Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 03.02.2003

OVG NRW: nationalität, familie, sowjetunion, abstammung, adoption, tod, ausstellung, geburt, aufnahmebewerber, russisch

Oberverwaltungsgericht NRW, 2 A 4763/99
Datum:
03.02.2003
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
2. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 A 4763/99
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 9 K 5833/97
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des
Bundesverwaltungsamtes vom 6. März 1997 und dessen
Widerspruchsbescheid vom 29. Mai 1997 verpflichtet, der Klägerin zu 1.
einen Aufnahmebescheid zu erteilen und die Klägerinnen zu 2. und 3. in
diesen Aufnahmebescheid einzubeziehen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Außergerichtliche Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die
Vollstreckung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn
nicht die Klägerinnen vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben
Höhe leisten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird für das vor dem 1. Januar 2002 anhängig gewordene
Berufungsverfahren auf 12.271,- EUR (= 24.000,- DM) festgesetzt.
G r ü n d e:
1
Die Berufung der Klägerinnen, über die der Senat nach Anhörung der Beteiligten
gemäß § 130 a VwGO durch Beschluss entscheidet, mit dem Antrag,
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das angefochtene Urteil zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides
des Bundesver-waltungsamtes vom 6. März 1997 und dessen Widerspruchsbescheides
vom 29. Mai 1997 zu verpflichten, der Klägerin zu 1. einen Aufnahmebe-scheid zu
3
erteilen und die Klägerinnen zu 2. und 3. in diesen einzubeziehen,
ist begründet. Die Klägerinnen haben Anspruch auf Erteilung der begehrten
Aufnahmebescheide.
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Rechtsgrundlage für den von der Klägerin zu 1. geltend gemachten Anspruch auf
Erteilung eines Aufnahmebescheides sind die §§ 26, 27 Abs. 1 Satz 1 des
Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Juni
1993, BGBl. I 829, zuletzt geändert durch das Gesetz zur Klarstellung des
Spätaussiedlerstatus (Spätaussiedlerstatusgesetz - SpStatG) vom 30. August 2001,
BGBl. I 2266. Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 wird der Aufnahmebescheid auf Antrag Personen
mit Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten erteilt, die nach Verlassen dieser Gebiete die
Voraussetzungen als Spätaussiedler erfüllen. Spätaussiedler aus dem hier in Rede
stehenden Aussiedlungsgebiet der ehemaligen Sowjetunion kann nach § 4 Abs. 1
BVFG nur sein, wer deutscher Volkzugehöriger ist. Da die Klägerin zu 1. nach dem 31.
Dezember 1923 geboren ist, ist sie nach § 6 Abs. 2 BVFG deutsche Volkszugehörige,
wenn sie von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen
abstammt und sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete durch eine
entsprechende Nationalitätenerklärung oder auf vergleichbare Weise nur zum
deutschen Volkstum bekannt oder nach dem Recht des Herkunftsstaates zur deutschen
Nationalität gehört hat (§ 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG). Diese ist nur festgestellt, wenn jemand
im Zeitpunkt der Aussiedlung aufgrund dieser Vermittlung zumindest ein einfaches
Gespräch auf Deutsch führen kann (§ 6 Abs. 2 Satz 3 BVFG).
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Die Voraussetzung der Abstammung von einem deutschen Volkszugehörigen ist in der
Person der Klägerin zu 1. erfüllt. Ihre leiblichen Eltern waren nach den Angaben der
Kläger beide deutsche Volkszugehörige, was auch von der Beklagten nicht in Zweifel
gezogen wird.
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Die Klägerin zu 1. erfüllt auch die weitere Voraussetzung des § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG.
