Urteil des HessVGH vom 18.06.1990

VGH Kassel: politische verfolgung, ausreise, wahrscheinlichkeit, entführung, orthodoxe kirche, persönliche freiheit, beschneidung, islam, religionsunterricht, eltern

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
12. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 UE 3002/86
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 16 Abs 2 S 2 GG, § 1
Abs 1 AsylVfG
(Asylrecht Türkei - syrisch-orthodoxe Christen)
Tatbestand
Der laut Paß ... 1954 in Nusaybin, Provinz Mardin, geborene Kläger zu 1) und die
ebenfalls in Nusaybin 1959 geborene Klägerin zu 2) sind Eheleute. Die 1978 in
Istanbul geborene Klägerin zu 3) und der 1979 ebenfalls in Istanbul geborene
Kläger zu 4) sind gemeinsame Kinder der Vorgenannten. Sie alle sind türkische
Staatsangehörige christlichen Glaubens. Der Kläger zu 1) reiste am 29. Juni 1980
mit dem Flugzeug, aus Istanbul kommend, über Frankfurt am Main in die
Bundesrepublik Deutschland ein. Er war im Besitz eines am 12. April 1977 in
Istanbul ausgestellten und bis 28. Mai 1981 gültigen Nationalpasses. Die Kläger zu
2) bis 4) reisten am 17. Mai 1981 über Österreich in die Bundesrepublik
Deutschland ein. Sie waren im Besitz eines am 1. Oktober 1980 in Istanbul
ausgestellten und bis 30. September 1981 gültigen Nationalpasses.
Mit Schriftsatz vom 7. August 1980 beantragte der Kläger zu 1) durch seinen
Bevollmächtigten die Anerkennung als Asylberechtigter mit folgender Begründung:
Er sei als assyrischer Christ in der Türkei verfolgt. Sein Vater sei Landwirt von Beruf
und habe einige Felder und Weinberge bewirtschaftet. Sowohl Felder als auch
Weinberge seien in nahezu regelmäßigen Abständen von Muslimen geplündert
worden. Er, der Kläger zu 1), habe von 1974 bis 1976 seinen Militärdienst
abgeleistet. Während seiner Militärdienstzeit habe man durch Schläge versucht,
ihn "zu bekehren". Er habe sich jedoch immer geweigert, sich von seinem
christlichen Glauben loszusagen. Nach dem Ende seiner Militärdienstzeit habe er
in Ismidt, einer Kleinstadt etwa 90 km von Istanbul entfernt, als Schneider
gearbeitet. Er habe ständig seinen Arbeitgeber wechseln müssen, nachdem
bekanntgeworden sei, daß er Christ sei. 1979 habe er dann selbst ein Geschäft
eröffnet. Auch hierbei habe er erheblichen Ärger mit Muslimen bekommen. Er sei
mehrfach von muslimischen Konkurrenten mit Schlägen bedroht worden. Als er
habe Anzeige erstatten wollen, sei er jeweils von der Polizei weggejagt worden, weil
sie nicht bereit gewesen sei, eine Anzeige entgegenzunehmen. Des weiteren sei er
von Leuten der MHP, insbesondere von deren Organisation, den sogenannten
"Grauen Wölfen", bedroht worden. Er habe insgesamt viermal Geld zahlen müssen,
damit sein Laden nicht überfallen werde. Außerdem sei er auch mehrfach wegen
des Tragens eines Kreuzes von unbekannten muslimischen Türken angesprochen
und auch geschlagen worden.
Mit Schriftsatz vom 3. Juni 1981 beantragten die Kläger zu 2) bis 4) durch ihren
Bevollmächtigten die Anerkennung als Asylberechtigte unter Bezugnahme auf den
Asylantrag des Klägers zu 1) und trugen weiterhin vor: Die Klägerin zu 2) habe in
Istanbul unter Verfolgungen durch Moslems leiden müssen und sich selten auf die
Straße getraut. Auf der Straße sei sie Beschimpfungen und Pöbeleien von
Muslimen ausgesetzt gewesen und habe auch nicht mehr gewagt, ein Kreuz an
einer Halskette zu tragen, da sie durch dieses Kreuz und auch durch ihre Sprache
als assyrische Christin erkannt worden sei. Eine Verwandte von ihr sei etwa zehn
Monate vor ihrer Ausreise von vier Muslimen, als sie sich auf dem Weg von
Nusaybin in ein Nachbardorf befunden habe, überfallen und verschleppt worden,
obwohl sie sich in Begleitung von anderen christlichen Assyrern befunden habe.
