Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 13.10.1999

OVG NRW: wand, grundstück, öffentlich, firma, rechtsmittelbelehrung, grenzabstand, bekanntgabe, neubau, vergleich, rücknahme

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Vorinstanz:
Oberverwaltungsgericht NRW, 7 A 999/99
13.10.1999
Oberverwaltungsgericht NRW
7. Senat
Urteil
7 A 999/99
Verwaltungsgericht Aachen, 3 K 2885/97
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens einschließlich der
außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich im vorliegenden Verfahren gegen die Aufhebung einer seinem
Rechtsvorgänger erteilten Baugenehmigung durch den Beklagten.
Der Kläger ist Miteigentümer des Grundstücks A. straße 11, Gemarkung K. , Flur 8,
Flurstück 4120. Das Grundstück ist mit einem Mehrfamlienwohnhaus bebaut, in dem 3
Eigentumswohnungen vorhanden sind. Der Kläger ist Eigentümer der im Dachgeschoß
gelegenen Wohnung und bewohnt diese selbst. An das Grundstück A. straße 11 grenzt
östlich das Grundstück A. straße 5/7, Gemarkung K. , Flur 8, Flurstück 4503 an, das im
Eigentum des Beigeladenen steht und mit einem Wohnhaus bebaut ist. Der Kläger erwarb
seine Eigentumswohnung von der Firma W. S. GmbH. Dieser war unter dem 5. März 1991
die Baugenehmigung für den "Neubau von 3 Eigentumswohnungen" nebst 2 Garagen auf
dem vorbezeichneten Grundstück erteilt worden. Bei einer Überprüfung des Bauvorhabens
- auf eine Eingabe des Beigeladenen vom 2. September 1991 - stellte der Beklagte fest,
daß der Giebel des Gebäudes um etwa 1 m und der First um etwa 1,40 m höher als in der
Baugenehmigung vom 5. März 1991 genehmigt erstellt worden waren. Hierauf reichte die
Firma W. S. GmbH unter dem 6. Dezember 1991 einen Bauantrag für den "Neubau von 3
Eigentumswohnungen Nachtrag" ein. In den hierzu beigefügten Bauvorlagen war eine 45°
Abwalmung der Dachgiebel und eine teilweise Abschrägung der zum Grundstück des
Beigeladenen gelegenen seitlichen Gebäudeabschlußwand vorgesehen. Hierzu legte die
Firma W. S. GmbH eine Abstandflächenberechnung des öffentlich bestellten
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Vermessungsingenieurs R. vor, die eine Berechnung der Abstandflächen zum Grundstück
des Beigeladenen hin enthält. Diese kommt zu dem Ergebnis, daß die Abstandflächen auf
dem Grundstück A. straße 11 zum Grundstück des Beigeladenen hin eingehalten sind.
Dabei hatte der Vermessungsingenieur zwei Wandabschnitte gebildet und für die
jeweiligen Wandabschnitte eine gesonderte - jeweils zugehörige - Abstandfläche ermittelt.
Der erste Wandabschnitt ist hiernach 10,27 m lang und reicht bis zu einem Punkt an dem
das Gelände nach den Feststellungen des Vermessungsingenieurs R. um 0,14 m nach
oben "verspringt", die Länge des hieran anschließenden Wandabschnitts beträgt 3,87 m.
Nach der Berechnung beträgt die Tiefe der Abstandfläche des 10,27 m langen
Wandabschnitts 3,28 m, und die des weiteren Wandab- schnitts 3,03 m, wobei Herr R. den
vorhandenen Abstand des Gebäudes zur Grundstücksgrenze in diesem Bereich mit
ebenfalls 3,03 m ermittelt hatte. Diese Berechnung ergänzte Herr R. dann unter dem 25.
Februar 1993 um eine Abstandflächenberechnung auch für die anderen Gebäudeseiten
des Hauses A. straße 11. Hiernach reicht die von der zur A. straße hin gelegenen
Gebäudeseite ausgelöste Abstandfläche über die Straßenmitte hinaus, im übrigen liegen
die Abstandflächen auf dem Grundstück A. straße 11. Hierauf erteilte der Beklagte der
Firma W. S. GmbH mit Bescheid vom 9. Februar 1994 die Baugenehmigung zum "Neubau
von 3 Eigentumswohnungen - Nachtrag -", unter gleichzeitiger Erteilung einer Befreiung
von der Einhaltung der Abstandfläche zur Straßenmitte hin. Hierbei wurden die unter dem
6. Dezember 1991 eingereichten Bauvorlagen mittels Grüneintrag als zur erteilten
Baugenehmigung zugehörig gekennzeichnet.