Für die Beurteilung der Frage, ob die Klägerin zu 1. ein Bekenntnis zum deutschen
Volkstum im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG abgegeben hat, ist hier die erste
Alternative dieser Vorschrift maßgeblich. Denn für die Eintragung der Nationalität in
ihren Inlandspass war eine ausdrückliche Erklärung zu einer bestimmten Nationalität
erforderlich. Denn auch bei einer Abstammung von zwei deutschen Elternteilen wurde
in der ehemaligen Sowjetunion in der Praxis dem von einem Antragsteller geäußerten
Wunsch, mit einer anderen, insbesondere der russischen Nationalität geführt zu werden,
Rechnung getragen. Die an sich vorgesehene Zugehörigkeit zur deutschen Nationalität
ist deshalb auch in diesen Fällen gerade nicht eingetreten, vielmehr erfolgte kraft
ausdrücklicher Erklärung eine anderweitige Zuordnung.
7
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. Dezember 2000 - 5 B 80.00 -.
8
Die Klägerin zu 1. hat im Jahr 1994 eine Erklärung zur deutschen Nationalität
abgegeben, in dem auf ihren Antrag die Nationalität in ihrem Inlandspass von
"Russisch" in "Deutsch" geändert worden ist.
9
Dem ursprünglichen Nationalitäteneintrag "Russisch" liegt hier ausnahmsweise kein
Bekenntnis zu einem nichtdeutschen Volkstum zugrunde. In der Angabe einer anderen
als der deutschen Nationalität gegenüber amtlichen Stellen liegt grundsätzlich ein die
deutsche Volkszugehörigkeit ausschließendes Gegenbekenntnis zu einem anderen
10
Volkstum.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. August 1995 - 9 C 391.94 -, BVerwGE 99, 133.
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Das ist nur dann nicht der Fall, wenn die nichtdeutsche Nationalität gegen den
ausdrücklichen Willen oder ohne eine entsprechende Erklärung des
Aufnahmebewerbers in den Inlandspass eingetragen wurde.
12
Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. November 1996 - 9 C 8.96 -, BVerwGE 102, 214.
13
Hier kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin zu 1. im Jahr 1959 im
Zusammenhang mit der Ausstellung ihres ersten Inlandspasses eine ihr als Bekenntnis
zu einem nichtdeutschen Volkstum zurechenbare Erklärung zur russischen Nationalität
abgegeben hat. Die Klägerin zu 1. hat erklärt, ihre Familie sei 1945 aus Deutschland in
die Sowjetunion zurückgebracht worden. Ihr Vater, der bis Kriegsende in der Wehrmacht
gekämpft habe, sei in sowjetische Gefangenschaft geraten und zu einer 10jährigen
Haftstrafe verurteilt worden. Nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 1947 sei sie in ein
Kinderheim gekommen und 1948 von einer russischen Familie adoptiert worden. Ihr
Vater sei 1955 aus der Haft entlassen worden. Er und die Geschwister hätten nach ihr
gesucht, aber keinen Kontakt herstellen können. Erst 1993 habe ihre Schwester sie über
das Deutsche Rote Kreuz ausfindig gemacht. Ihre Adoptiveltern hätten ihr nichts über
ihre Abstammung und ihre Geschwister gesagt. Nachdem sie die Wahrheit erfahren
habe, habe sie ihren ursprünglichen Namen wieder angenommen und ihre Nationalität
in "Deutsch" geändert. Der Senat hat keine Zweifel, dass diese auch durch Urkunden
belegte Darstellung den Tatsachen entspricht. Dieser Sachverhalt wird auch von der
Beklagten letztlich nicht in Zweifel gezogen. Da der Klägerin zu 1. somit aufgrund der
Adoption durch eine russische Familie nach den maßgeblichen Vorschriften des
sowjetischen Passrechts zur russischen Nationalität gerechnet wurde, stand ihr ein
Wahlrecht bezüglich der Eintragung ihrer Nationalität nicht zu: Eine Erklärung zur
russischen Nationalität, die ein Bekenntnis zu einem nichtdeutschen Volkstum im
vertriebenenrechtlichen Sinne darstellen konnte, war nicht möglich. Anhaltspunkte
dafür, dass die Klägerin zu 1. sich gleichwohl bei der Beantragung ihres ersten
Inlandspasses durch eine von einem entsprechenden Bewusstsein getragene
ausdrückliche und freiwillige Erklärung zur russischen Nationalität bekannt hat, die in
diesem Fall ausnahmsweise ein Bekenntnis zu einem nichtdeutschen Volkstum
nahelegen könnte, sind nicht vorgetragen worden und auch nicht ersichtlich. Anders als
bei der Angabe der deutschen Nationalität anlässlich der Ausstellung des ersten
sowjetischen Inlandspasses bei deutschen Eltern,
14
vgl. BVerwG, Urteil vom 13. April 2000 - 5 C 14.99 -, Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 93,
15
ist im hier vorliegenden Fall des Eintrags beiderseits russischer Eltern in der
Geburtsurkunde nicht davon auszugehen, dass mit der Angabe der russischen
Nationalität gleichzeitig auch ein Bekenntnis zu einem nichtdeutschen Volkstum
verbunden ist. Denn nach den Erkenntnissen des Senates aus anderen Verfahren
bestand bei Eltern gleicher nichtdeutscher Nationalität jedenfalls nicht die Möglichkeit,
hiervon abweichend die deutsche Nationalität in den Inlandspass eintragen zu lassen.