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obwohl sie sich in Begleitung von anderen christlichen Assyrern befunden habe.
Die Polizei habe sich jedoch um den Vorfall nicht gekümmert. Auch in Istanbul
seien bei einem Überfall zwei Mädchen christlicher Herkunft entführt worden, die
ihr persönlich bekannt gewesen seien. Auf die Anzeige hin sei aber von der Polizei
nichts unternommen worden.
Anläßlich der am 18. Januar 1982 in aramäischer Sprache durchgeführten
Anhörung im Rahmen der Vorprüfung durch das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge trug der Kläger zu 1) zugleich auch für die Klägerin zu 2),
die -- weil sie hochschwanger war -- nicht anwesend sein konnte, folgendes vor: Er
sei in Tasköy geboren und habe dort mit Unterbrechungen bis 1969 gelebt. Von
1968 bis 1969 sei er in Enhil und daran anschließend für etwa sechs Monate in der
Nähe von Kamisli/Syrien als Religionslehrer tätig gewesen. Ende 1969 sei er nach
Istanbul gezogen. Nach seinem Militärdienst habe er als Schneider gearbeitet und
Ende 1977 sich mit seinen drei Brüdern selbständig gemacht.
Während seiner Tätigkeit als selbständiger Schneider hätten die Moslems immer
nur ein Viertel des Normalpreises bezahlt, weil er und seine Brüder Christen seien.
Drei- oder viermal seien bewaffnete Muslime in sein Geschäft gekommen und
hätten ihnen das Geld abgenommen. Zur Polizei seien weder seine Brüder noch er
gegangen, weil die Täter ihnen gedroht hätten. Bei einer Rückkehr in die Türkei
befürchte er, ebenso wie ein Freund und dessen Onkel bei einem Überfall -- dies
sei etwa 15 Tage vor seiner Ausreise gewesen -- getötet zu werden. Diese
Angaben wurden von der Klägerin zu 2) unter dem 20. Januar 1982 schriftlich
betätigt.
Mit Bescheid vom 15. Juni 1983 -- zugestellt am 21. Juli 1983 -- lehnte das
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge die Asylanträge der
Kläger zu 1) bis 4) ab. Mit Bescheiden vom 19. Juli 1983 -- zugestellt am 21. Juli
1983 -- forderte der Oberbürgermeister der Stadt W die Kläger zu 1) und 2) zur
Ausreise auf und drohte ihnen für den Fall, daß sie nicht innerhalb eines Monats
nach Eintritt der Unanfechtbarkeit des Bescheides des Bundesamtes und dieser
Bescheide das Bundesgebiet verlassen, die Abschiebung an.
Mit Schriftsatz vom 28. Juli 1983 -- eingegangen am 1. August 1983 -- erhoben die
Kläger zu 1) und 2) Klage geben den Bundesamtsbescheid und die
Ausreiseaufforderung, die Kläger zu 3) und 4) gegen den Bundesamtsbescheid.
