Urteil des OVG Saarland vom 11.07.2007

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OVG Saarlouis Beschluß vom 11.7.2007, 3 Q 104/06
Zur Konkurrenz zwischen Jugend- und Sozialhilfe bei Heimpflege gemäß § 34 SGB VIII eines
geistig behinderten Jugendlichen
Leitsätze
Ist aufgrund der bei dem Hilfeempfänger vorhandenen geistigen Behinderung konkret keine
Unterbringung in einem Heim erforderlich, entsteht auf der Bedarf- bezw. Anspruchsseite
keine Konkurrenzsituation, die die Vor- und Nachrangregel des § 10 Abs. 4 SGB VIII
eingreifen ließe.
Tenor
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des
Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 22. Februar 2006 – 10 K 54/05 – wird
zurückgewiesen.
Die Kosten des Antragsverfahrens trägt der Kläger.
Gründe
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das im Tenor bezeichnete
erstinstanzliche Urteil, durch das seine Klage, den Beklagten zu verurteilen, ihm die Kosten
der Heimpflege des Markus H. (im folgenden: Hilfeempfänger) gemäß den §§ 27, 34 SGB
VIII in der Zeit vom 3.2.2004 bis zur Übernahme des Hilfefalles in die Zuständigkeit des
Beklagten aufgrund dessen Zuständigkeit nach den §§ 39, 40 BSHG (nebst Prozesszinsen)
zu erstatten, bleibt erfolglos.
Keiner der von dem Kläger genannten Zulassungsgründe im Sinne des § 124 Abs. 2 VwGO
liegen vor.
1. Die von ihm geltend gemachten ernstlichen Zweifel (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) an der
Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung greifen nicht durch.
Das Verwaltungsgericht hat im einzelnen ausführlich dargelegt, dass Ansprüche des
Klägers nach den §§ 102 bis 105 SGB X nicht bestehen. Hinsichtlich eines Anspruchs nach
§ 104 SGB X, auf den sich die Ausführungen des Klägers in seinem Zulassungsvorbringen
allein beziehen, hat es ausgeführt, die Vor- beziehungsweise Nachrangregel des § 10 Abs.
4 SGB VIII greife auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts – Urteil vom 23.9.1999 – 5 C 26/98 - nicht, da keine
Ansprüche des Hilfeempfängers sowohl gegen den Träger der Jugendhilfe als auch gegen
den Träger der Sozialhilfe gegeben seien, die auf die gleiche Leistung gerichtet seien.
Der Hilfeempfänger habe, nachdem seiner Mutter im wesentlichen mit Blick auf dessen
Vernachlässigung und Unterernährung das Sorgerecht entzogen und dem Kläger
übertragen worden sei, gegen den Kläger einen Anspruch nach den §§ 27, 34 SGB VIII auf
Unterbringung in einem Heim oder einer anderen geeigneten Wohnform im Sinne dieser
Vorschrift gehabt. Aus den Förderplänen gehe hervor, dass bei dem Hilfeempfänger eine
deutliche allgemeine Entwicklungsverzögerung nach einer frühkindlichen Deprivation
vorliege, weshalb verschiedene Maßnahmen (u.a. heilpädagogische Maßnahmen,
Spieltherapie und Ergotherapie) eingeleitet worden seien.
