprechend gilt. Dieser
Sachleistungsanspruch umfasst die notwendige Pflege des gesunden Neugeborenen
(BSG Soz R 2200 § 199 Nr. 4). Lediglich, wenn bei den Neugeborenen Krankheiten
auftreten, sind für deren Behandlungen die Vorschriften der § 27 ff. SGB V einschlägig.
Wie zwischen den Beteiligten unstreitig, handelte es sich jedoch bei dem neugeborenen
Säugling B. L. um ein gesundes neugeborenes Kind, das nicht
krankenhausbehandlungsbedürftig war.
Gegenteiliges ist auch nicht der Fallpauschalenverordnung 2006 zu entnehmen.
Danach ist gem. § 1 Abs. 5 S. 3 der Fallpauschalenverordnung die Fallpauschale für
gesunde Neugeborene mit dem Kostenträger der Mutter abzurechnen. Lediglich die
Zusatzentgelte dürfen neben der Fallpauschale abgerechnet werden. Diese Regelung
begründet jedoch keine eigene Anspruchsgrundlage auf Kostenerstattung für die hier
streitige Krankenhausverweildauer des gesunden Neugeborenen.
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Auch der Gesetzgeber hat erkannt, dass die gesetzliche Regelung und die 6-Tages-
Frist in § 197 RVO teilweise zu Schwierigkeiten in Fällen führen kann, in denen
gesunde Neugeborene noch im Krankenhaus verbleiben mussten, weil die Mutter nach
der Entbindung noch behandlungsbedürftig war und noch nicht entlassen werden
konnte. Allerdings kann erst durch die Streichung der Frist im Gesetz durch den
Gesetzgeber eine entsprechende Vergütung entsprechend der Systematik des DRG
Fallpauschalensystems erfolgen. Nach der derzeitigen gesetzlichen Regelung ist ein
derartiges Verfahren nicht möglich. Aus diesem Grund müssen die bislang von der
Klägerin in der Klagebegründung geschilderten nachvollziehbaren Schwierigkeiten
hingenommen werden.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 197 a Abs. 1 SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Berufung war gemäß § 144 SGG zuzulassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche
Bedeutung im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG. Die vorliegende Streitfrage ist bislang
nicht geklärt. Die Klärung liegt allerdings im allgemeinen Interesse, um die
Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern.
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