Sie bezogen sich auf die bei der Antragstellung und der Anhörung im Rahmen der
Vorprüfung vorgebrachten Gründe. Ergänzend trugen sie durch ihren
Bevollmächtigten vor, sie gehörten der christlichen Minderheit in der Türkei an und
hätten ihr Heimatland wegen religiöser und politischer Verfolgung verlassen, da sie
ständigen Verfolgungsmaßnahmen durch ihre muslimische Nachbarschaft
ausgesetzt gewesen seien. Aus verschiedenen gutachterlichen Stellungnahmen
ergebe sich, daß für Christen in der Türkei keine Verbesserung der Situation
eingetreten sei.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 6. Februar 1986
erklärte der Kläger zu 1) zu dem bisherigen Vorbringen ergänzend, daß er den
Militärdienst nicht bis zum Schluß absolviert habe, sondern vorzeitig wegen einer
Erkrankung entlassen worden sei. Auch in der Zeit, als er in Enhil gearbeitet habe,
habe er in seinem Heimatort gelebt. Bereits in seiner Jugend sei er eines Tages
beim Viehhüten von unbekannten Muslimen beschossen und sein Vieh sei
gestohlen worden. In der Zeit von 1970 bis 1975 habe er zwar in Istanbul gelebt,
sei aber zeitweise (insgesamt zweimal) in seinen Heimatort zurückgekehrt. Die
Klägerin zu 2) wiederholte ihr bisheriges Vorbringen und trug ergänzend vor, daß
bei der von ihr geschilderten Entführung eines ihr bekannten Mädchens der Onkel
und der Bruder des Mädchens bei einem Schußwechsel umgekommen seien. Das
Mädchen sei am Kopf schwer verletzt worden und danach erblindet.
Die Kläger zu 1) bis 4) beantragten,
den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
vom 15. Juni 1983 aufzuheben und das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen,
und die Kläger zu 1) und 2) außerdem,
die Bescheide des Oberbürgermeister der Stadt W vom 19. Juli 1983
aufzuheben.
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Die Beklagten zu 1) und 2) beantragten,
die Klagen abzuweisen.
Der Bundesbeauftragte beteiligte sich an dem Verfahren nicht.
Das Verwaltungsgericht gab mit Urteil vom 6. Februar 1986 den Klagen unter
Nichtzulassung der Berufung statt und führte zur Begründung aus: Die Kläger
seien als Asylberechtigte anzuerkennen, denn sie seien politisch Verfolgte im
Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG. Asylrechtlichen Schutz genieße der, der aus
politischen Gründen Verfolgungsmaßnahmen mit Gefahr für Leib und Leben oder
Beschränkungen seiner persönlichen Freiheit ausgesetzt wäre oder -- allgemein
gesagt -- politische Repressalien zu erwarten hätte. Zu dem asylrechtlich
geschützten Bereich der persönlichen Freiheit gehörten grundsätzlich auch die
Rechte auf freie Religionsausübung und ungehinderte berufliche und wirtschaftliche
Betätigung. Unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung und der Situation
der syrisch-orthodoxen Christen seien die Kläger vor ihrer Ausreise weder
unmittelbar staatlichen Verfolgungsmaßnahmen noch privaten
Verfolgungsmaßnahmen ohne staatlichen Schutz ausgeliefert gewesen. Den
Klägern könne aber eine Rückkehr in die Türkei nicht zugemutet werden, weil sich
die Verhältnisse inzwischen in der im Tur'Abdin gelegenen Heimatgemeinde wie
auch in Istanbul verändert hätten, so daß sie ohne den erforderlichen Schutz durch
persönliche und wirtschaftliche Beziehungen zu anderen Christen nicht in der Lage
wären, sich eine menschenwürdige Existenz zu schaffen. Durch die fortgesetzte
und sich verstärkende Auswanderungswelle habe sich die Zahl der syrisch-
orthodoxen Christen in der Türkei und auch in Istanbul stark vermindert, so daß die
Kläger insbesondere auch wegen ihrer geringen türkischen Sprachkenntnisse keine
Chance hätten, ohne Hilfe anderer Christen dort Fuß zu fassen. Diese Situation sei
dem türkischen Staat zuzurechnen. Hinzu komme auch, daß die Klägerin zu 2),
wenn sie allein mit ihren Kindern in die Türkei zurückkehren müßte, einem
erheblichen Verfolgungsrisiko durch die Gefahr einer Entführung und einer
anschließenden zwangsweisen Islamisierung ausgesetzt sei. Auch den Klägern zu
3) und 4) könne eine Rückkehr in die Türkei nicht zugemutete werden, da ihnen bei
einer Rückkehr ohne ihre Eltern die Einweisung in ein staatliches Waisenhaus und
damit die zwangsweise Aufgabe ihres Glaubens drohe. Denn sie würden durch die
Erziehung im Waisenhaus im Sinne der islamischen Religion beeinflußt werden und
gerieten unter Druck, ihren christlichen Glauben aufzugeben. Nach alledem sei
den Klägern Asyl zu gewähren. Demgemäß sei auch die Klage begründet, die sich
gegen die Bescheide der Beklagten zu 2) richte.
Gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem ihm am 5. Mai 1986 zugestellten
Urteil hat der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten mit Schriftsatz vom 27.
Mai 1986 -- eingegangen am 28. Mai 1986 -- Beschwerde eingelegt. Der damals
noch zuständige 10. Senat hat mit Beschluß vom 11. November 1986 die
Berufung hinsichtlich der Beklagten zu 1) zugelassen.
Der Bundesbeauftragte beantragt,
das Urteil in Bezug auf die Beklagte zu 1) aufzuheben und die Klagen
abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigen das angefochtene Urteil.
Die Beklagte zu 1) stellt zu der Berufung keinen Antrag.
Der Senat hat aufgrund des Beschlusses vom 27. April 1990 Beweis erhoben über
die Asylgründe der Kläger zu 1) bis 4) durch Vernehmung der Kläger zu 1) und 2)
als Beteiligte durch die beauftragte Richterin. Wegen des Ergebnisses der
Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift vom 18. Mai 1990 verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der
Beteiligten wird auf die von diesen eingereichten Schriftsätze, den einschlägigen
Vorgang des Bundesamtes (163-75.113-80) und die Ausländerakten des
Oberbürgermeisters der Stadt W (zwei Hefter) verwiesen. Diese sind ebenso
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen wie die nachfolgend
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Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen wie die nachfolgend
aufgeführten Dokumente:
1. Dez. 1978
Yonan: "Assyrer heute"
2. 11.04.1979
Auswärtiges Amt an Bay. VGH
3. Mai/Juni 1979 pogrom Nr. 64 (Yonan: "Die Lage der
christlichen Minderheiten in der Türkei"
u.a.)
4. 07.08.1979
Dr. Harb-Anschütz an Bay. VGH
5. 12.11.1979
epd Dokumentation Nr. 49/79: "Christliche
Minderheiten aus der Türkei"
6. Nov. 1979
Ev. Akademie Bad Boll, Materialdienst 2/80:
"Christen aus der Türkei suchen Asyl"
7. Mai 1980
pogrom Nr. 72/73 (Yonan: "Der unbekannte
Völkermord an den Assyrern 1915 -- 1918"
u.a.)
8. 20.05.1980
Patriarch Yakup III und Bischof Cicek vor dem
VG Gelsenkirchen
9. 15.10.1980
Carragher an Bay. VGH
10. 09.04.1981
Msgr. Wilschowitz: "Die Situation der
christlichen Minderheiten in der Türkei"
11. 29.04.1981
Reisebericht einer schwedisch-norwegischen
Reisegruppe
12. 02.05.1981
Dr. Hofmann: "Zur Lage der Armenier in
Istanbul/Konstantinopel"
13. 12.06.1981
Prof. Dr. Kappert vor VG Hamburg
14. 06.07.1981
Staatssekretär von Staden (BT-Drs. 9/650)
15. 20.07.1981
IGFM an VG Wiesbaden
16. 22.07.1981
Vocke an VG Karlsruhe
17. 04.08.1981
Auswärtiges Amt an VG Wiesbaden
18. 24.11.1981
RA Wiskandt an Bundesamt: "Situation der
Christen in der Türkei"
19. 21.01.1982
Schweiz. Ev. Pressedienst Nr. 3
20. 03.02.1982
Auswärtiges Amt an VG Minden
21. 26.03.1982
Auswärtiges Amt an VG Trier
22. 07.04.1982
Pfarrer Diestelmann: "Die Situation der
syrisch-orthodoxen Christen ...."
23. 19.04.1982
Carragher zum Gutachten Wiskandt
24. 28.04.1982
Dr. Hofmann zum Gutachten Wiskandt
25. 06.05.1982
Diakonisches Werk EKD zum Gutachten Wiskandt
26. 18.05.1982
Ev. Gemeinde dt. Sprache in der Türkei an
EKD
27. 26.07.1982
Sürjanni Kadim an VG Minden
28. 17.08.1982
Dr. Harb-Anschütz an VG Minden
29.