Eine die stationäre Unterbringung des Hilfeempfängers in einem Heim (oder in einer
Wohnform des § 34 SGB VIII) umfassende Leistungsverpflichtung des Beklagten ergebe
sich indessen nicht, so dass sich vorliegend keine gleichen, gleichartigen beziehungsweise
deckungsgleichen Maßnahmen gegenüber stünden mit der Folge, dass sich der Kläger nicht
auf § 10 Abs. 4 S. 2 SGB VIII berufen könne. Der Hilfeempfänger habe im fraglichen
Zeitraum keinen Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 39 BSHG (jetzt: § 53 SGB XII) in
Form der Heimpflege, weil Art und Schwere seiner geistigen Behinderung dies nicht
erforderten. Aus den ärztlichen Bescheinigungen vom 27.1.2005 und vom 28.9.2005
sowie dem Hilfeplan vom 10.7.2003 gehe hervor, dass Art und Schwere der Behinderung
des Klägers (u.a. motorische Schwierigkeiten, Defizite in alltagspraktischen Fähigkeiten,
leichte Intelligenzminderung, kognitive Minderbegabung, nächtliches Einnässen), nicht
ausreichend seien, um die Notwendigkeit von Eingliederungshilfeleistungen des Beklagten in
der Form der Heimpflege anzuerkennen. Abgesehen von den schulischen und
medizinischen Fördermaßnahmen, die hier nicht in Rede stünden, erfordere die
Behinderung keinen pflegerischen Aufwand, der nicht auch von Eltern erbracht werden
könnte. Zwischen der geistigen Behinderung des Hilfeempfängers und seiner Unterbringung
in einem Heim (beziehungsweise in einer gleichartigen Einrichtung) habe eine Kausalität
nicht bestanden und bestehe auch derzeit nicht. Eine solche Unterbringung sei nur deshalb
erforderlich geworden, weil das ursprüngliche familiäre Umfeld seinen Lebens- und
Hilfebedarf nicht mehr habe gewährleisten können. Es sei daher davon auszugehen, dass
er zwar von einer Behinderung bedroht sei beziehungsweise eine Behinderung bei ihm
bestehe, für die auch prinzipiell Leistungen der Eingliederungshilfe des Beklagten in Frage
kommen könnten, dass jedoch eine stationäre Eingliederungshilfemaßnahme aufgrund
seiner Behinderung nicht erforderlich wäre, wenn er in einem Elternhaus mit den üblichen
Erziehungsfähigkeiten leben würde.
Hiergegen wendet der Kläger im wesentlichen ein, aus dem zitierten Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts vom 23.9.1999, a.a.O., ergebe sich, dass bei der Frage des
Vor- beziehungsweise Nachrangs der Zuständigkeit von Jugendhilfe und Sozialhilfe der
Schwerpunkt der Leistungen kein taugliches Abgrenzungskriterium sei, abzustellen sei
vielmehr allein auf die Art der miteinander konkurrierenden Leistungen.
In diesem Zusammenhang sei, wie auch eine Entscheidung des VGH München vom
9.6.2005 – 12 BV 02.969 – feststelle, unerheblich ob die Art der Behinderung, die eine
Eingliederungshilfemaßnahme neben der Jugendhilfemaßnahme erforderlich mache,
wesentlich sei oder nicht, Kann- und Mussleistung nach § 39 BSHG seien insoweit
gleichzusetzen.
Die erstinstanzliche Argumentation, dass eine vollstationäre Unterbringung
„behinderungsbedingt“ nicht erforderlich sei, unterstelle, dass das Kind von „kompetenten“
beziehungsweise „gut funktionierenden“ Eltern (ggf. mit Unterstützung durch ambulante
Leistungen) ausreichend zu Hause versorgt werden könnte. Dies sei eine Hypothese, für
die es im Bereich des Sozialrechts keinen Raum gebe. Für die Beurteilung einer stationären
Unterbringung sei – wie in einem Gutachten des DIJuF vom 5.4.2004, Jugendamt 2004, S.
234 ff. ausgeführt - zu fragen, ob diese sowohl aufgrund des Erziehungsdefizits als auch
aufgrund der körperlichen beziehungsweise geistigen Behinderung gewährt werden
müsste. Bei derartigen Behinderungen sei darauf abzustellen, ob die Kinder
beziehungsweise Jugendlichen aufgrund dessen einen zusätzlichen pflegerischen oder
betreuerischen Bedarf hätten, der durch häusliche Leistungen (der
Betreuungspersonen/Eltern) gedeckt werden müsse und sich nicht durch ambulante
Maßnahmen außerhalb des familiären Haushalts ausgleichen lasse. Sei dies der Fall, könne
nicht mehr darauf abgestellt werden, ob die Eltern selbst diesen Bedarf decken könnten
beziehungsweise müssten.
Der Maßstab sei daher anhand des konkreten kindlichen Bedarfs zu ermitteln und nicht an
Hand der Kompetenz der Eltern. Ein solcher zusätzlicher pflegerischer beziehungsweise
betreuerischer Bedarf sei im Falle des Hilfeempfängers zu bejahen. Im Übrigen seien
nämlich auch Art und Schwere der Behinderung des Hilfeempfängers ausreichend, um die
Notwendigkeit von Eingliederungshilfe in Form der Heimpflege anzuerkennen. So sei zu
berücksichtigen, dass er in einer Sonderschule unterrichtet werde und sich aus dem
Hilfeplan vom 21.4.2005 ergebe, dass er erst im Alter von 11 Jahren habe lesen lernen
wollen. Aus der Hilfeplanfortschreibung vom 3.4.2006 sei zu entnehmen, dass er derzeit
keinen Fortschritt mache und zu allem angehalten werden müsse. Mit zunehmendem Alter
wachse der Entwicklungsrückstand zu Gleichaltrigen und es sei absehbar, dass er auf
Dauer nicht selbstständig werde leben können und nach Ablauf von 12 Schuljahren in eine
beschützte Werkstatt wechseln werden müsse. Damit sei offensichtlich, dass nicht die
erzieherischen Komponenten dominierten, sondern die Behinderung des Hilfeempfängers
einen besonderen pflegerischen Aufwand voraussetze, die die stationäre Unterbringung
erforderlich mache.