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Abgesehen davon liegt der Fall hier auch deshalb anders, weil der Klägerin zu 1.
aufgrund der in den Nachkriegswirren ohne Beteiligung ihres in Haft befindlichen Vaters
erfolgten Adoption beim Antrag auf Ausstellung ihres ersten Inlandspasses im Jahre
17
1959 keine Kenntnis der Abstammung von einem deutschen Vater hatte und auch
deshalb eine bewusste Entscheidung gegen das deutsche Volkstum nicht in Betracht
kam.
Vgl. Urteil des Senats vom 22. Mai 2002 - 2 A 524/00 (rkr.) -.
18
Die Klägerin zu 1. hat deshalb erstmals im Jahr 1994 ein ihr zurechenbares Bekenntnis
zum deutschen Volkstum abgegeben. Diese Erklärung ist rechtzeitig. Denn § 6 Abs. 2
Satz 1 BVFG setzt nicht voraus, dass sich der Aufnahmebewerber vom Beginn der
Erklärungs- bzw. Bekenntnisfähigkeit an bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete
zum deutschen Volkstum bekannt hat. Die bereits mit dem Inkrafttreten des
Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes zum 1. Januar 1993 in das Gesetz eingefügten
Worte "bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete" sind vielmehr dahin auszulegen,
dass die Erklärung zur deutschen Nationalität im Sinne der ersten Alternative des § 6
Abs. 2 Satz 1 BVFG spätestens im Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebietes
vorgelegen haben muss. An dieser Rechtslage hat sich durch das Inkrafttreten des
Spätaussiedlerstatusgesetzes nichts geändert. Die Einfügung des Wortes "nur" in den
Gesetzestext der beiden ersten Bekenntnisalternativen des § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG
dient allein dem Zweck, die nach der vertriebenenrechtlichen Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts zu § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVFG in der bis zum 6.
September 2001 geltenden Fassung bestehende Möglichkeit der sogenannten
"Revidierung des Gegenbekenntnisses" bei einem Nachweis der besonderen
Ernsthaftigkeit des revidierten Bekenntnisses in Abgrenzung zum bloßen
Lippenbekenntnis zukünftig auszuschließen.
19
Vgl. die Begründung des Entwurfes zu Art. 1 Nr. 2 des Spätaussiedlerstatusgesetzes
vom 19. Juni 2001 - BT-Drucksache 14/6310, S. 6 -.