1983 Kraft, in "Christ in der Gegenwart": "Fremde
und Außenseiter"
30. Mai 1983
Ev. Akademie Bad Boll, Protokolldienst 27/83:
"Studienfahrt in die Türkei"
31. 25.05.1984
Auswärtiges Amt an VG Karlsruhe
32. 12.06.1984
epd Dokumentation Nr. 26/84: "Die Lage der
christlichen Minderheiten in der Türkei ...."
33. 26.06.1984
Auswärtiges Amt an Bay. VGH
34. 11.09.1984
Auswärtiges Amt an Hess. VGH
35. 14.09.1984
Dr. Oehring an VG Minden
36. 09.11.1984
Auswärtiges Amt an VGH Baden-Württemberg
37. 03.12.1984
RA Müller, RA Wiskandt, Dr. Oehring und
Erzbischof Cicek als sachverständige Zeugen
vor dem Bay. VGH
38.
1985 Anschütz: "Die syrischen Christen vom
Tur'Abdin"
39. 04.02.1985
Dr. Hofmann an VG Stuttgart
40. 17.03.1985
Prof. Dr. Wießner an VG Stuttgart
41. 07.05.1985
Dr. Binswanger an VGH Baden-Württemberg
42. 30.05.1985
Dr. Oehring an VG Gelsenkirchen
43. 22.06.1985
RA Müller: "Reisebericht zur Lage der
Christen in der Türkei"
44. 07.10.1985
Auswärtiges Amt an VG Ansbach
45. 01.07.1986
EKD an VG Hamburg
46. 14.10.1986
Prof. Dr. Wießner an VG Hamburg
47. 06.01.1987
Dr. Tasci vor VG Gelsenkirchen
48. 07.04.1987
Yonan: Gutachten
49. 23.04.1987
Yonan an Bundesamt; Stellungnahme
50. 01.06.1987
Auswärtiges Amt an VG Ansbach
51. 30.06.1987
Ev. Gemeinde deutscher Sprache in der Türkei
an VGH Baden-Württemberg
52. 06.07.1987
Auswärtiges Amt an VGH Baden-Württemberg
53. 18.12.1987
Auswärtiges Amt an OVG Bremen
54. 15.01.1988
Dr. Oehring an VGH Baden-Württemberg
55. April 1988
Regine Erichsen: "Die Religionspolitik im
türkischen Erziehungswesen von der
Atatürk-Ära bis heute" in: Zeitschrift für
Kulturaustausch 1988, S. 234 ff.
56. 15.05.1988
Taylan an VG Karlsruhe
57. 25.05.1988
Dr. Oehring an VG Düsseldorf
58. Juli 1988
Auswärtiges Amt -- Bericht zur "Lage der
Christen in der Türkei"
59. 11.07.1988
Dr. Oehring an VG Kassel
60. 02.09.1988
Dr. Binswanger an VGH Baden-Württemberg
61. 24.09.1988
Dr. Binswanger an VG Karlsruhe
62. 02.11.1988
Taylan an Hess. VGH
63. Dez. 1988
Gesellschaft für bedrohte Völker -- Gutachten
--
64. 09.12.1988
Pfarrer Klautke vor VG Köln
65. 08.01.1989
Wochenzeitschrift "Ikibine Dogru": "Die
geheimen Beschlüsse des islamischen
internationalen Rates sind enthüllt."