Hiergegen erhob der Beigeladene unter dem 25. März 1994 Widerspruch. Mit
Widerspruchsbescheid vom 27. April 1994 wies der Oberkreisdirektor des Kreises A. die
"Widersprüche vom 2. September 1991 und vom 25. März 1994" u.a. mit der Begründung
zurück, daß das Bauvorhaben die Abstandflächen unter Inanspruchnahme des sog.
Schmalseitenprivilegs einhalte, was nach den Feststellungen des öffentlich bestellten
Vermessungsingenieurs R. unzweifelhaft sei. Das von dem Beigeladenen hiergegen
angestrengten Klageverfahren - VG Aachen 3 K 3131/94 - wurde durch Vergleich vom 25.
Oktober 1994 beendet. In diesem Vergleich war unter anderem vorgesehen, daß die Firma
W. S. GmbH nachträglich Bauunterlagen vorlegen sollte, die den tatsächlichen Zustand auf
ihrem Grundstück und des errichteten Gebäudes wiedergeben sollten. Dem lag zugrunde,
daß das Gericht bei der durchgeführten Ortsbesichtigung festgestellt hatte, daß die
genehmigten Unterlagen den tatsächlichen Geländeverlauf, jedenfalls an der
Grundstücksgrenze zum Grundstück des Beigeladenen nicht zutreffend wiedergäben.
Hierauf reichte die Firma W. S. GmbH unter dem 25. November 1994 einen weiteren
Bauantrag betreffend das Bauvorhaben A. straße 11 ein, dem unter anderem nochmals die
- unveränderten - Berechnungen des öffentlich bestellten Vermessungsingenieurs R. sowie
eine Schnittzeichnung des Bauvorhabens beigefügt waren. In dieser Schnittzeichnung ist
die Höhe der östlichen Seitenwand des Hauses A. straße 11 an der der A. straße
zugewandten Ecke mit 6,73 m und am rückwärtigen Ende mit 6,46 m über der
Geländeoberfläche angegeben. Mit Bescheid vom 24. Januar 1995 erteilte der Beklagte
der Firma W. S. GmbH die Baugenehmigung "Nachtrag - Neubau von 3
Eigentumswohnungen". Dies teilte der Beklagte dem Beigeladenen mit Schreiben vom 13.
Februar 1995 mit. Mit Schreiben vom 8. März 1995 erhob der Beigeladene "Widerspruch ...
gegen Bescheid vom 13. Februar 1995". Zur Begründung führte er im wesentlichen aus,
daß die nach dem gerichtlichen Vergleich vorzulegenden Unterlagen durch die Firma W. S.
GmbH nicht vorgelegt worden seien. Im weiteren Verlauf des Widerspruchsverfahrens legte
der Beigeladene die Abstandflächenberechnung eines von ihm beauftragten öffentlich
bestellten Vermessungsingenieurs - des Herrn G. - vom 10. Oktober 1995 vor. Diese kommt
zu dem Ergebnis, daß die Abstandfläche teilweise (max. 45 cm) auf dem Grundstück des
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Beigeladenen liegt. Herr G. hatte bei seiner Berechnung keine Wandabschnitte gebildet,
sondern die mittlere Wandhöhe der östlichen Gebäudewand zugrundegelegt. Ferner hatte
er die Abwalmung im Giebelbereich mit 51° angenommen. Nachdem Herr R. durch eine
erneute Vermessung und Berechnung die Abwalmung des Giebels nochmals mit 45°
festgestellt hatte, legte Herr G. in einer geänderten Abstandflächenberechnung vom 18.
März 1996 ebenfalls diesen Wert zugrunde. Nach der geänderten Berechnung erstreckt
sich die Abstandfläche über eine Länge von 4,22 m in einer Tiefe von 0,27 m (auf 0,00 m
auslaufend) auf das Grundstück des Beigeladenen. Mit Bescheid vom 22. April 1997 (Az.
00440-95-06) - gerichtet an den Beigeladenen - traf der Beklagte die Regelung: "auf den
Widerspruch vom 09.03.1995 hin, hebe ich die Nachtragsbaugenehmigung vom
24.01.1995 auf". Dieser Bescheid wurde dem Kläger mit Schreiben des Beklagten vom 23.