20
Besondere Anforderungen sind an die im Jahre 1994 abgegebene Erklärung nicht zu
stellen, da es sich um die erste der Klägerin zu 1. zuzurechnende Erklärung zu einem
Volkstum handelt. Da keine durch eine zurechenbare Erklärung gegenüber den
staatlichen Behörden belegte Hinwendung der Klägerin zu 1. zum russischen Volkstum
erfolgt ist, handelt es sich um das erstmalige Bekenntnis zu einem Volkstum, hier zum
deutschen Volkstum. Der Klägerin zu 1. kann nicht vorgehalten werden, dass sie die
Änderung der Nationalität nicht früher hat vornehmen lassen. Die von der Beklagten in
diesem Zusammenhang vertretene Auffassung, dies könne hier nicht gelten, weil die
Klägerin zu 1. bis 1993 ausschließlich in dem Bewusstsein der russischen
Volkszugehörigkeit gelebt und ab 1962 ein deutschen Volkszugehörigen damals
verschlossenes Studium der Medizin aufgenommen habe, lässt außer Acht, dass
jedenfalls für den Bereich der ehemaligen Sowjetunion der Vertreibungsdruck der
Angehörigen der deutschen Volksgruppe gemäß § 4 Abs. 1 BVFG bis heute gesetzlich
vermutet wird. Deshalb ist ein erstmals im Jahre 1994 abgegebenes Bekenntnis zum
deutschen Volkstum unabhängig davon vertriebenenrechtlich beachtlich, ob ein
deutscher Volkszugehöriger sich in dieser Zeit das erste Mal mit Erreichen der
Selbständigkeit oder als Erwachsener mangels Gegenbekenntnis erstmals zurechenbar
zum deutschen Volkstum bekannt hat.
21
Schließlich steht dem nicht, wie die Beklagte meint, entgegen, dass die Klägerin zu 1.
jedenfalls nicht die weitere Voraussetzung des § 6 Abs. 2 Satz 5 BVFG erfülle, wonach
aufgrund der Gesamtumstände ihr Wille unzweifelhaft sein müsse, der deutschen
Volksgruppe und keiner anderen anzugehören. Denn hierbei verkennt die Beklagte,
22
dass das Bekenntnis der Klägerin zu 1. zum deutschen Volkstum sich nicht im Wege der
Fiktion nach der genannten Vorschrift, sondern daraus ergibt, dass sie sich ohne
vorheriges Gegenbekenntnis zu einem nichtdeutschen Volkstum im Jahre 1994
erstmals ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt hat. In diesem Fall ist jedoch
die Feststellung entbehrlich, ob auch der Wille der deutschen Volkszugehörigkeit
anzugehören unzweifelhaft zum Ausdruck gekommen ist.
Der Aufnahmeanspruch der Klägerin zu 1. scheitert auch nicht an § 6 Abs. 2 Satz 2
BVFG. Zwar kann der Senat nicht feststellen, dass die Klägerin zu 1. aufgrund familiärer
Vermittlung zumindest ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen kann. Denn die
"familiäre Vermittlung der deutschen Sprache" setzt voraus, dass die deutsche Sprache
dem Aufnahmebewerber grundsätzlich von Geburt an bis zum Erreichen der
Selbständigkeit vermittelt worden sein muss. Während sich in der Anfangszeit die
Sprachvermittlung insbesondere in Form der Nachahmung der von den Eltern, einem
Elternteil oder anderen Bezugspersonen gesprochenen Sprache vollzieht, wird sie im
Laufe der Jahre in eine Verfestigung der gelernten Sprache und eine Vertiefung und
Erweiterung der Sprachkenntnisse durch fortgesetzten Sprachgebrauch übergehen.
Dabei müssen die Eltern oder andere Bezugspersonen ihre vorhandenen deutschen
Sprachkenntnisse möglichst umfassend an das Kind weitergeben und die Sprache
muss im Sprachgebrauch der Familie zumindest Gewicht gehabt haben.
23
Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 19. Oktober 2000 - 5 C 44.99 -,
BVerwGE 112, 112.
24
Diese Voraussetzung erfüllt die Klägerin zu 1. schon deshalb nicht, weil ihr die deutsche
Sprache nach dem Tod der Mutter im Jahr 1947 nicht mehr von einem
Familienangehörigen vermittelt worden ist. Im Zeitpunkt des Todes der Mutter war die
Klägerin zu 1. erst vier Jahre alt. Ihre heute vorhandenen Deutschkenntnisse beruhen
deshalb praktisch ausschließlich auf einem fremdsprachlichen Spracherwerb.
