Urteil des OVG Niedersachsen vom 21.06.2013

OVG Lüneburg: kostenbeitrag, satzung, tagespflege, verwaltung, vervielfältigung, genehmigung, niedersachsen, datenschutz, zustellung, entlastung

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Kostenbeitragssatzung für Kindertagespflege
1. Auch für die Erhebung von Kostenbeiträgen für die Kindertagespflege nach
§ 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII gilt der sich aus Art. 3 Abs. 1 GG ergebende
Grundsatz der Abgabengerechtigkeit.
2. Ein Verstoß gegen diesen Grundsatz liegt dann vor, wenn der nach der
Kostenbeitragssatzung höchste Kostenbeitrag die anteilsmäßigen
rechnerischen Kosten der Leistung des öffentlichen Jugendhilfeträgers
erheblich übersteigt.
OVG Lüneburg 4. Senat, Beschluss vom 21.06.2013, 4 LA 102/12
§ 5 KAG ND, § 1 KAG ND, § 23 Abs 1 S 1 SGB 8, § 90 Abs 1 S 1 Nr 3 SGB 8, § 90
Abs 1 S 2 SGB 8
Gründe
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung ist begründet, weil
ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des klageabweisenden Urteils des
Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bestehen.
Diese ergeben sich daraus, dass die Satzung des Landkreises Stade über die
Erhebung von Kostenbeiträgen für die Kindertagespflege vom 22. Juni 2009
(KBS), aufgrund derer der Beklagte durch den teilweise angefochtenen
Bescheid vom 30. Juni 2011 einen Kostenbeitrag für die Betreuung des Kindes
der Klägerin in der Kindertagespflege festgesetzt hat, entgegen der Annahme
des Verwaltungsgerichts nichtig ist.
Das Verwaltungsgericht hat zwar zutreffend festgestellt, dass das
Niedersächsische Kommunalabgabengesetz (NKAG) hier nicht anwendbar ist,
weil Kostenbeiträge für die Kindertagespflege gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB
VIII, deren Erhebung Gegenstand der KBS ist, keine Steuern, Gebühren oder
Beiträge im Sinne des § 1 NKAG, insbesondere keine Benutzungsgebühren im
Sinne des § 5 NKAG, die für die Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen
erhoben werden, sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 25.4.1997 - 5 C 6.96 -, FEVS 48,
16, zu der Erhebung von Teilnahmebeiträgen oder Gebühren für
Kindertageseinrichtungen; Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl. 2011, § 90 Rn. 6).
Letzteres ergibt sich auch schon daraus, dass bei der Kindertagespflege eine
öffentliche Einrichtung als Zusammenfassung personeller Kräfte und sachlicher
Mittel in der Hand eines Trägers öffentlicher Verwaltung zur dauernden
Wahrnehmung bestimmter Aufgaben der öffentlichen Verwaltung (vgl.
Rosenzweig/Freese/von Waldthausen, NKAG, Stand: Dezember 2012, § 5 Rn.
31 m.w.N.) nicht besteht. Allerdings handelt es sich auch bei Kostenbeiträgen
gemäß § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII um (auch) der Finanzierung der
öffentlichen Jugendhilfe dienende öffentliche Abgaben (vgl. Senatsbeschluss
vom 20.1.2009 - 4 ME 3/09 - zu der vom Senat bejahten Frage, ob
Kostenbeiträge gemäß §§ 91 ff. SGB VIII öffentliche Abgaben im Sinne des § 80
Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind) “eigener Art“ (vgl. hierzu OVG Münster, Beschluss vom
9.7.2012 - 12 A 778/12 -; Driehaus, Kommunalabgabenrecht, Stand: März 2013,
Teil III § 6 Rn. 496 a; Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 6. Aufl. 2009, § 90
Rn. 1; Wiesner, SGB VIII, § 90 Rn. 6). Es gilt daher auch für die Erhebung von
Kostenbeiträgen nach § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII der sich aus Art. 3 Abs.
1 GG ergebende Grundsatz der Abgabengerechtigkeit (vgl. BVerfG, Beschluss
vom 10.3.1998 - 1 BvR 178/97 -, BVerfGE 97, 332; Driehaus,
Kommunalabgabenrecht, Teil III § 6 Rn. 496 f). Dieser ist bei einer
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Kostenbeitragstaffelung nach dem Einkommen der Kostenbeitragspflichtigen
gemäß § 90 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII gewahrt, wenn auch der in Relation zu dem
Umfang der Leistung des Jugendhilfeträgers höchste Kostenbeitrag die
anteilsmäßigen rechnerischen Kosten dieser Leistung nicht übersteigt (vgl.
BVerfG, Beschluss vom 10.3.1998 - 1 BvR 178/97 -; Driehaus,
Kommunalabgabenrecht, Teil III § 6 Rn. 496 f), da unter dieser Voraussetzung
allen Kostenbeitragspflichtigen im Ergebnis ein vermögenswerter Vorteil
zugewendet wird und auch die Kostenbeitragspflichtigen, die einen relativ hohen
Kostenbeitrag zahlen, nicht zusätzlich und voraussetzungslos zur Finanzierung
allgemeiner Lasten und vor allem nicht zur Entlastung sozial schwächerer
Kostenbeitragspflichtiger herangezogen werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom
10.3.1998 - 1 BvR 178/97 -). Ein Verstoß gegen diesen Grundsatz (und auch
gegen das Äquivalenzprinzip) liegt aber jedenfalls dann vor, wenn der höchste
Kostenbeitrag die anteilsmäßigen rechnerischen Kosten der Leistung des
öffentlichen Jugendhilfeträgers erheblich übersteigt (vgl. Driehaus,
Kommunalabgabenrecht, Teil III § 6 Rn. 496 f).