April 1997 (Az.00504-96-06) als Anlage übermittelt. Diesem Schreiben war eine
Rechtsmittelbelehrung beigefügt, wonach "gegen den als Anlage beigefügten
Abhilfebescheid" innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe Widerspruch erhoben werden
könne. Mit Bescheid vom gleichen Tag (Az.00719-97-06) forderte der Beklagte den Kläger
unter Zwangsgeldandrohung zur Beseitigung des Gebäudes A. straße 11 auf.
Mit Schreiben vom 21. Mai 1997 erhob u.a. der Kläger, bezugnehmend auf die
"Ordnungsverfügung vom 23. April 1997" Widerspruch. Zur Begründung führte er im
wesentlichen aus, daß das Bauvorhaben nach der Abstandflächenberechnung des Herrn
R. genehmigungsfähig sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 19. August 1997 wies der
Oberkreisdirektor des Kreises A. den Widerspruch des Klägers zurück. Zur Begründung
führte er im wesentlichen aus: Die Auslegung des Begehrens des Klägers ergebe, daß sich
der Widerspruch gegen die Abrißverfügung und die Androhung des Zwangsgeldes richte.
Diese seien aber aus den Gründen des Ausgangsbescheides rechtmäßig ergangen. Mit
Schreiben vom 27. August 1997 wies der Beklagte den Kläger - auf Bitten des
Oberkreisdirektors des Kreises A. - auf folgendes hin: Der Widerspruchsbescheid vom 19.
August 1997 enthalte keine Entscheidung über den von dem Kläger gegen die
Abhilfeentscheidung des Beklagten vom 22. April 1997 erhobenen Widerspruch. Der Grund
hierfür sei § 68 Abs. Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VwGO, wonach es der Nachprüfung eines
Verwaltungsakts in einem Vorverfahren dann nicht bedürfe, wenn der Abhilfe- bescheid
erstmalig eine Beschwer enthalte. So liege der Fall hier, da mit der Aufhebung der
Baugenehmigung erstmals in die Rechte des Klägers eingegriffen worden sei. Diesem
Schreiben war eine Rechtsmittelbelehrung beigefügt, wonach gegen den Abhilfebescheid
vom 22. April 1997 innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Schreibens Klage
erhoben werden könne.
Hierauf hat der Kläger am 25. September 1997 mit der Begründung Klage erhoben, daß
das Bauvorhaben nach der Abstandflächenberechung des öffentlich bestellten
Vermessungsingenieurs R. genehmigungsfähig sei.
Der Kläger hat beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 22. April 1997 aufzuheben.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung hat er im wesentlichen ausgeführt: Das Bauvorhaben sei nicht
genehmigungsfähig, da die Abstandflächen auf dem Grundstück A. straße 11 nach der
Abstandflächenberechnung des Herrn G. nicht eingehalten seien. Die
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Abstandflächenberechnung von Herrn R. könne nicht zugrundegelegt werden, da dessen
Berechnungsmethode aufgrund der zu Unrecht erfolgten Berücksichtigung des
vorhandenen Geländeversprungs fehlerhaft sei.
Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Mit dem angefochtenen Urteil hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen und zur
Begründung im wesentlichen ausgeführt: Der Aufhebungsbescheid vom 22. April 1997 sei
rechtmäßig, da der Beklagte dem Widerspruch des Beigeladenen habe abhelfen müssen.
Dieser sei durch die erteilte Baugenehmigung in seinen Rechten verletzt, da das
Bauvorhaben nach den zutreffenden Berechnungen des öffentlich bestellten
Vermessungsingenieurs G. die erforderlichen Abstandflächen nicht einhalte. Dieser habe
die Wandhöhe der dem Grundstück des Beigeladenen zugewandten
Gebäudeabschlußwand zutreffend aus der gemittelten Wandhöhe an den beiden
Eckpunkten des Gebäudes berechnet. Hierbei habe er zu Recht davon abgesehen bei dem
vorliegenden Versprung der Geländehöhe die Wandhöhe getrennt nach Wandabschnitten
zu ermitteln, da dies nach der Regelung des § 6 Abs. 4 Satz 3 BauO NW unzulässig sei.
Gegen das ihm am 13. Januar 1999 zugestellte Urteil hat der Kläger am 10. Februar 1999
die Zulassung der Berufung beantragt. Mit Beschluß vom 30. Juli 1999, den
Prozeßbevollmächtigten des Klägers zugestellt am 5. August 1999 hat der Senat die
Berufung auf den Antrag des Klägers zugelassen. Mit am 19. August 1999 bei Gericht
eingegangenem Antrag hat der Kläger die Berufung begründet und einen Berufungsantrag
gestellt.