Diese Argumentation ist nicht geeignet, das erstinstanzlich gewonnene Ergebnis in
rechtlicher Hinsicht ernstlich anzuzweifeln.
Dem Kläger ist zugegeben, dass nach der o.g. Rechtsprechung des
Bundverwaltungsgerichts zur Frage des Vor- beziehungsweise Nachrangs von Jugend- und
Sozialhilfe es nicht mehr auf den Schwerpunkt der (erforderlichen) Maßnahmen ankommt,
so dass die Formulierung in der angefochtenen Entscheidung, dass insgesamt die in der
Gesamtverantwortung des Klägers liegenden erzieherischen Komponenten „dominierten“,
insoweit missverständlich ist. Tragend stellt jedoch das Verwaltungsgericht entsprechend
der o.g. Rechtsprechung darauf ab, dass die konkret zur Bedarfsdeckung erforderlichen
und geeigneten Maßnahmen der Jugendhilfe einerseits und der Sozialhilfe andererseits nicht
kongruent, nicht gleichartig seien und sich auch nicht überschnitten. Dabei stellt es – auch -
auf das Kausalitätskriterium ab und betont, dass die (stationäre) Unterbringung des
Hilfeempfängers im Heim oder einer anderen betreuten Wohnform gemäß § 34 SGB VIII
(hier sozialpädagogische Großfamilie als Außenstelle des Sozialwerks Saar/Mosel e.V.)
aufgrund der bestehenden erzieherischen Defizite (erheblich gesundheitsgefährdende
Vernachlässigung in der Ursprungsfamilie, die eine Rückkehr dorthin aufgrund der
Gesamtumstände unstreitig ausschließt) erforderlich gewesen sei. Art und Schwere der bei
dem Hilfeempfänger vorhandenen und erst später festgestellten Behinderung hingegen
würden eine stationäre Unterbringung in einem Heim (oder einer anderen Wohnform des §
34 SGB VIII) nicht erfordern.
Zwar wird damit im gewissen Sinn eine fiktive Betrachtungsweise vorgenommen.
Entgegen der Ansicht des Klägers handelt es sich aber nicht um eine unzulässige
Hypothese. Klar ist, dass ein tatsächlicher Bedarf nicht wegen einer Hypothese
ausgeschlossen werden darf. Bei der Vorgehensweise des Verwaltungsgerichts handelt es
sich aber nur um „Ausblendung“ eines Konkurrenzbedarfs zur Ermittlung des konkreten
tatsächlichen Bedarfs. Dieser muss sodann gleich, gleichartig, einander entsprechend,
kongruent, einander überschneidend, oder deckungsgleich sein. Eine Betrachtung der
Bedarfsseite entspricht auch der o.g. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. In
dem vom Bundesverwaltungsgerichts entschiedenen Fall, in dem es um die
Leistungsansprüche des Hilfeempfängers selbst ging, wurde als Beispielsfall derartiger
Konkurrenz die Heimerziehung nach Kinder- und Jugendhilferecht mit der Eingliederungshilfe
wegen geistiger Behinderung in einem Heim nach Sozialhilferecht ausdrücklich benannt.
Damit wird deutlich, dass maßgeblich ein Vergleich der Seiten des konkreten tatsächlichen
Bedarfs und der zur Bedarfsdeckung notwendigen und geeigneten Maßnahmen ist, der
dem Maßstab der Gleichheit, der Gleichartigkeit etc. im genannten Sinne genügen muss.
Die von dem Bundesverwaltungsgericht gewählten Formulierungen „gleich, gleichartig,
einander entsprechend, kongruent“ legen auch nahe, dass auch ein „Überschneiden“ in
einem qualifizierten weitergehenden Sinn zu verstehen ist. Insoweit verbietet sich die in
erster Linie - auch unter Hinweis auf die o.g. Rechtsprechung des BayVGH vom 9.6.2005,
a.a.O. - angeführte offenbare Sichtweise des Klägers, dass ein Bedarf an Jugendhilfe nur
mit einem irgendwie gearteten, auf geistiger beziehungsweise körperlicher Behinderung
beruhenden begründeten Bedarf an Sozialhilfe nach BSHG SGB XII zusammentreffen
müsse, um nach § 10 Abs. 4 SGB VIII den Leistungsvorrang des Sozialhilfeträgers
auszulösen und hier einen Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X zu begründen.
