Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 21.03.2000

OVG NRW: ausreise, besondere härte, drucksache, härtefall, vollstreckung, anerkennung, aufenthalt, gefahr, ausländerrecht, aufnahmebewerber

Oberverwaltungsgericht NRW, 2 A 2348/99
Datum:
21.03.2000
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
2. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 A 2348/99
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 17 K 7329/96
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird hinsichtlich der Kläger zu 1), 2) und 4)
geändert, soweit der Klage stattgegeben worden ist.
Auch insoweit wird die Klage abgewiesen.
Die Kläger zu 1), 2) und 4) tragen die Kosten des Berufungsverfahrens
sowie die der Beklagten im ersten Rechtszug auferlegten Kosten zu je
einem Drittel. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen in der
Berufungsinstanz sind nicht erstattungsfähig.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn die Beklagte vor der
Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 24.000,00 DM
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Die Berufung der Beklagten mit dem Antrag,
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das angefochtene Urteil teilweise zu ändern, soweit die Beklagte verpflichtet worden ist,
die Kläger zu 1), 2) und 4) in den Aufnahmebescheid der Klägerin zu 1) einzubeziehen,
und die Klage auch insoweit abzuweisen,
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ist begründet.
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Der Senat entscheidet nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 130 a Satz 1 der
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) durch Beschluss, weil er die Berufung einstimmig
für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Klage ist
auch hinsichtlich des Antrages auf Einbeziehung nicht begründet.
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1. Die Kläger zu 1), 2) und 4) haben keinen Anspruch auf Einbeziehung in den
Aufnahmebescheid der Mutter der Klägerin zu 1) gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 des
Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge
(Bundesvertriebenengesetz - BVFG) in der seit dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung
der Bekanntmachung vom 2. Juni 1993, BGBl. I S. 829, zuletzt geändert durch das
Gesetz zur Sanierung des Bundeshaushaltes (Haushaltssanierungsgesetz - HSanG -)
vom 22. Dezember 1999, BGBl. I 2534. Nach dieser Vorschrift ist ein Abkömmling einer
Person im Sinne des § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG auf Antrag in deren Aufnahmebescheid
einzubeziehen.
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Die Voraussetzungen des § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG liegen jedoch nicht vor, weil die
Mutter der Klägerin zu 1) das Aussiedlungsgebiet im Dezember 1993 bereits endgültig
verlassen hat. Nach der Rechtsprechung des Senats,
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vgl. Urteil vom 19. Januar 1999 - 2 A 2030/96 -, nicht rechtskräftig,
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kann Bezugsperson für die Einbeziehung nur eine Person im Sinne des § 27 Abs. 1
Satz 1 BVFG sein, die ihren Wohnsitz noch in den Aussiedlungsgebieten hat.
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Denn § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG ist nur auf Ehegatten und Abkömmlinge "von Personen
im Sinne des Satzes 1" anwendbar. Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG wird der
Aufnahmebescheid nur "Personen mit Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten erteilt, die
nach Verlassen dieser Gebiete die Voraussetzungen als Spätaussiedler erfüllen." Die
Verweisung auf "Personen im Sinne des Satzes 1" lässt zwei Auslegungsmöglichkeiten
zu: Zum einen kann sie sich streng vom Wortlaut her umfassend auf die in Satz 1
getroffene Regelung beziehen mit der Folge, dass die Bezugsperson nicht nur nach
Verlassen der Aussiedlungsgebiete die Voraussetzungen als Spätaussiedler erfüllen,
sondern zum Zeitpunkt der Einbeziehung auch noch ihren "Wohnsitz in den
Aussiedlungsgebieten" haben muss. Die Verweisung in § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG kann
aber auch allgemeiner bezogen auf die Person des Aussiedelnden dahin zu verstehen
sein, dass die Einbeziehungsmöglichkeit nur bei den in Satz 1 umschriebenen
Spätaussiedlern im Sinne des § 4 BVFG und nicht bei Personen im Sinne der §§ 1 bis 3
BVFG bestehen soll. Dieser mehrdeutige Wortlaut wird jedoch in der Begründung des
Gesetzentwurfs eindeutig dahingehend erläutert, dass eine Einbeziehung nur dann
möglich sein soll, wenn die Bezugsperson die Aussiedlungsgebiete noch nicht
verlassen hat.