Zur Begründung der Berufung führt der Kläger aus: Hier sei ausnahmsweise eine nach
Wandabschnitten getrennte Ermittlung der Abstandflächen zulässig. Dies sei immer dann
der Fall, wenn die durch § 6 Abs. 4 BauO NW geforderte Mittelwertbildung die
tatsächlichen Auswirkungen der Wand auf das Nachbargrundstück nicht hinreichend erfaßt
würden. Dabei dürften an das Vorliegen eines Ausnahmefalls keine hohen Anforderungen
gestellt werden, da andererseits bereits jede Verletzung der Abstandflächenvorschriften zu
einer Verletzung der Rechte des Nachbarn führe. Selbst wenn hier eine Verletzung der
Abstandflächenvorschriften vorliegen sollte, habe die Baugenehmigung nicht aufgehoben
werden dürfen, da dies gegen das Gebot der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes
verstoße. Diese Grundsätze seien bereits bei der Entscheidung über die Rücknahme eines
begünstigenden Verwaltungsakts zu berücksichtigen, was der Beklagte bei seiner
Entscheidung unterlassen habe. Dem stehe im übrigen auch nicht die Vorschrift des § 50
VwVfG entgegen. Dabei sei das Vertrauen des Klägers in besonderem Maße
schutzwürdig, da er erst im Jahre 1996 von der fehlenden Bestandskraft der
Baugenehmigung erfahren habe, und er jedenfalls aufgrund der beiden
Nachtragsbaugenehmigungen auf deren Rechtmäßigkeit habe vertrauen dürfen.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil zu ändern, und nach dem Schlußantrag erster Instanz zu
erkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung trägt er in Ergänzung zu seinem erstinstanzlichen Vorbringen vor: Für die
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Frage der Verletzung der Abstandflächenvorschriften sei unerheblich, ob die
Unterschreitung der Abstandfläche den Beigeladenen spürbar beeinträchtige. Ferner
könne der Kläger gegenüber der Aufhebung der Baugenehmigung keinen
Vertrauensschutz für sich beanspruchen. Es habe ihm im eigenen Interesse oblegen, sich
vor Erwerb der Eigentumswohnung bei dem Beklagten über die öffentlich-rechtliche
Genehmigungslage zu informieren. Wenn er dies unterlassen habe, so gehe das zu seinen
Lasten.
Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte
des vorliegenden Verfahrens, des Verfahrens 7 A 998/99 und die dort vorgelegten
Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.
Die Klage ist zulässig. Insbesondere hat der Kläger rechtzeitig Klage erhoben. Gemäß § 74
Abs. 1 Satz 2 VwGO muß die Anfechtungsklage, wenn - wie vorliegend nach § 68 Abs. 1
Satz 2 VwGO - ein Widerspruchsbescheid nicht erforderlich ist, innerhalb eines Monats
nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts erhoben werden. Allerdings hat der Kläger die
Klage nicht innerhalb eines Monats, nachdem ihm die Aufhebung der Baugenehmigung
bekannt gegeben worden war, erhoben. Die Bekanntgabe erfolgte am 24. April 1997
während der Kläger die Klage am 25. September 1997 erhoben hat. Jedoch hat die
Bekanntgabe der Baugenehmigung hier nicht die Klagefrist des § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO
in Lauf gesetzt. Die dem Schreiben des Beklagten vom 23. April 1997 beigefügte
Rechtsmittelbelehrung, daß gegen den "Abhilfebescheid" innerhalb eines Monats
Widerspruch erhoben werden könne, ist i.S.v. § 58 Abs 2 VwGO unrichtig, da es hier
gemäß § 68 Abs. 1 Nr. 2 VwGO nicht der Durchführung eines Widerspruchsverfahrens
bedurfte. Danach galt für die Erhebung der Klage zunächst die Jahresfrist des § 58 Abs. 2
Satz 1 VwGO. Ob diese Frist wirksam durch die dem Schreiben des Beklagten vom 27.
August 1997 beigefügte Rechtsmittelbelehrung verkürzt worden ist, kann dagegen
dahinstehen. Denn der Kläger hat jedenfalls innerhalb eines Monats nach Zustellung
dieses Schreibens Klage erhoben.
