Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 21.12.2010

OVG NRW (treu und glauben, kläger, bebauungsplan, der rat, grundstück, einkaufszentrum, errichtung, verhältnis zu, stadt, genehmigung)

Oberverwaltungsgericht NRW, 2 A 1419/09
Datum:
09.09.2010
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
2. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 A 1419/09
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Ver¬waltungsgerichts
Minden vom 28. April 2009 wird zugelassen, soweit sie sich gegen die
Abweisung der Klageanträge zu 1. und 2. richtet.
Soweit er sich gegen die Abweisung des Klagean¬trags zu 3. richtet,
wird der Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt.
Die Verteilung der Kosten des Antragsverfahrens bleibt der
Entscheidung über die Berufung vorbe¬halten.
Gründe:
1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang
Erfolg. Im Übrigen ist er unbegründet.
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1. Die Berufung ist zuzulassen, soweit sie sich gegen die Abweisung der auf die
Aufhebung der Baugenehmigungen vom 15. September 2005 und vom 21. Juni 2006
zielenden Klageanträge zu 1. und 2. durch das Verwaltungsgericht richtet. Insoweit
weist die Rechtssache besondere rechtliche Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2
Nr. 2 VwGO auf.
3
Die Voraussetzungen dieses Zulassungsgrundes sind erfüllt, wenn die Angriffe des
Klägers gegen die Tatsachenfeststellungen oder die rechtlichen Würdigungen, auf
denen das angefochtene Urteil beruht, begründeten Anlass zu Zweifeln an der
Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung geben, die sich nicht ohne Weiteres im
Zulassungsverfahren klären lassen, sondern die Durchführung eines
Berufungsverfahrens erfordern.
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Dies ist mit Blick auf das - dem Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO
zuzuordnende, sinngemäße - Vorbringen des Klägers der Fall, in einem
Berufungsverfahren wäre zu klären, ob § 11 Abs. 3 Satz 1 BauNVO, nach dessen Nr. 1
Einkaufszentren außer in Kerngebieten nur in für sie festgesetzten Sondergebieten
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zulässig sind, nachbarschützende Wirkung hat und dem Eigentümer eines Grundstücks
in einem Gewerbegebiet - hier also dem Kläger - einen
Gebietsgewährleistungsanspruch gegen ein dort zugelassenes Einkaufszentrum zu
vermitteln vermag. Diese Frage wird in der Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt
und bedarf der Aufarbeitung in einem Berufungsverfahren.
Einer Auffassung zufolge ist ein Gebietsgewährleistungsanspruch in der genannten
Fallgestaltung anzunehmen, weil § 11 Abs. 3 Satz 1 BauNVO den Kreis der ihrer Art
nach in einem Gewerbegebiet zulässigen Nutzungen mitprägt.
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Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 28. Juli 2003 - 10 A 2161/03 -, S. 3 f. des
amtlichen Umdrucks, und vom 15. Oktober 1996 - 10 B 2249/96 -, S. 7 des
amtlichen Umdrucks; Bay. VGH, Beschluss vom 21. Juli 2000 - 25 ZB
99.3662 -, juris Rn. 4; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 2. April 2003 - 10 K
4472/99 -, juris Rn. 41 ff.; VG Würzburg, Urteil vom 19. Oktober 1999 - W 4 K
98.624 -, juris Rn. 34.
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Aufgrund dessen wäre ein Gebietsgewährleistungsanspruch des Klägers in Betracht zu
ziehen, der zur Aufhebung der streitgegenständlichen Baugenehmigungen führte. Denn
der 7. Senat des beschließenden Gerichts erklärte den Bebauungsplan der Stadt W.
Nr. 16 ("Einkaufszentrum N. Straße/N1.----straße "), der das Vorhabengrundstück als
Sondergebiet gemäß § 11 Abs. 3 BauNVO festsetzte, durch Urteil vom 11. September
2008 - 7 D 74/07.NE - für unwirksam, so dass sich die Zulässigkeit des Vorhabens
nunmehr nach dem vorhergehenden Bebauungsplan Nr. 1.1 der Stadt W. in der
Fassung der 3. Änderung aus dem Jahr 1985 richtet, der die Grundstücke des Klägers
und der Beigeladenen jeweils als Gewerbegebiet ausweist.
8
Demgegenüber stellt sich das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in seinem
Urteil vom 29. März 1996 - 1 M 6354/95 -, NVwZ 1997, 1012 = BRS 58 Nr. 163 = juris,
auf den Standpunkt (siehe juris Rn. 10 f.), dass ein großflächiger Einzelhandelsbetrieb
nach § 11 Abs. 3 BauNVO nicht zu Einschränkungen der gewerblichen Nutzbarkeit der
benachbarten Grundstücke im Plangebiet führe und die Festsetzung als Gewerbegebiet
dem Eigentümer eines Grundstücks daher keinen Nachbarschutz gegen die
Baugenehmigung für einen großflächen Einzelhandelsbetrieb im Sinne von § 11 Abs. 3
BauNVO auf dem Nachbargrundstück verleihe. Die nachbarrechtliche Verträglichkeit
der Nutzungen nach § 8 BauNVO und § 11 Abs. 3 BauNVO ergebe sich aus den
früheren Fassungen der Baunutzungsverordnung und den Motiven der Änderungen.