25
Das Bestätigungsmerkmal der deutschen Sprache im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 2
BVFG ist hier jedoch entbehrlich, weil zugunsten der Klägerin zu 1. die Fiktion des § 6
Abs. 2 Satz 4 BVFG eingreift. Nach dieser Regelung entfällt die Feststellung der
familiären Vermittlung der deutschen Sprache, wenn sie wegen der Verhältnisse in dem
jeweiligen Aussiedlungsgebiet nicht möglich oder nicht zumutbar war. Der Senat geht in
ständiger Rechtsprechung davon aus, dass Deutsch auch im Gebiet Kiew bei der
Kommunikation zumindest innerhalb des häuslichen Bereichs grundsätzlich ohne die
Befürchtung von Diskriminierungen oder Benachteiligungen jederzeit und überall
möglich war.
26
Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteile
vom 7. Juli 1997 - 2 A 4674/94 - und vom 3. März 1999 - 2 A 474/97 -.
27
Da aber außerhalb der Familie jedenfalls seit Kriegsbeginn am 22. Juni 1941 eine
Vermittlung nicht zumutbar war, ist eine Unmöglichkeit der Vermittlung im Sinne des § 6
Abs. 2 Satz 4 BVFG anzunehmen, wenn aufgrund von Krieg und Verfolgung eine
Weitergabe in der Familie nicht erfolgen konnte, weil kein Angehöriger vorhanden war,
der die deutsche Sprache hätte entsprechend vermitteln können. Personen, die kriegs-
oder verfolgungsbedingt von allen deutschsprechenden Angehörigen getrennt worden
sind, hatten in der Regel keine Möglichkeit, in der Familie die deutsche Sprache zu
erlernen bzw. weiter zu gebrauchen oder die erworbenen Kenntnisse zu vertiefen und
28
zu festigen.
Vgl. OVG NRW, Urteile vom 22. September 1999 - 2 A 2994/97 - und vom 21. Februar
2001 - 2 A 2673/99 -.
29
Dies trifft für die Klägerin zu 1. zu, weil sie seit der Verhaftung ihres Vaters im Jahr 1945
und dem Tod der Mutter im Jahr 1947 ohne eine Deutsch sprechende Bezugsperson
zunächst in einem Waisenhaus und nach ihrer Adoption in einer russischen Familie
gelebt hat. Das Erlernen bzw. die erforderliche Vertiefung der deutschen Sprache bis
zum Erreichen der Selbständigkeit in der Familie war ihr damit nicht möglich.
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Die Trennung von der Familie hatte ihre Ursache auch in Krieg und Vertreibung. Der
Vater, der bis Kriegsende in der Wehrmacht gekämpft hatte, ist in der Sowjetunion
wegen seines Einsatzes in der Wehrmacht zu einer 10jährigen Haftstrafe verurteilt und
deswegen von der Familie getrennt worden. Die Mutter ist nach der zwangsweisen
Rückkehr der Familie in die Sowjetunion ("Repatriierung") während der Kommandantur,
unter der die Familie ausweislich der vorgelegten Bescheinigung des Innenministeriums
der Russischen Föderation vom 3. Juni 1994 damals stand, aufgrund der im
Deportationsgebiet herrschenden widrigen Lebensverhältnisse erkrankt und in der
Folge dieser Erkrankung verstorben.
31
Die Klägerin zu 1. erfüllt auch - wie unter den Beteiligten unstreitig - die übrigen in § 4
Abs. 1 BVFG genannten Stichtagsvoraussetzungen, weil sie seit ihrer Geburt im Jahre
1943, abgesehen von dem Zeitraum, in dem sich die Familie aufgrund von
Umsiedlungsmaßnahmen der Deutschen in Deutschland aufgehalten hat, in der
ehemaligen Sowjetunion lebt und somit die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Nr. 1
BVFG gegeben sind.
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Die Klägerinnen zu 2. und 3. haben als Tochter bzw. Enkelin der Klägerin zu 1. gemäß
§ 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG einen Anspruch auf Einbeziehung in den der Klägerin zu 1. zu
erteilenden Aufnahmebescheid.
33
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 167 VwGO,
708 Nr. 10, 711 ZPO.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht vorliegen.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 13 Abs. 1, 14 Abs. 1 in der bis zum 31. De-
zember 2001 geltenden Fassung i.V.m. § 73 GKG.
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