Die Klage ist aber unbegründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 22. April 1997, mit dem dieser die der Firma W. S. GmbH
erteilte "Nachtragsbau-genehmigung vom 24. Januar 1995" aufgehoben hat, ist recht-
mäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid ist § 72 VwGO. Hier hat sich der
Beklagte unmißverständlich für das Verfahren der Abhilfe nach § 72 VwGO und nicht etwa
dasjenige der Rücknahme nach § 48 VwVfG entschieden, so daß die bezüglich einer
Rücknahme geltend gemachten Bedenken auf sich beruhen können.
Vgl. zu dem insoweit bestehenden Wahlrecht der Ausgangsbehörde BVerwG, Urteil vom
18. April 1996 - BVerwG 4 C 6.95 -, BVerwGE 101, 64ff.
Dies ergibt sich zunächst aus dem eindeutigen Wortlaut des angefochtenen Bescheides,
wenn dort formuliert ist "auf den Widerspruch vom 9. März 1995 hin hebe ich die
Nachtragsbaugenehmigung vom 24. Janaur 19995 auf". Bestätigt wird dies durch die
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"Entstehungsgeschichte" diese Bescheides. So hatte der Oberkreisdirektor des Kreises A.
den Beklagten mit Schreiben vom 15. April 1997 ausdrücklich darum gebeten, dem
Widerspruch des Beigeladenen nach § 72 VwGO abzuhelfen und darauf zu achten, daß
"die Baugenehmigung nicht nach § 48 VwVfG zurückgenommen wird".
Der Beklagte mußte gemäß § 72 VwGO dem Widerspruch des Beigeladenen abhelfen und
die Baugenehmigung vom 24. Januar 1995 aufheben.
Der Widerspruch des Beigeladenen vom 8. März 1995 war zulässig und begründet. Dabei
ist der Beklagte zu Recht davon ausgegangen, daß sich der Widerspruch des
Beigeladenen gegen die der Firma W. S. erteilte Baugenehmigung vom 24. Janaur 1995
richtete. Zwar ist der Widerspruch wörtlich gegen den "Bescheid vom 13. Februar 1995"
gerichtet. Jedoch handelt es hierbei um eine unschädliche Falschbezeichnung. Mit diesem
Schreiben vom 13. Februar 1995 hatte der Beklagte dem Beigeladenen mitgeteilt, daß der
Firma W. S. GmbH die Baugenehmigung vom 24. Januar 1995 erteilt worden war. Dadurch,
daß dem Schreiben weiter eine Rechtsmittelbelehrung beigefügt war, daß der Beigeladene
gegen diese Baugenehmigung Widerspruch erheben könne, hat der Beigeladene mit der
Bezugnahme auf dieses Schreiben in seinem Widerspruch hinreichend deutlich gemacht,
daß sich der Widerspruch gegen die erteilte Baugenehmigung vom 24. Janauar 1995
richtete.
Dieser Widerspruch war begründet.
Die der Firma W. S. GmbH erteilte Baugenehmigung vom 24. Januar 1995 verstößt gegen
nachbarschützende Vorschriften des öffentlichen Baurechts und verletzt den Beigeladenen
dabei in seinen Rechten.
Die Baugenehmigung verstößt zu Lasten des Beigeladenen gegen die nachbarschützende
Abstandflächenvorschrift des 6 BauO NW, weil das der Firma W. S. GmbH genehmigte
Vorhaben in der Gestalt, wie es durch die Baugenehmigung vom 24. Janaur 1995
genehmigt worden ist, zum Grundstück des Beigeladenen nicht den erforderlichen Abstand
einhält.
Gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NW sind vor Außenwänden von Gebäuden Flächen von
oberirdischen Gebäuden freizuhalten (Abstandflächen). Nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BauO NW
müssen die Abstandflächen auf dem Grundstück selbst liegen. Gemäß § 6 Abs. 4 BauO
NW bemißt sich die Tiefe der Abstandfläche nach der Wandhöhe; sie wird senkrecht zur
Wand gemessen. Als Wandhöhe gilt das Maß von der Geländeoberfläche bis zur
Schnittlinie der Wand mit der Dachhaut oder bis zum oberen Abschluß der Wand. Bei
geneigter Geländeoberfläche ist die im Mittel gemessene Wandhöhe maßgebend; bei
gestaffelten Wänden ist auf die Höhe des jeweiligen Wandabschnitts abzustellen. In
Ausführung dieser gesetzlichen Vorschrift gilt danach vorliegend folgendes: Für die
Berechnung der Abstandflächen ist hier auszugehen von den der Baugenehmigung vom
24. Janaur 1995 zugrundeliegenden Bauvorlagen, die ihrerseits mittels Grüneintrag als zur
Baugenehmigung gehörig gekennzeichnet sind. Denn diese legen als Bestandteil der
Genehmigung auch gegenüber dem Beigeladenen dasjenige fest, was als Bauvorhaben
genehmigt worden ist. Danach ist die östliche Seitenwand des Gebäudes A. straße 11 am
rückwärtigen Ende mit einer Höhe von 6,46 m und an der der A. straße zugewandten Ecke
mit 6,73 m über der Geländeoberfläche genehmigt. Hieraus errechnet sich als mittlere
Wandhöhe i.S.v. § 6 Abs. 4 Satz 3 1. Variante BauO NW eine Höhe von 6,595 m. Denn
nach den Feststellungen des Vermessungsingenieurs G. ist die Geländeoberfläche in dem
maßgeblichen Bereich geneigt, indem ihre Höhe zur an der A. straße hin gelegenen
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Gebäudeecke 175,39 m über NN und an der rückwärtigen Gebäudeecke 175,55 m über
NN beträgt. Dagegen kann die einheitliche östliche Gebäudeabschlußwand hier nicht - wie
von dem öffentlich bestellten Vermessungsingenieur R. angenommen - in Anwendung von
§ 6 Abs. 4 Satz 3 2. Variante BauO NW - in zwei Wandabschnitte geteilt und für diese
jeweils gesondert die Wandhöhe H ermittelt werden. Bei der östlichen
Gebäudeabschlußwand handelt es sich nämlich nicht um eine gestaffelte Wand wie in § 6
Abs. 4 Satz 3 2. Variante BauO NW für die Bildung von Wandabschnitten vorausgesetzt.
Denn die Wand als solche weist nach den vorliegenden Bauzeichnungen ihrerseits
keinerlei Versprünge auf. Lediglich die Geländeoberfläche "verspringt" im rückwärtigen
Grundstücksbereich am Fuß der Wand um 0,08 m bzw. 0,14 m. Der durch diesen
Höhenversprung des Geländes entstehende Unterschied der Wandhöhen über der
Geländeoberfläche an der hinteren südöstlichen Gebäudeecke im Vergleich zu der Höhe
der Wand nordwestlich des Geländeversprungs rechtfertigt es aber nicht, Wandabschnitte
zu bilden. Die Möglichkeit der Bildung von Wandabschnitten ist nach dem Wortlaut des
Gesetzes nicht vom Geländeverlauf am Fuß der Wand abhängig. Dieser Geländeverlauf
hat, geht man vom Text des Gesetzes aus, ausschließlich einen Einfluß auf die
Berechnung der Wandhöhe als solcher. Die Befugnis, Wandabschnitte zu bilden, ist nach §
6 Abs. 4 Satz 3 2. Variante BauO NW ausschließlich davon abhängig, daß es sich um eine
gestaffelte Wand handelt. Dieses Kriterium orientiert sich also an der Gestalt der Wand
selbst, nicht aber an dem sie nach unten hin begrenzenden Geländeverlauf. Allerdings
kann die Erscheinungsform der Wand selbst auch durch den Verlauf ihres unteren
Abschlusses mit bestimmt werden. Das kann etwa der Fall sein, wenn der Geländeverlauf
einen deutlichen Versprung aufweist. Ein solcher Versprung ist geeignet, das
Erscheinungsbild der Wand selbst - auf dieses kommt es nach § 6 Abs. 4 Satz 3 2. Variante
BauO NW an - so stark zu beeinflussen, daß diese Wand trotz ihres Verlaufs in einer
Ebene architektonisch als gestaffelt in Erscheinung tritt. Dies setzt aber wie erwähnt
voraus, daß der Versprung so deutlich ist, d.h. eine solche Höhendifferenz aufweist, daß
hierdurch die Erscheinungsform der Wand in ihrer architektonischen Wirkung in Richtung
auf eine gestaffelte Wand abgewandelt wird.
Eine solche Situation ist vorliegend jedoch nicht gegeben. Der hier gegebene "Versprung"
im Geländeverlauf ist nicht geeignet, das Erscheinungsbild der östlichen
Gebäudeabschlußwand so stark zu beeinflussen, daß sie architektonisch als gestaffelt in
Erscheinung tritt. Denn der "Versprung" ist mit einer Höhendifferenz von 0,14 m (nach den
Berechnungen des öffentlich bestellten Vermessungsingenieurs R. ) bzw. 0,08 m (nach den
Festellungen des öffentlich bestellten Vermessungsingenieurs G. ) so gering, daß ihm kein
nennenswertes optisches Gewicht für das Erscheinungsbild der östlichen
Gebäudeabschlußwand zukommt. Der Versprung läßt die Wand weiter auch deswegen
nicht als gestaffelt erscheinen, weil er vorliegend nicht etwa dazu geführt hat, daß seine
Existenz bei der sonstigen Gestaltung der östlichen Gebäudeabschlußwand des
Baukörpers - etwa durch Fenster o.ä. - aufgegriffen worden wäre. Es ist vielmehr bei der -
dominierenden - einheitlichen Gestaltung der Wand in einer Ebene verblieben.
Nach § 6 Abs. 4 Satz 4 BauO NW sind der Wandhöhe zur Ermittlung des Maßes "H" unter
den dort genannten Voraussetzungen die Höhe weiterer Bauteile hinzuzurechnen. Hierzu
gehört gemäß § 6 Abs. 4 Satz 4 Nr. 2 BauO NW die Höhe von Giebelflächen im Bereich
von Dächern und Dachteilen, wenn nicht beide Seiten eine Dachneigung von mehr als 70°
haben, wobei deren Höhe zu einem Drittel in Ansatz zu bringen ist. Diese
Voraussetzungen treffen hier zu. Nach den vorliegenden Bauzeichnungen weist das Dach
des Gebäudes A. straße 11 an den beiden Seiten eine Neigung von unter 70° auf.
Allerdings ist bei der Ermittlung der relevanten Giebelhöhe hier zusätzlich zu
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berücksichtigen, daß sich der Giebel nicht bis zum Dachfirst erstreckt, sondern in Form
eines Krüppelwalmdachs unterhalb der Firsthöhe des Hauses zu dem First hin abknickt.
Insoweit entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Senats, daß die für "Normal-
giebel" geltende - günstigere - Höhenberechnung auch im Fall einer Abwalmung
anzuwenden ist,
vgl. OVG NW, Beschluß vom 23. November 1995 - 7 B 2752/95 -, BRS 57, Nr. 143.
und zwar dergestalt, daß die Höhe des Krüppelwalms bei der Berechnung der Giebelhöhe
nicht zu berücksichtigen ist, wenn die Neigung der Walmfläche nicht mehr als 45° aufweist.
Vgl. OVG NW, Beschluß vom 9. Januar 1997 - 7 B 3156/96 -.
In diesem Fall ist die Höhe der Giebelfläche nur bis zum unteren Ansatz des Krüppelwalms
zu berücksichtigen.
Dies trifft hier zu. Denn nach den Bauzeichnungen zur Baugenehmigung vom 24. Januar
1995 beträgt die Dachneigung des zum Grundstück des Beigeladenen hin liegenden
Krüppelwalms jedenfalls nicht mehr als 45°, was auch durch die erneute Messung des
öffentlich bestellten Vermessungsingenieurs R. bestätigt worden ist. Dabei macht die
Länge des unterhalb der Abwalmung gelegenen oberen horizontalen Wandabschlusses
auch nicht mehr als die Hälfte der Breite der darunterliegenden Außenwand aus.
Vgl. zum Ausschluß der Drittelregelung wenn der horizontale Verlauf des oberen
Abschlusses mehr als die Hälfte der Breite der darunterliegenden Außenwand ausmacht:
OVG NW, Beschluß vom 23. November 1995 - 7 B 2752/95 -, BRS 57, Nr. 143.
Hier beträgt die genehmigte Höhe der Giebelfläche vom Schnittpunkt Wand/Dachhaut bis
zum unteren Ansatz des Krüppelwalms ausweislich der Bauvorlagen 4,63 m. Damit ist die
so ermittelte Höhe der Giebelfläche mit einem Drittel (entspricht 1,543 m) in die
Berechnung des Maßes H einzustellen. Hiernach ergibt sich vorliegend ein Maß "H" von
8,138 m (6,595 m + 1,543 m) für die dem Grundstück des Beigeladenen zugewandte
Gebäudeseite des Hauses A. straße 11. Unter Berücksichtigung des Schmalseitenprivilegs
nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BauO NW ist deshalb für diese Gebäudeseite von einer
Abstandfläche von 3,255 m Tiefenerstreckung auszugehen. Da sich der Grenzabstand des
Gebäudes A. straße 11 von der Gebäudeecke an der Straße mit 3,28 m (Lageplan zur
Baugenehmigung vom 24. Januar 1995) bzw. 3,32 m (Abstandflächenberechnung des
öffentlich bestellten Vermessungsingenieurs G. ) auf 3,01 m an der hinteren Gebäudeecke
(Abstandflächenberechnung des öffentlich bestellten Vermessungsingenieurs G. ) bzw.
3,03 m (Abstand-flächenberechnung des öffentlich bestellten Vermessungsingenieurs R. )
verjüngt, erstreckt sich die Abstandfläche teilweise auf das Grundstück des Beigeladenen.
Nichts ausschlaggebend anderes ergibt sich im übrigen dann, wenn man - zugunsten des
Klägers - (mit der Abstandflächenberechnung des öffentlich bestellten
Vermessungsingenieurs G. vom 18. März 1996) von einer maßgeblichen Giebelhöhe von
4,59 m ausgeht. Die einzuhaltende Abstandfläche betrüge dann 3,249 m.
Für den Senat bestand auch keine Veranlassung - etwa durch Einholung eines
Sachverständigengutachtens - zur weiteren Aufklärung zu ermitteln, welchen Grenzabstand
das Gebäude A. straße 11 zum Grundstück des Beigeladenen tatsächlich genau aufweist.
Insbesondere kann dahingestellt bleiben, ob die Vermessung des öffentlich bestellten
Vermessungsingenieurs R. zutrifft, der den Grenzabstand im hinteren Grundstücksbereich
mit 3,03 m (was genau der von ihm ermittelten Abstandsfläche entspricht) ermittelt hat,
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während der öffentlich bestellte Vermessungsingenieur G. den vorhandenen Grenzabstand
mit 3,01 m festgestellt hatte, wobei der Lageplan zur Baugenehmigung vom 24. Januar
1995 für diesen Bereich überhaupt keine Maßangabe aufweist. Denn nach dem
Dargelegten beruht die Abstandsflächenberechnung des Vermessungsingenieurs R. auf
einer unzutreffenden Berechnungsmethode und die maßgebliche Abstandfläche liegt nach
beiden Vermessungen mit einer - nach den oben dargelegten Berechnungen -
Tiefenerstreckung von 3,255 m bzw. 3,249 m jedenfalls teilweise auf dem Grundstück des
Beigeladenen.
Weiter braucht der Senat auch nicht der Frage nachzugehen, ob hier die Grundsätze
anzuwenden wären, die der Senat für die Abstandflächenberechnung bei einer
Giebelwand mit unterschiedlichen Traufhöhen aufgestellt hat,
vgl. OVG NW, Beschluß vom 5. September 1995 - 7 B 1886/95 -,
Allerdings würde bei einer - wie vom Vermessungsingenieur R. vorgenommenen - Bildung
von zwei Wandabschnitten - zumindest gedanklich - eine solche Situation entstehen.
Jedoch braucht dies hier nicht abschließend geklärt zu werden, weil jedenfalls aus den
dargelegten Gründen die Bildung von Wandabschnitten ausscheidet.
Der nach alledem zu bejahende Verstoß gegen das Abstandrecht ist nicht etwa deshalb
irrelevant, weil der Beigeladene - wie der Kläger meint - durch die Unterschreitung der
Abstandfläche tatsächlich nicht beeinträchtigt würde. Denn allein die Nichteinhaltung der
nach § 6 BauO NW erforderlichen Abstandfläche löst, unabhängig vom Grad der bei
isolierter Betrachtung mit der Abstandunterschreitung selbst verbundenen Beeinträchtigung
des Nachbarn, einen nachbarlichen Abwehranspruch aus, wie der Senat
vgl. OVG NW, Urteil vom 14. Januar 1994 - 7 A 2002/94 -; OVG NW Beschluß vom 27. Juni
1995 - 7 B 1413/95 -, OVG NW, Beschluß vom 10. Februar 1999 - 7 B 974/98 -.
bereits mehrfach ausgeführt hat.
War damit der Widerspruch des Beigeladenen begründet, stand dem Beklagten bei der von
ihm gewählten Abhilfeentscheidung nach § 72 VwGO, die Baugenehmigung aufzuheben,
kein Ermessensspielraum zu.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2 VwGO, 162 Abs. 3 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO iVm §§ 708
Nr. 11, 711 und 713 ZPO.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht gegeben sind.