Ist aufgrund der bei dem Hilfeempfänger vorhandenen geistigen Behinderung konkret keine
Unterbringung in einem Heim erforderlich, entsteht auf der Bedarfsseite beziehungsweise
Anspruchsseite keine Konkurrenzsituation, die die Vor- und Nachrangregel des § 10 Abs. 4
SGB VIII eingreifen ließe.
Entgegen der Auffassung des Klägers ist auch die Einschätzung des Verwaltungsgerichts,
ein derartiger Bedarf bestehe mit Blick auf die Behinderung des Hilfeempfängers nicht,
nicht ernstlich zu beanstanden.
Aus der von ihm zu Art und Schwere der Behinderung des Hilfeempfängers angeführten
Unterrichtung in einer Sonderschule im Zusammenhang mit der festgestellten leichten
Intelligenzminderung (IQ kleiner 70) ergibt sich nicht, dass eine behinderungsbedingte
stationäre Heimpflege erforderlich wäre
vgl. hierzu OVG Münster, Urteil vom 20.2.2002 – 12 A 5322/00 -,
zitiert nach Juris, wonach unter Hinweis auf entsprechende
Fachliteratur bei IQ-Werten zwischen 55 und 69 von einer leichten
geistigen Retardierung auszugehen ist und der daraus folgenden
Lernbehinderung mit einer Ausbildung in Sonderschulen mit kleinen
Klassen begegnet werden kann, die in der Regel ein einigermaßen
selbständiges Leben ermöglichen soll.
Nach den Feststellungen des von ihm weiter benannten Hilfeplans vom 21.4.2005 heißt es
– entgegen den Aussagen des Klägers über den erstmaligen Lernwillen des
Hilfeempfängers – unter Ziffer 2.: „In der Schule gehört er nach wie vor zu den Besten. Er
hat auch etwas lesen gelernt. Markus ist in Familie, Schule und Nachbarschaft gut
integriert.“ Dem Bericht der Krankenanstalt Mutterhaus der Borromäerinnen Trier vom
27.1.2005 über eine Untersuchung in der dortigen Kinder- und Jugendpsychiatrie im Jahr
2004, lässt sich entnehmen, dass der Hilfeempfänger lieber schreibe als rechne und über
eine deutliche kognitive Minderbegabung verfüge, die bei den schulischen Anforderungen
berücksichtigt werden müsse. Daneben bestünden eine chronische Arthritis und nächtliche
Einnässungsprobleme. Aus der in der sozialmedizinischen Stellungnahme vom 28.9.2005
in Bezug genommene Stellungnahme des Klägers vom 5.9.2005 ergibt sich dass ein
erhöhter pflegerischer Aufwand (Hilfestellungen beim Essen, Anziehen und Schuhe binden,
Lerntraining) notwendig ist.
Nach der Fortschreibung des Hilfeplans vom 3.4.2006 macht der Hilfeempfänger laut Ziffer
4 wenig Forschritte im Lesen und Schreiben und stagniert seine kognitive Entwicklung.
Unter Ziffer 8 wird von einer mit wachsendem Alter zunehmenden Belastungssituation
gesprochen, der Hilfeempfänger sei jedoch noch gut integriert in seiner Pflegestelle
(Pflegenest), Nachbarschaft und Schule.
Auch hieraus lässt sich aus Sicht des Senats nicht ableiten, dass unabhängig von dem
tatsächlichen Erfordernis einer Jugendhilfemaßnahme zur Beseitigung des Erziehungs- und
Betreuungsdefizits der Herkunftsfamilie Art und Schwere der geistigen und körperlichen
Behinderung und der konkreten Auffälligkeiten seine vollstationäre Unterbringung in einem
Heim erforderten.
Soweit der Kläger geltend macht, der Hilfeempfänger werde lebenslang nicht selbständig
leben können und Hilfe brauchen sowie nach der Schule in eine beschützte Werkstatt
wechseln müssen, ist dies vorliegend (noch) nicht maßgeblich, sondern gegebenenfalls bei
einer eventuell künftigen Entscheidung nach § 41 SGB VIII über eine Hilfe für junge
Volljährige zu berücksichtigen
vgl. in diesem Zusammenhang auch OVG Münster, Beschluss vom
20.2.1997 – 16 B 3118/96 -, FEVS 47, 505 f.
