Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 16.10.1996

OVG NRW: öffentliches interesse, wiederholungsgefahr, verdacht, vollziehung, delikt, kreis, verfügung, anzeige, konkretisierung, grundrechtseingriff

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Vorinstanz:
Oberverwaltungsgericht NRW, 5 B 2205/96
16.10.1996
Oberverwaltungsgericht NRW
5. Senat
Beschluss
5 B 2205/96
Verwaltungsgericht Münster, 1 L 762/96
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluß des
Verwaltungsgerichts Münster vom 19. August 1996 wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 4.000,-- DM
festgesetzt.
G r ü n d e :
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf
Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zu Recht abgelehnt.
Formelle Bedenken gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung bestehen nicht. Das
Verwaltungsgericht hat unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des erkennenden
Gerichts zutreffend ausgeführt, daß die notwendige Begründung der
Vollziehungsanordnung jedenfalls mit heilender Wirkung nachgeholt worden ist. Auf diese
Ausführungen, die vom Antragsteller im Beschwerdeverfahren nicht in Frage gestellt
worden sind, kann zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen werden.
Die gemäß § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Abwägung zwischen dem privaten
Interesse des Betroffenen, von der sofortigen Vollziehung bis zum Abschluß des
Hauptsacheverfahrens verschont zu bleiben, und dem öffentlichen Interesse an
schnellstmöglicher Durchsetzung der Anordnung, erkennungsdienstliche Maßnahmen zu
dulden, fällt zu Lasten des Antragstellers aus.
Die angefochtene Verfügung vom 1. August 1996 leidet nicht an offensichtlichen
Rechtsfehlern, die das öffentliche Interesse an ihrem sofortigen Vollzug von vornherein
ausschließen würden. Es spricht vielmehr nach der in diesem vorläufigen
Rechtsschutzverfahren allein möglichen summarischen Prüfung vieles dafür, daß die
Anordnung von erkennungsdienstlichen Maßnahmen im Hauptsacheverfahren Bestand
haben wird. Die Verfügung des Antragsgegners findet ihre Rechtsgrundlage in § 81 b 2.
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Alternative StPO. Danach dürfen Lichtbilder und Fingerabdrücke des Beschuldigten auch
gegen seinen Willen aufgenommen und Messungen und ähnliche Maßnahmen an ihm
vorgenommen werden, soweit dies für Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig ist. Die
Notwendigkeit der Anfertigung und Aufbewahrung von erkennungsdienstlichen Unterlagen
bemißt sich danach, ob der anläßlich des gegen den Betroffenen gerichteten Ermittlungs-
oder Strafverfahrens festgestellte Sachverhalt nach kriminalistischer Erfahrung angesichts
aller Umstände des Einzelfalls - insbesondere angesichts der Art, Schwere und
Begehungsweise der dem Betroffenen zur Last gelegten Straftaten, seiner Persönlichkeit
sowie unter Berücksichtigung des Zeitraums, während dessen er strafrechtlich nicht (mehr)
in Erscheinung getreten ist - Anhaltspunkte für die Annahme bietet, daß der Betroffene
künftig mit guten Gründen als Verdächtiger in den Kreis potentieller Beteiligter an einer
strafbaren Handlung einbezogen werden könnte und daß die erkennungsdienstlichen
Unterlagen die dann zu führenden Ermittlungen fördern könnten, indem sie den Betroffenen
überführen oder entlasten.
Ständige Rechtsprechung, vgl. BVerwG, Beschluß vom 6. Juli 1988 - 1 B 61.88 -, Buchholz
306, § 81 b StPO Nr. 1 m.w.N.
Dies erfordert eine Abwägung zwischen dem Interesse der Öffentlichkeit an einer effektiven
Verhinderung und Aufklärung von Straftaten und dem Interesse des Betroffenen,
entsprechend dem Menschenbild des Grundgesetzes nicht bereits deshalb als potentieller
Rechtsbrecher behandelt zu werden, weil er sich irgendwie verdächtig gemacht hat oder
angezeigt worden ist. Im Rahmen der Abwägung ist insbesondere danach zu
differenzieren, in welchem Umfang Verdachtsmomente gegen den Betroffenen bestehen.