Der Grundsatz der Abgabengerechtigkeit ist hier durch die KBS des Beklagten
verletzt, weil danach in einem Teil der durch diese Satzung geregelten Fälle
Kostenbeiträge festzusetzen sind, die den Wert der Leistung (Tagespflege) nach
der eigenen Kalkulation des Beklagten teilweise erheblich übersteigen. Nach der
Verwaltungsvorlage (u. a.) für die Sitzung des Kreistages des Beklagten am 22.
Juni 2009, in der die KBS beschlossen worden ist, betragen die Gesamtkosten
der Tagespflege für ein Kind bei einer nach der Kostenbeitragstabelle in der
Anlage zu § 4 der KBS mittleren monatlichen Betreuungszeit von 110 Stunden
505 EUR im Monat (110 Stunden x 3,50 EUR je Stunde = 385 EUR
Tagespflegegeld zuzüglich 120 EUR anteilige Sozialversicherungsbeiträge).
Diesen Kosten steht nach der in dieser Verwaltungsvorlage angeführten
Beispielsrechnung bei einem nach der genannten Kostenbeitragstabelle
mittleren Jahresnettoeinkommen von 25.000 EUR gemäß dieser Tabelle
(Jahreseinkommen von 24.000 EUR bis 29.000 EUR = Stufe 4, monatliche
Betreuungszeit von 100 bis 119 Stunden) ein Kostenbeitrag von monatlich 151
EUR gegenüber. Umgerechnet auf die einzelne Betreuungsstunde beträgt der
Kostenbeitrag 1,37 EUR (151 EUR : 110 Stunden = 1,37 EUR). Damit werden
nach der Verwaltungsvorlage 30 % der Gesamtkosten der Kindertagespflege
von monatlich 505 EUR im Falle einer monatlichen Betreuungszeit von 110
Stunden gedeckt. Daraus ergibt sich, dass bei einem Kostenbeitrag von 4,59
EUR je Betreuungsstunde die Gesamtkosten der Kindertagespflege etwa zu
100 % gedeckt wären (110 Stunden x 4,59 EUR = 504,90 EUR Kostenbeitrag).
Bei einem Betreuungsumfang von 20 Stunden im Monat und einem
Jahreseinkommen von über 48.000 EUR (Einkommensstufe 8) muss nach der
Tabelle in der Anlage zu § 4 der KBS allerdings ein Kostenbeitrag von 142 EUR
im Monat geleistet werden. Umgerechnet auf die einzelne Betreuungsstunde
beträgt der Kostenbeitrag 7,10 EUR. Dieser Kostenbeitrag übersteigt den nach
der Kalkulation des Beklagten kostendeckenden Kostenbeitrag von 4,59 EUR je
Stunde um 55 % und damit in einem ganz erheblichen Umfang. Auch bei einem
Betreuungsumfang von 30 Stunden im Monat liegt der in der Einkommensstufe
8 zu zahlende Kostenbeitrag von monatlich 142 EUR noch über den anteiligen
tatsächlichen Kosten, da in diesem Falle umgerechnet auf die einzelne
Betreuungsstunde 4,73 EUR zu zahlen sind. Auch in den Einkommensstufen 6
und 7 und bei einem Betreuungsumfang von 20 Stunden im Monat übersteigt
der nach der KBS zu zahlende Kostenbeitrag die anteiligen tatsächlichen
Kosten. Denn noch in der Einkommensstufe 6 muss bei einem
Betreuungsumfang von 20 Stunden im Monat ein Kostenbeitrag von 101 EUR,
also 5,05 EUR je Stunde, geleistet werden. Dies gilt schließlich auch für einen
Betreuungsumfang von 40 Stunden im Monat in der Einkommensstufe 8, da in
diesem Falle ein Kostenbeitrag von 186 EUR, also 4,65 EUR je Stunde, nach
der KBS zu leisten ist. Diese Fälle von zum Teil erheblichen
Kostenüberschreitungen, die sich aus der eigenen Kalkulation des Beklagten
ergeben, zeigen, dass die KBS des Beklagten gegen den Grundsatz der
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Abgabengerechtigkeit verstößt.
Daher ist die KBS des Beklagten nichtig mit der Folge, dass der Bescheid des
Beklagten vom 30. Juni 2011, der auf der KBS beruht, im angefochtenen
Umfang rechtswidrig ist. Dass der Beklagte durch seine Verwaltungspraxis
(“Deckelung“ der sich aus der KBS ergebenden Kostenbeiträge auf die
tatsächlichen Kosten der Kindertagespflege) die Folgen des genannten
Satzungsfehlers nach seinen Angaben ausgleicht, behebt den Satzungsfehler
selbst nicht, da eine Korrektur dieses Fehlers der KBS nur durch den Erlass
einer neuen Satzung bzw. eine Satzungsänderung erfolgen kann.
Das Antragsverfahren wird unter dem neuen Aktenzeichen
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als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht
(§ 124 a Abs. 5 Satz 5 VwGO).
Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu
begründen. Die Begründung ist bei dem Niedersächsischen
Oberverwaltungsgericht, Uelzener Straße 40, 21335 Lüneburg, einzureichen (§
124 a Abs. 6 VwGO).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).