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Vgl. Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Gesetz zur Bereinigung
von Kriegsfolgengesetzen (Kriegsfolgenbereinigungsgesetz - KfbG), BT-Drucksache
12/3212, S. 26; im Ergebnis ebenso, allerdings schon unter Hinweis auf den als
eindeutig so zu verstehenden Wortlaut der Bestimmung, BVerwG, Beschluss vom 27.
April 1999 - 5 B 42.99 -.
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Aus der Systematik der Vorschriften über das Aufnahmeverfahren und dem Zweck des
Bundesvertriebenengesetzes ergibt sich nichts anderes.
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Zwar ist den §§ 7, 8 und 27 BVFG nicht zu entnehmen, dass Bezugsperson und
einbezogene Personen gemeinsam ausreisen müssen - § 8 Abs. 2 BVFG lässt eher
vermuten, dass eine gemeinsame Ausreise nicht erforderlich ist -, das besagt aber
nichts über die Frage, ob und inwieweit vor der Ausreise die erforderlichen Bescheide
vorliegen müssen.
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Der Zweck der Bestimmungen über die Einbeziehung legt es nahe, dass die
Einbeziehung zum Zeitpunkt der Ausreise der Bezugsperson bereits vorgenommen
worden sein muss. Die Einbeziehung von Ehegatten und Abkömmlingen, die einen
Status nach dem Bundesvertriebenengesetz erwerben, ohne die materiellen
Voraussetzungen der §§ 4 und 6 BVFG zu erfüllen, wird allein dadurch gerechtfertigt,
dass eine enge familiäre Bindung zur Bezugsperson auch aufgrund eines gemeinsam
erlittenen Vertreibungsschicksals besteht, die nicht zerstört werden soll. Dies zeigt auch
die Regelung in § 27 Abs. 1 Satz 3 BVFG, nach der die Einbeziehung eines Ehegatten
von Gesetzes wegen ihre Wirkung verliert, wenn die Ehe aufgelöst wird, bevor beide
Ehegatten die Aussiedlungsgebiete verlassen haben. Dem Zweck des Gesetzes
widerspräche es, wenn eine Einbeziehung von Personen, die selbst nicht
Spätaussiedler werden, auch dann möglich wäre, wenn ein enger familiärer
Zusammenhalt nicht oder nicht mehr besteht. Würde eine Einbeziehung auch nach der
Ausreise der Bezugsperson noch zugelassen, bestünde für den Nachzug von
Abkömmlingen kaum eine Beschränkung. Noch Jahrzehnte nach der Übersiedlung der
Bezugsperson wären Einbeziehungen möglich, und zwar selbst von Abkömmlingen, die
zum Zeitpunkt der Ausreise der Bezugsperson noch nicht geboren waren. Das ist mit
der Einbeziehungsregelung nicht beabsichtigt.
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2. Die Kläger zu 1), 2) und 4) haben auch keinen Anspruch auf nachträgliche
Einbeziehung als Härtefall. Eine Einbeziehung in den Aufnahmebescheid einer bereits
ausgereisten Bezugsperson ist nachträglich im Wege der Anerkennung als Härtefall
grundsätzlich möglich. Dabei geht der Senat davon aus, dass die in § 27 Abs. 2 BVFG
getroffene Härtefallregelung auch dann anwendbar ist, wenn die Übersiedlung von
Bezugsperson und einzubeziehenden Personen in zeitlicher Hinsicht auseinanderfallen
und zunächst nur die Bezugsperson nach Deutschland übergesiedelt ist.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 8. Dezember 1999 - 2 A 5680/98 -, nicht rechtskräftig.
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Der Gesetzgeber hat diese Fallgestaltungen nicht ausdrücklich berücksichtigt, durch die
Einführung einer allgemein gefassten Härteregelung aber deutlich gemacht, dass ein
Aufenthalt im Bundesgebiet in Härtefällen nicht generell der Erteilung eines
Aufnahmebescheides entgegenstehen soll.
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Vgl. auch BVerwG, Beschlüsse vom 9. März 1999 - 5 B 82.99 - und - 5 B 83.99 - sowie
vom 27. April 1999 - 5 B 41.99 -; ferner die Begründung zum Gesetzentwurf der
Bundesregierung eines Gesetzes zur Regelung des Aufnahmeverfahrens für Aussiedler
(Aussiedleraufnahmegesetz - AAG -), BT- Drucksache 11/6937, S. 6.
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Die Voraussetzungen eines Härtefalles liegen hier aber nicht vor. Ausgangspunkt für die
Auslegung des Begriffs der besonderen Härte im Sinne des § 27 Abs. 2 BVFG ist der
Sinn und Zweck des Aussiedleraufnahmeverfahrens. Dieses dient mit dem Erfordernis
eines Aufnahmebescheides vor dem Verlassen des Aussiedlungsgebietes dem Zweck,
den Zustrom von Aufnahmebewerbern aus den Ostvertreibungsgebieten, der durch die
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dort eingetretenen, mit einer größeren Ausreisefreiheit verbundenen politischen
Veränderungen entstanden ist, durch eine vorläufige Überprüfung der
Aussiedlereigenschaft sowohl im Hinblick auf die mit einer Aufnahme verbundenen
innerstaatlichen Belastungen als auch zum Zweck der Vermeidung unberechtigter, aus
Rechtsgründen nicht zu erfüllender Erwartungen in den Aussiedlungsgebieten in
geordnete Bahnen zu lenken. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass Fälle
auftreten, in denen dieses Regelerfordernis zu unbilligen Ergebnissen führen müsste.
Eine solche Härte kann sich sowohl aus der individuellen Situation des Einzelnen als
auch aus einer dramatischen Veränderung der kollektiven Lage der Deutschen in den
einzelnen Regionen der Aussiedlungsgebiete ergeben. Es darf sich aber nie um eine
Situation handeln, die der Antragsteller oder andere Personen durch ein ihnen
zurechenbares Verhalten mit der Absicht herbeigeführt haben, das Regelerfordernis des
§ 27 Abs. 1 BVFG zu umgehen.
Vgl. BVerwG, Urteile vom 19. April 1994 - 9 C 343.93 -, DVBl 1994, 938, unter
Bezugnahme auf BT-Drucksache 11/6937, S. 5 u. 6. und vom 18. November 1999 - 5 C
8.99 -.
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Das Gesetz trägt insoweit auch der Tatsache Rechnung, dass einem
Aufnahmebewerber, der noch nicht im Sinne des Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes
(GG) in der Bundesrepublik Deutschland Aufnahme gefunden hat, ein Bleiberecht nicht
zusteht und es ihm vom Gesetz in der Regel zugemutet wird, seine Rechte auf
Anerkennung als Vertriebener vom Ausland her wahrzunehmen. Dies gilt nur dann
nicht, wenn die Ausreisepflicht dem Betroffenen die Möglichkeit nehmen würde oder
unzumutbar erschwerte, sein Vertriebenenanerkennungsverfahren wirkungsvoll
weiterzubetreiben und bei einer ihm günstigen Entscheidung endgültig wieder in das
Bundesgebiet einzureisen. Denn die Verpflichtung, die Durchsetzung der
Rechtsstellung vom Ausland her zu betreiben, darf nicht dazu führen, dass der
Vertriebene sein in Art. 116 Abs. 1 GG verbürgtes Recht nicht wahrnehmen kann.
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Vgl. BVerfG, Beschluss vom 9. August 1990 - 2 BvR 1782/88 -, Informationsbrief
Ausländerrecht 1990, 297 f.; BVerwG, Beschluss vom 11. Juli 1994 - 9 B 288.94 -, DVBl.
1995, 568.
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In der vorliegenden Fallgestaltung, in der die in Betracht zu ziehende Bezugsperson
bereits mit Aufnahmebescheid nach Deutschland übergesiedelt ist und die
einzubeziehenden Personen ihren Anspruch auf Einbeziehung vom
Aussiedlungsgebiet aus geltend machen, ist folglich ein Härtefall anzunehmen, wenn es
der Mutter der Klägerin zu 1) als Bezugsperson nach Erteilung des
Aufnahmebescheides nicht mehr zumutbar war, die Einbeziehung der Kläger im
Aussiedlungsgebiet abzuwarten, weil sie Gefahr lief, anderenfalls ihr Recht aus Art. 116
Abs. 1 GG zu verlieren. Danach kommt eine nachträgliche Einbeziehung als Härtefall
nur dann in Betracht, wenn die einzubeziehenden Personen zum Zeitpunkt der Ausreise
der Bezugsperson ihre Einbeziehung bereits beantragt hatten. Davon geht auch die
Begründung zum Gesetzentwurf aus, nach der die Nachholung einer Einbeziehung im
Härteweg "nur zulässig (ist), wenn bei rechtzeitiger Antragstellung eine Eintragung nach
§ 27 Abs. 1 möglich gewesen wäre."
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Vgl. BT-Drucksache 12/3212, S. 26.
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Denn nur dann steht die Bezugsperson vor der Frage, ob sie die Erteilung des
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Einbeziehungsbescheides im Aussiedlungsgebiet abwartet und dadurch
möglicherweise ihre Rechte aus Art. 116 Abs. 1 GG nicht mehr geltend machen kann.
Die Kläger zu 1), 2) und 4) haben ihren Aufnahmeantrag jedoch erst am 24. Mai 1994
gestellt, nachdem die Mutter der Klägerin zu 1) bereits am 16. Dezember 1993 das
Aussiedlungsgebiet verlassen hatte und in die Bundesrepublik Deutschland eingereist
war. Dabei war eine Einbeziehung in den Aufnahmebescheid der Mutter der Klägerin zu
1) zunächst gar nicht beabsichtigt; die Kläger wollten vielmehr einen Aufnahmebescheid
nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG erlangen, der eine Einbeziehung des Klägers zu 3) als
Ehegatte gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG ermöglicht hätte, während der Kläger zu 3)
bei einer Einbeziehung der Klägerin zu 1) in den Aufnahmebescheid ihrer Mutter nur als
Familienangehöriger nach § 8 Abs. 2 BVFG hätte aufgeführt werden können. Erst mit
Schriftsatz vom 15. Juli 1997 haben sich die Kläger erstmals nach der Möglichkeit
erkundigt, die Klägerin zu 1) einzubeziehen und den Kläger zu 3) (nur) als
Familienangehörigen im Sinne des § 8 Abs. 2 BVFG aufzuführen. Da die Kläger zum
Zeitpunkt der Ausreise der Mutter der Klägerin zu 1) ihre Aufnahme und speziell eine
Einbeziehung noch nicht beantragt hatten, konnte sich für die Mutter der Klägerin zu 1)
zum Zeitpunkt der Ausreise nicht die Frage stellen, ob sie eine Einbeziehung ihrer
Tochter und deren Familie noch im Herkunftsgebiet abwarten konnte oder nicht.
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Abgesehen davon liegen auch die Voraussetzungen der besonderen Härte gemäß § 27
Abs. 2 BVFG nicht vor. Die Kläger haben sich insoweit allein darauf berufen, dass die
Mutter der Klägerin zu 1) ihre eigene 1910 geborene, kranke Mutter habe begleiten
müssen, der ein weiterer Aufenthalt im Aussiedlungsgebiet nicht zumutbar gewesen sei
und die nicht allein habe ausreisen können. Eine besondere Härte liegt insoweit aber
schon deswegen nicht vor, weil die Mutter der Klägerin zu 1) nicht mit ihrer Mutter
zusammen ausgereist ist. Vielmehr ist deren Mutter erst am 22. Januar 1994 zusammen
mit einer anderen Tochter eingereist; außerdem hat diese nicht am gleichen Ort wie die
Mutter der Klägerin zu 1) ihren Wohnsitz genommen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 1, 162 Abs. 3 VwGO iVm §
100 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht gemäß §
167 VwGO iVm §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht vorliegen.
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Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 14 Abs. 1, 13 Abs. 1 GKG.
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