Im Übrigen ergibt sich aus § 34 Satz 2 Nr. 3 SGB VIII, dass Erziehungshilfe auf eine auf
längere Zeit angelegte Hilfe bieten kann beziehungsweise soll. So heißt es in der
Begründung hierzu
vgl. BT-Ds 12/2866, S. 17: „Die bisher in den Nummern 1 bis 3
geregelten Alternativen der Heimerziehung und sonstigen betreuten
Wohnform gehen davon aus, dass diese Hilfeform immer nur
kurzfristig, nämlich entweder im Hinblick auf die Rückkehr des Kindes
oder Jugendlichen in die Familie, die Erziehung in einer anderen
Familie oder die Verselbständigung des Jugendlichen in Betracht
kommt. Nicht selten leben jedoch Kinder und Jugendliche auf längere
Zeit in Heimen oder sonstigen betreuten Wohnformen, da die vorher
genannten Alternativen für sie nicht in Betracht kommen. Im Hinblick
auf die deutliche Verbesserung der Erziehungsbedingungen in Heimen
und die Spannungsbreite der Betreuungsformen (von eingruppigen
Kleinheimen über größere dezentralisierte Einrichtungen mit
familienähnlichen Wohngruppen bis hin zu Kinder- und Jugenddörfern)
handelt es sich auch insoweit um eine für die Entwicklung des Kindes
oder Jugendlichen förderliche Form der Erziehungshilfe. Diesem
Anliegen wird durch die Neuformulierung der Nummer 3 Rechnung
getragen.“
Ausreichend zur Annahme einer (fortwirkenden) Jugendhilfemaßnahme ist jede Aussicht auf
eine spürbare Verbesserung und Förderung der Persönlichkeitsentwicklung.
Hiervon kann aufgrund der vorliegenden Berichte und Stellungnahmen ausgegangen
werden, da ein Scheitern der Maßnahmen zur Ausgleichung des bei dem Hilfeempfänger
gegebenen Erziehungs- und Betreuungsdefizits derzeit nicht ersichtlich ist.
Die von dem Kläger zur Beseitigung der Notlage des Hilfeempfängers getroffene
Jugendhilfemaßnahme der Heimpflege i.S.d. § 34 SGB VIII stellt sich daher aus Sicht des
Senats nach wie vor als notwendige und geeignete Maßnahme dar, mit der keine im
Verständnis der o.g. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vergleichbaren
erforderlichen Maßnahmen der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe konkurrieren.
Von einer Betrachtung nach konkretem Bedarf und nach Ursache (Kausalität) und Zweck
der von dem Hilfeempfänger beanspruchten und ihm gewährten Leistung zu Abgrenzung
und Vergleich der Leistungsarten geht auch das OVG Münster
vgl. hierzu Entscheidungen vom 30.4.2004 – 12 B 308/04 – zitiert
nach Juris und vom 4.4.1995 – 16 A 3115/94 –
aus. Nach den Feststellungen des OVG Münster in der erstgenannten Entscheidung ist,
wenn die Aufnahme des Hilfeempfängers in einer Pflegefamilie oder in einem Heim dadurch
notwendig wird, dass das Elternhaus (dem durch die Behinderung) erschwerten
Erziehungsauftrag nicht gewachsen ist oder sich die Eltern als unfähig erwiesen
beziehungsweise für unfähig erklärt haben, dem Kind Unterhalt zu gewähren sowie für das
Kind zu sorgen, es zu betreuen und zu erziehen, die erforderliche und gewährte Hilfe nach
Ursache und Zweck nicht als behindertengerechte Betreuung mit dem Ziel der
Eingliederung (Eingliederungshilfe), sondern als Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege (§§ 27,
33 SGB VIII) oder Heimerziehung (§§ 27, 34 SGB VIII) zu qualifizieren. Entscheidend ist nach
Auffassung des OVG Münster, der sich der Senat anschließt, nicht etwa der anspruchsvolle
Pflegeaufwand, der eventuell auch auf andere Weise – etwa durch einen ambulanten
Pflegedienst - gedeckt werden könnte, sondern das bestehende Erziehungs- und
Betreuungsdefizit der Eltern.