Sind die für das Ermittlungsverfahren bestimmenden Verdachtsmomente ausgeräumt, sind
erkennungsdienstliche Maßnahmen nicht mehr notwendig im Sinne des § 81 b 2.
Alternative StPO. Ist das nicht der Fall, kommt es entscheidend darauf an, welcher Art das
Delikt ist, auf das sich die bestehenden Verdachtsmomente beziehen. Je schwerer ein
Delikt wiegt, je höher der Schaden für die geschützten Rechtsgüter und die Allgemeinheit
zu veranschlagen ist und je größer die Schwierigkeiten einer Aufklärung einzustufen sind,
desto mehr Gewicht erlangt das oben beschriebene öffentliche Interesse.
Vgl. Senatsurteile vom 25. Juni 1991 - 5 A 1257/90 - und vom 29. November 1994 - 5 A
2234/93 -.
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Anordnung der erkennungsdienstlichen
Behandlung nicht zu beanstanden. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend dargelegt, daß
nach den bisherigen, dem Senat vorgelegten Ermittlungsergebnissen ein erheblicher
Verdacht gegen den Antragsteller besteht, daß dieser jedenfalls seine Tochter in einem
Zeitraum von mehreren Jahren sexuell mißbraucht hat. Dieser Verdacht gründet nicht nur
auf der Anzeige und Zeugenvernehmung der Mutter, in der diese ausführlich sowohl die
Entwicklung der Beziehung zwischen ihr, dem Antragsteller und den gemeinsamen
Kindern als auch die verschiedenen Hinweise auf den sexuellen Mißbrauch der Tochter
schildert. Vielmehr hat die Tochter selbst in ihrer Vernehmung die Vorwürfe im einzelnen
bestätigt. Gegen die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage bestehen nach dem bisherigen Stand
des Ermittlungsverfahrens keine durchgreifenden Bedenken. Im Rahmen der im
vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung ist insbesondere nicht
erkennbar, daß die umfangreichen und detaillierten Angaben des Kindes nicht auf selbst
erlebten Ereignissen, sondern auf "Vorgaben" der Mutter beruhen.
Angesichts des Umstandes, daß im Bereich der Sexualstraftaten allgemein eine erhebliche
Wiederholungsgefahr besteht und der Antragsteller verdächtig ist, sein Kind über einen
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längeren Zeitraum mißbraucht zu haben, rechtfertigen es kriminalistische Erfahrungen und
Erkenntnisse, ihn als Verdächtigen in den Kreis von potentiellen Tätern noch
aufzuklärender Handlungen dieser oder ähnlicher Art einzubeziehen.
Bei der weiteren, über die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren hinausgehenden
Interessenabwägung überwiegt ebenfalls das öffentliche Interesse. Im Rahmen dieser
Abwägung sind insbesondere die Schwere und Begehungsweise des Delikts, der Umfang
des Schadens für die geschützten Rechtsgüter und für die Allgemeinheit, die
Wiederholungsgefahr, die Schwierigkeit bei der Aufklärung des in Rede stehenden
Deliktstyps, die Konkretisierung des gegen den Beschuldigten gerichteten Verdachts sowie
die Häufigkeit der Fälle, in denen der Betroffene einer Straftat verdächtigt worden ist, zu
berücksichtigen.
Vgl. Senatsbeschluß vom 14. Juli 1994 - 5 B 2686/93 -.
Der vom Antragsgegner beabsichtigte Grundrechtseingriff ist zwar gravierend, aber dem
Antragsteller zuzumuten, da angesichts der dargelegten Wiederholungsgefahr der
körperlichen und psychischen Integrität von Kindern erhebliche Gefahren drohen.
Insbesondere die konkrete Vorgehens- und Begehungsweise sowie die Dauer des
vorgeworfenen sexuellen Mißbrauchs durch den Antragsteller begründen ein öffentliches
Interesse von besonderem Gewicht, das das private Interesse überwiegt. Zudem ist die
Aufklärung von Sexualdelikten gegenüber Kindern ohne erkennungsdienstliche Unterlagen
erheblich erschwert.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf
§ 20 Abs. 3, § 13 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).