Gemäß § 8 BauNVO 1962 seien großflächige Einzelhandelsbetriebe in
Gewerbegebieten uneingeschränkt zulässig gewesen. § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO 1968
habe Einkaufszentren und Verbrauchermärkte, die nach Lage, Umfang und
Zweckbestimmung vorwiegend der übergemeindlichen Versorgung dienten, aus dem
Gewerbegebiet ausgeschlossen, weil die Ansiedlung von Einzelhandelsbetrieben
außerhalb gewachsener Ortskerne den Zielen einer geordneten Landesentwicklung
widersprochen habe. Nicht eine Unverträglichkeit bestimmter Einzelhandelsbetriebe mit
anderen gewerblichen Nutzungen im Plangebiet habe Veranlassung zu ihrem
Ausschluss gegeben, sondern insbesondere die nachteiligen Auswirkungen dieser
Betriebe auf die gewachsenen Ortskerne.
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Legt man diese Ansicht zugrunde, dürfte ein Gebietsgewährleistungsanspruch des
Klägers ausscheiden.
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2. Soweit er sich gegen die Abweisung des Klageantrags zu 3. richtet, ist der Antrag des
Klägers auf Zulassung der Berufung unbegründet.
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Die mit dem Zulassungsbegehren insofern vorgebrachten, für die Prüfung
maßgeblichen Einwände (§ 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO), begründen weder ernstliche
Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1
VwGO (a) noch ergeben sie besondere rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten der
Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (b).
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a) Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen vor, wenn erhebliche
Gründe dafür sprechen, dass die verwaltungsgerichtliche Entscheidung einer
rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten wird. Sie sind (nur) begründet,
wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angefochtenen Entscheidung
oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage
gestellt wird und sich die Frage, ob die Entscheidung etwa aus anderen Gründen im
Ergebnis richtig ist, nicht ohne weitergehende Prüfung der Sach- und Rechtslage
beantworten lässt.
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Derartige Zweifel weckt das Antragsvorbringen nicht. Der Kläger stellt die Annahme des
Verwaltungsgerichts, dass ihm für den Antrag zu 3. die Klagebefugnis fehle, nicht
durchgreifend in Frage.
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Bei der an den Insolvenzverwalter der Beigeladenen zu 2. adressierten nachträglichen
Anordnung des Beklagten vom 3. Juli 2008 zur Baugenehmigung vom 21. Juni 2006
handelt es sich um eine diesen belastende Regelung, mit der die dauerhafte
Standsicherheit des Einkaufszentrums und der Nachbargebäude gewährleistet werden
soll. Zu diesem Zweck hat der Insolvenzverwalter der Beigeladenen zu 2. gemäß der
Anordnung Nr. 1 dafür Sorge zu tragen, dass die Sohlplatte des Gebäudes, die nach
während der Bauarbeiten gewonnenen Erkenntnissen artesisch gespanntem,
sulfathaltigem Grundwasser ausgesetzt ist und bei der nach Einschätzung des von dem
Beklagten hinzugezogenen Bundesamtes für Materialforschung und -prüfung nicht
sicher davon ausgegangen werden kann, dass sie einer derartigen Exposition auf
Dauer stand hält, keinen Kontakt zum Grundwasser hat. Dazu seien die mit der
wasserrechtlichen Erlaubnis des Beklagten vom 3. Juli 2008 gestatteten Maßnahmen
zur Ableitung des Grundwassers nach Maßgabe dieser Erlaubnis durchzuführen
(Anordnung Nr. 2). Die besagte Erlaubnis zur Gewässerbenutzung gestattet die
Fassung und Ableitung von aufsteigendem Grundwasser durch die vorhandene
Flächendrainage aus Vollfilterrohren unterhalb des Einkaufszentrums und eine geplante
Fangdrainage entlang der südlichen Gebäudelängsseite. Die Funktionsfähigkeit der
Flächendrainage ist jederzeit zu gewährleisten (Anordnung Nr. 3) und entlang der
südlichen Gebäudelängsseite der Anordnung Nr. 4 zufolge zusätzlich die
Fangdrainageleitung einzubauen. Durch die weiteren Anordnungen Nr. 5 bis Nr. 14 wird
dem Insolvenzverwalter der Beigeladenen zu 2. aufgegeben, verschiedene
Überwachungsmaßnahmen durchzuführen und insbesondere auf eine Gefährdung der
Trockenhaltung der Bodenplatte auf Verlangen der Bauaufsicht unverzüglich mit einem
Maßnahmenkonzept zu reagieren (Anordnung Nr. 9).
15
In Anbetracht dieses Regelungsgehalts und der Bescheidbegründung hat das
Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt, dass die nachträgliche Anordnung vom 3. Juli
2008 gerade dem Schutz der Nachbarbebauung dient und Rechte des Klägers daher
ersichtlich nicht verletzen kann.
16
Der Zulassungsantrag legt nicht dar, dass demgegenüber eine abweichende
Betrachtungsweise geboten und eine isolierte Anfechtung jener Regelung zulässig
wäre. Dass die nachträgliche Anordnung vom 3. Juli 2008 auf § 61 BauO NRW gestützt
ist und - wie erwähnt - die Standsicherheit der Nachbargebäude im Einklang mit § 15
Abs. 1 Satz 2 BauO NRW im Blick hat, besagt für sich genommen angesichts ihres
beschriebenen, aus Sicht des Klägers ausschließlich drittbelastenden
Regelungscharakters nicht, dass die Möglichkeit einer Verletzung eigener Rechte des
Klägers besteht.
17
Der von dem Kläger angegriffene Hinweis des Verwaltungsgerichts, in der zur
Entscheidung gestellten Fallkonstellation seien wasserrechtlich begründete
nachbarliche Abwehrrechte nicht im Baugenehmigungsverfahren, sondern im Rahmen
einer Klage gegen die wasserrechtliche Erlaubnis vom 3. Juli 2008 geltend zu machen,
weil diese das Ableiten des aufsteigenden Grundwassers erlaube, welche das
klägerische Grundstück nach dessen Ansicht destabilisiere, ist kein
entscheidungstragendes Begründungselement, so dass auch begründete
Einwendungen gegen ihn nicht zur Berufungszulassung führten.
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Dessen ungeachtet ist der Hinweis des Verwaltungsgerichts im Ergebnis nicht zu
beanstanden. Ob der Kläger klagebefugt ist, ist im Hinblick auf den jeweils
angefochtenen Verwaltungsakt zu beurteilen. Mit der streitgegenständlichen Anordnung
vom 3. Juli 2008 und der - trotz der Bezugnahme in Nr. 2 der Anordnung - gesondert von
dieser auf der Grundlage des § 7 WHG erteilten wasserrechtlichen Erlaubnis vom 3. Juli
2008 standen dem Kläger zwei getrennt zu betrachtende Klagegegenstände zur
Verfügung, deren potentielle Nachbarrechtsrelevanz unterschiedlich ist. Nach dem
vorstehend Ausgeführten scheidet die Annahme einer Klagebefugnis mit Rücksicht auf
die streitgegenständliche Anordnung vom 3. Juli 2008 aus, weil nach Lage der Dinge
von vornherein ausgeschlossen ist, dass diese den Kläger in seinen Rechten verletzt.
Unbeachtlich ist demgegenüber, ob der Kläger - ohne dass dies hier abschließend
beurteilt werden soll und kann - in Bezug auf die wasserrechtliche Erlaubnis vom 3. Juli
2008 klagebefugt sein könnte.
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Anders als von dem Zulassungsantrag angedeutet, wirft der Fall die Frage des
Prüfprogramms des Baugenehmigungsverfahrens nicht auf, weshalb der Senat hierauf
nicht einzugehen braucht. Dem klägerseits angeführten Beschluss des Bayerischen
Verwaltungsgerichtshofs vom 17. November 2008 - 15 ZB 08.2235 -, juris, der sich mit
dem Verhältnis wasserrechtlicher und baurechtlicher Genehmigungen nach dem
bayerischen Bauordnungsrecht befasst, lässt sich auch unabhängig davon, dass das
jeweilige Landesrecht bestimmt, was Gegenstand der Prüfung im
Baugenehmigungsverfahren ist,
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vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. Oktober 1995 - 4 B 216.95 -, BVerwGE 99,
351 = BRS 57 Nr. 186 = juris Rn. 7,
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nicht entnehmen, warum der Kläger entgegen der Einschätzung des
Verwaltungsgerichts gegenüber der streitbefangenen Anordnung klagebefugt sein soll.
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b) Die Berufung ist im Hinblick auf den Klageantrag zu 3. nicht gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2
VwGO wegen der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der
Rechtssache zuzulassen. Wie unter 2 a) dargelegt, ist der Ausgang des Rechtsstreits
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insoweit nicht offen. Der pauschale Verweis des Klägers auf die "Vielzahl der Akten, die
mannigfachen rechtlichen Probleme sowie die Verfahrensdauer" füllt den
Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht aus.