Das Verwaltungsgericht hat daher auch aus Sicht des Senats zu Recht berücksichtigt, dass
die Unterbringung des Hilfeempfängers in Heimpflege nach § 34 SGB VIII dadurch
veranlasst war, dass er nicht von seinen Eltern erzogen werden konnte und deshalb eine
Unterbringung außerhalb der Herkunftsfamilie erforderlich war und eine solche mit Blick auf
das (dauerhaft) bestehende Erziehungs- und Betreuungsdefizit weiterhin ist.
Nach allem stellt sich das Verbleiben des Hilfeempfängers bei der bisherigen Pflegestelle im
hier streitigen Zeitraum noch als eine durch einen erzieherischen Bedarf veranlasste,
fortwirkende Maßnahme dar, die, da in ihrer Art vergleichbare Maßnahmen nach BSHG
beziehungsweise SGB XII im Sinne der o.g. Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts konkret nicht erforderlich sind, die Annahme einer vorrangigen
Leistung der Jugendhilfe gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII rechtfertigt.
2. Eine Grundsatzbedeutung i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist gleichfalls nicht gegeben.
Als grundsätzlich klärungsbedürftig bezeichnet der Kläger zunächst die Frage, ob nach der
genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 23.9.1999, a.a.O., beim
Vor- und Nachrang zwischen Leistungen der Jugendhilfe und der Sozialhilfe darauf abgestellt
werden könnte, ob die erzieherischen Komponenten dominierten und ob ein Elternhaus mit
üblichen Erziehungsfähigkeiten die Betreuung selbst leisten könnte. Vorstehend wurde
unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits ausgeführt,
dass das Kriterium der „Dominanz“ beziehungsweise des Schwerpunktes der
konkurrierenden Leistungen nach Jugend- und Sozialhilferecht nicht zur Frage des
Eingreifens der Vor- und Nachrangregelung des § 10 Abs. 4 SGB VIII heranzuziehen ist und
auch erstinstanzlich nicht allein tragend herangezogen wurde. Entsprechend den
Maßstäben des Bundesverwaltungsgerichts ist zur Vergleichbarkeit der beiden Leistungen,
die erst ein Konkurrenzverhältnis im Sinne der Vor- und Nachrangregel des § 10 Abs. 4
SGB VIII auslöst, der jeweilige konkrete Bedarf an Jugend- und an Sozialhilfe zu ermitteln.
Wesentlich und tragfähig ist nach dem Gesagten, dass sich – in Übereinstimmung mit dem
Verwaltungsgericht - nach derzeitigem Stand ein aufgrund der geistigen und körperlichen
Behinderung des Hilfeempfängers ausgelöster Bedarf an stationärer sozialhilferechtlicher
Eingliederungshilfe in einem Heim nicht feststellen lässt. Auf die von dem Kläger weiter als
grundsätzlich bedeutsam aufgeworfene Frage, ob der Vorrang der Sozialhilfe prinzipiell eine
wesentliche geistige Behinderung erfordert, kommt es danach nicht an, da maßgeblich für
die Annahme einer Konkurrenzsituation im Sinne des § 10 Abs. 4 SGB VIII allein der
aufgrund der Gesamtumstände zu ermittelnde konkrete Bedarf ist.
3. Schließlich greift auch die erhobene Divergenzrüge (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) nicht.
Deren erfolgreiches Geltendmachen verlangt die Darlegung eines in der Entscheidung des
Verwaltungsgerichts divergierenden Rechtssatzes zu einer Entscheidung des
Bundesverwaltungsgerichts oder des dem Verwaltungsgericht „übergeordneten“
Oberverwaltungsgerichts,
hierzu etwa Beschluss des 3. Senats des Oberverwaltungsgerichts
des Saarlandes vom 17.2.2006 – 3 Q 44/05 – m.w.N..
Einen von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts oder des
Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes abweichenden Rechtssatz hat der Kläger indes
nicht formuliert. Nach seiner Auffassung weicht das erstinstanzliche Urteil von dem Urteil
des Bundesverwaltungsgerichts vom 23.9.1999 – 5 C 26/98 - ab. Auch unter
Berücksichtigung seiner Ausführungen in den beiden zuvor erwähnten Zulassungsgründen
ist dies bereits nicht genügend. Ungeachtet dessen ergibt sich aus Vorstehendem zugleich,
dass die behauptete Divergenz der Sache nach nicht vorliegt.
Nach allem ist das Zulassungsbegehren des Klägers mit der Kostenfolge aus dem § 154
Abs. 2 VwGO zurückzuweisen.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar.