Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 14.08.2007

OVG NRW: wiedereinsetzung in den vorigen stand, uvg, entlastung, deckung, aufteilung, zuwendung, notlage, anzeige, unterlassen, versorgung

Oberverwaltungsgericht NRW, 16 E 858/05
Datum:
14.08.2007
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
16 E 858/05
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 26 K 2466/05
Tenor:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des gerichtskostenfreien
Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.
Gründe:
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Die Beschwerde der Klägerin ist zurückzuweisen. Es kann offen bleiben, ob hinsichtlich
der versäumten Beschwerdefrist die Voraussetzungen der Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand glaubhaft gemacht worden sind. Denn die Beschwerde erweist sich
jedenfalls als unbegründet, weil die Klage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 166
VwGO iVm § 114 ZPO) bietet. Es besteht nicht mehr als eine entfernte Möglichkeit, dass
die Klägerin mit ihrer Anfechtungsklage gegen den ihre Ersatzpflicht festsetzenden
Bescheid des Beklagten durchdringt, und es stellen sich in diesem Zusammenhang
auch keine klärungsbedürftigen Rechts- oder Tatsachenfragen.
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Das Verwaltungsgericht ist in Übereinstimmung mit dem Widerspruchsbescheid der
Bezirksregierung L. zutreffend davon ausgegangen, dass die beiden jüngeren Kinder
der Klägerin B. und D. in der Zeit vom 1. März 2003 bis zum 30. November 2004 keinen
Anspruch auf Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz hatten. Nach § 1 Abs. 1
Nr. 2 UVG setzt dieser Anspruch unter anderem voraus, dass das unterhaltsberechtigte
Kind bei einem seiner Elternteile lebt, der ledig, verwitwet oder geschieden ist oder von
seinem Ehegatten dauernd getrennt lebt, also ein Fall des Alleinerziehens vorliegt. An
einem Alleinerziehen fehlt es hingegen, wenn sich nicht feststellen lässt, dass das
jeweils anspruchstellende Kind nicht nur bei einem Elternteil lebt, sondern daneben
auch bei dem anderen Elternteil bzw. bei diesem nahestehenden dritten Personen, so
dass nicht mehr eindeutig bestimmbar ist, wo der Mittelpunkt der Lebensbeziehungen
des Kindes liegt. In der Regel führen nur solche Aufenthalte beim anderen Elternteil
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oder bei Dritten zu einer Verlagerung oder Unbestimmbarkeit des Lebensmittelpunktes
des Kindes und damit zum Ausschluss des Anspruchs auf
Unterhaltsvorschussleistungen, die einen gewissen Umfang erreichen und
insbesondere über das übliche Maß von Besuchsaufenthalten beim anderen Elternteil
hinausgehen. Neben dem zeitlichen Verhältnis der Aufenthalte beim primär
sorgeberechtigten, seinem Anspruch nach alleinerziehenden Elternteil einerseits und
beim anderen Elternteil oder Dritten andererseits kommt es auch auf die Intensität der
jeweiligen Betreuungs- und Erziehungsleistungen an, also darauf, bei wem neben den
materiellen Grundbedürfnissen wie Essen, Kleidung und Unterbringung für die Ordnung
und Gestaltung des Tagesablaufs gesorgt wird, wer die Verantwortung für - etwa - den
Besuch von Kindergarten und Schule oder für die (kinder-)ärztliche Versorgung trägt,
durch wen Kontakte zu weiteren Personen, insbesondere Verwandten und Freunden,
vermittelt werden, wo die wesentlichen Freizeitaktivitäten entfaltet werden und bei wem
das Kind im Wesentlichen emotionale Zuwendung erfährt. Dabei setzt die Verneinung
des Merkmals "alleinerziehend" nicht voraus, dass die Erziehungs- und
Betreuungsanteile in quantitativer und qualitativer Hinsicht gleich sind. Im Hinblick auf
den Zweck des § 1 UVG, die Belastungen für Kinder zu mildern, die bei einem
alleinerziehenden Elternteil leben, lassen sich Erschwernisse, die eine finanzielle
Besserstellung erfordern, schon dann nicht mehr feststellen, wenn der andere Elternteil
in wesentlichem Umfang - wenn auch nicht völlig gleichwertig - an der erzieherischen
Leistung mitwirkt.
Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 27. Februar 2004 - 16 A 913/01 - und vom 24. Mai
2005 - 16 A 3609/04.
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Vorliegend ist zwischen den Beteiligten nicht streitig, dass sich die Kinder B. und D. im
streitbefangenen Leistungszeitraum zwar überwiegend bei ihrer Mutter, aber auch in
erheblichem Umfang bei ihrem Vater bzw. bei dessen Mutter aufgehalten haben. Diese
Aufenthalte beliefen sich im Wesentlichen auf zwei oder drei Tage in der Woche. Es ist
auch nichts dafür ersichtlich, dass die Aufenthalte der Kinder beim Vater bzw. der
Großmutter ein bloßes Verweilen - unter Deckung lediglich der elementarsten
Bedürfnisse - dargestellt haben. Dass die Kinder zwischen den Tagen, an denen sie
sich bei ihrem Vater aufgehalten haben, nicht bei diesem, sondern bei der Großmutter
übernachtet haben, ändert nichts daran, dass jedenfalls die Mutter der Kinder auch
während dieser Nachtzeiten nicht betreuend zur Stelle sein musste und eine
entsprechende Entlastung erfahren hat.
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Ob der zusätzliche Umstand, dass ein weiteres gemeinsames Kind der Klägerin und
ihres geschiedenen Ehemannes, der 1994 geborene Sohn D1. , bei seinem Vater wohnt
und demnach wohl auch von diesem in materieller Hinsicht versorgt wird, unter dem
Aspekt der "Aufteilung" unterhaltsberechtigter Kinder und einer demzufolge
möglicherweise anzunehmenden - ausdrücklichen oder stillschweigenden -
Gesamtregelung über die Verteilung der Kindesunterhaltslast von Bedeutung ist, ob mit
anderen Worten auch unter diesen Voraussetzungen das Ausbleiben von
Unterhaltszahlungen für die - überwiegend - in der Obhut der Klägerin verbliebenen
Kinder iSv § 1 Abs. 1 Nr. 3 lit. a UVG als "planwidrig" und eine besondere Notlage
begründend einzustufen ist,
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vgl. dazu VGH Baden-Württ., Urteil vom 8. November 1995 - 6 S 1945/95 -, NJW 1996,
946; Hessischer VGH, Beschluss vom 1. Juli 2004 - 10 ZU 1802/03 -, FamRZ 2005, 483
= NDV-RD 2005, 19,
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kann nach dem Vorstehenden offen bleiben.
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Schließlich spricht auch weit Überwiegendes dafür, dass die Voraussetzungen der
Ersatzpflicht nach § 5 Abs. 1 UVG erfüllt sind, wobei dahinstehen kann, ob auf das
Unterlassen einer Anzeige hinsichtlich der Aufenthaltszeiten der Kinder bei ihrem Vater
(§ 5 Abs. 1 Nr. 1 UVG) oder auf eine fahrlässige Unkenntnis der Klägerin über das
Fehlen der Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von
Unterhaltsvorschussleistungen (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 UVG) abzustellen ist. Der Klägerin
musste schon im Hinblick auf die bei der Antragstellung zu beantwortenden Fragen klar
sein, dass die Aufenthaltsverhältnisse ihrer jüngeren Kinder für den Anspruch auf
Unterhaltsvorschussleistungen von Bedeutung waren und dass sie diesbezügliche
Änderungen dem Beklagten mitteilen musste. Selbst wenn ihr nicht deutlich gewesen
sein sollte, ob die Zeiten, die ihre Kinder B. und D. beim Kindesvater bzw. der
Großmutter verbracht haben, bereits zur Verneinung des Merkmals "alleinerziehend"
geführt haben, oblag es ihr aufgrund der sich insoweit zumindest aufdrängenden Zweifel
jedenfalls, dem Beklagten Mitteilung über die Aufenthaltsverhältnisse ihrer Kinder zu
machen und so die Möglichkeit einer Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen zu
verschaffen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 188 Satz 2 VwGO sowie auf § 166 VwGO iVm §
127 Abs. 4 ZPO.
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Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.
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