66. 12.01.1989
Auswärtiges Amt an VG Ansbach
67. 17.01.1989
Auswärtiges Amt an Hess. VGH
68. 27.01.1989
Dr. Binswanger an Hess. VGH
69. März 1989
Gesellschaft für bedrohte Völker: "Wie einst
die Hugenotten -- Glaubensflüchtlinge heute"
in: Vierte Welt Aktuell Nr. 79
70. 20.03.1989
Dr. Oehring an VG Ansbach
71. 02.04.1989
Dr. Oehring an Hess. VGH
72. 09.06.1989
Auswärtiges Amt an VG Ansbach
73. 01.07.1989
Sternberg-Spohr u.a. in terre des hommes
"Religionsverfolgte aus der Türkei --
politische Verfolgte oder Scheinasylanten"
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74. 04.09.1989
Taylan an OVG Koblenz
75. 18.10.1989
Auswärtiges Amt an OVG Münster
76. Nov. 1989
Weber/Günter/Reuter: "Zur Lage der Christen
in der Türkei", Bericht einer ökumenischen
Besuchsreise vom 31.08. bis 11.09.1989 unter
Leitung von Dr. Oehring
77. 22.01.1990
Taylan vor Hess. VGH
78. 22.03.1990
6 Zeugen vor Hess. VGH
79. 15.02.1990
Auswärtiges Amt an OVG Rheinland-Pfalz
80. 12.03.1990
Auswärtiges Amt an VG Oldenburg
81. 12.03.1990
Auswärtiges Amt an VG Minden
Entscheidungsgründe
I. Die auf den asylrechtlichen Verfahrensteil beschränkte Berufung des
Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten ist frist- und formgerecht eingelegt
(§§ 124, 125 VwGO) und auch sonst zulässig. Sie ist nämlich vom 10. Senat des
Hessischen Verwaltungsgerichtshof mit Beschluß vom 11. November 1986 -- 10 TE
1537/86 -- zugelassen worden (§ 32 Abs. 1 AsylVfG), und der Bundesbeauftragte
war zur Einlegung der Berufung ungeachtet dessen befugt, daß er sich am
erstinstanzlichen Verfahren weder durch einen Antrag noch sonst beteiligt hat
(BVerwG, 11.03.1983 -- 9 B 2597.82 --, BVerwGE 67, 64 = NVwZ 1983, 413; Hess.
VGH, 11.08.1981 -- X OE 649/81 --, ESVGH 31, 268).
II.
Die Berufung des Bundesbeauftragten ist aber nur hinsichtlich des Klägers zu 1)
begründet, denn dieser kann nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im
Zeitpunkt der Berufungsentscheidung die Anerkennung als Asylberechtigter durch
die Beklagte zu 1) nicht beanspruchen, weil er nicht politisch verfolgt ist (§§ 1 Abs.
1, 4 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG). Dagegen ist die Berufung
hinsichtlich der Kläger zu 2) bis 4) nicht begründet; zu ihrer Anerkennung als
Asylberechtigte ist die Beklagte zu 1) vom Verwaltungsgericht im Ergebnis zu
Recht verpflichtet worden.
Asylrecht als politisch Verfolgter im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG genießt,
wer bei einer Rückkehr in seine Heimat aus politischen Gründen
Verfolgungsmaßnahmen mit Gefahr für Leib und Leben oder Beeinträchtigungen
seiner persönlichen Freiheit zu erwarten hat (BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR 147/80
u.a. --, BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1). Eine Verfolgung ist in Anlehnung an
den Flüchtlingsbegriff des Art. 1 Abschn. A Nr. 2 GK als politisch im Sinne von Art.
16 Abs. 2 Satz 2 GG anzusehen, wenn sie auf die Rasse, Religion, Nationalität,
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder die politische
Überzeugung des Betroffenen zielt (BVerfG, 01.07.1987 -- 2 BvR 478/86 u.a. --,
BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20; BVerwG, 17.05.1983 -- 9 C 874.82 --,
BVerwGE 67, 195 = EZAR 201 Nr. 5, u. 26.06.1984 -- 9 C 185.83 --, BVerwGE 69,
320 = EZAR 201 Nr. 8). Diese spezifische Zielrichtung ist anhand des inhaltlichen
Charakters der Verfolgung nach deren erkennbarem Zweck und nicht nach den
subjektiven Motiven des Verfolgenden zu ermitteln (BVerfG, 10.07.1989 -- 2 BvR
502/86 u.a. --, BVerfGE 79, 315 = EZAR 201 Nr. 20; zur Motivation vgl. BVerwG,
19.05.1987 -- 9 C 184.86 --, BVerwGE 77, 258 = EZAR 200 Nr. 19). Werden nicht
Leib, Leben oder physische Freiheit gefährdet, sondern andere Grundfreiheiten wie
etwa die Religionsausübung oder die berufliche und wirtschaftliche Betätigung, so
sind allerdings nur solche Beeinträchtigungen asylrelevant, die nach Intensität und
Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die
Bewohner des Heimatstaats aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein
hinzunehmen haben (BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR 147/80 u.a. --, a.a.O., u.
01.07.1987 -- 2 BvR 478/86 u.a. --, a.a.O.; BVerwG, 18.02.1986 -- 9 C 16.85 --,
BVerwGE 74, 31 = EZAR 202 Nr. 7). Die Gefahr einer derartigen Verfolgung ist
gegeben, wenn dem Asylsuchenden bei verständiger Würdigung aller Umstände
seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, wobei
die insoweit erforderliche Zukunftsprognose auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der
letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung abgestellt und auf einen absehbaren
Zeitraum ausgerichtet sein muß (BVerwG, 03.12.1985 -- 9 C 22.85 --, EZAR 202
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Zeitraum ausgerichtet sein muß (BVerwG, 03.12.1985 -- 9 C 22.85 --, EZAR 202
Nr. 6 = NVwZ 1986, 760 m.w.N.). Einem Asylbewerber, der bereits einmal politisch
verfolgt war, kann eine Rückkehr in seine Heimat nur zugemutet werden, wenn die
Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
ausgeschlossen ist (BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR 147/80 u.a. --, a.a.O.; BVerwG,
25.09.1984 -- 9 C 17.84 --, BVerwGE 70, 169 = EZAR 200 Nr. 12 m.w.N.). Der
Asylbewerber ist aufgrund der ihm obliegenden prozessualen Mitwirkungspflicht
gehalten, umfassend die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse zu schildern,
die seiner Auffassung zufolge geeignet sind, den Asylanspruch zu tragen (BVerwG,
08.05.1984 -- 9 C 141.83 --, EZAR 630 Nr. 13 = NVwZ 1985, 36, 12.11.1985 -- 9 C
27.85 --, EZAR 630 Nr. 23 = InfAuslR 1986, 79, u. 23.02. 1988 -- 9 C 32.87 --, EZAR
630 Nr. 25) und insbesondere auch den politischen Charakter der
Verfolgungsmaßnahmen festzustellen (vgl. BVerwG, 22.03.1983 -- 9 C 68.81 --,
Buchholz 402.24 Nr. 44 zu § 28 AuslG, u. 18.10.1983 -- 9 C 473.82 --, EZAR 630
Nr. 8 = ZfSH/SGB 1984, 281). Bei der Darstellung der allgemeinen Umstände im
Herkunftsland genügt es dagegen, daß die vorgetragenen Tatsachen die nicht
entfernt liegende Möglichkeit politischer Verfolgung ergeben (BVerwG, 23.11.1982
-- 9 C 74.81 --, BVerwGE 66, 237 = EZAR 630 Nr. 1). Die Gefahr einer
asylrelevanten Verfolgung kann schließlich nur festgestellt werden, wenn sich das
Gericht in vollem Umfang die Überzeugung von der Wahrheit des von dem
Asylbewerber behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals verschafft, wobei
allerdings der sachtypische Beweisnotstand hinsichtlich der Vorgänge im
Verfolgerstaat bei der Auswahl der Beweismittel und bei der Würdigung des
Vortrags und der Beweise angemessen zu berücksichtigen ist (BVerwG, 12.11
1985, a.a.O.).
Der erkennende Senat ist nach diesen Grundsätzen aufgrund der eigenen
Angaben und Aussagen der Kläger zu 1) und 2), der beigezogenen Akten und der
in das Verfahren eingeführten Dokumente zu der Überzeugung gelangt, daß die
Kläger nicht kraft innerstaatlich geltender völkerrechtlicher Vereinbarung als
Asylberechtigte anzuerkennen sind (1.) und daß sie auch vor ihrer Ausreise weder
als Mitglieder der Gruppe der syrisch-orthodoxen Christen (2.) noch persönlich von
politischer Verfolgung betroffen waren und deshalb als unverfolgt ausgereist
anzusehen sind (3. und 4.), ferner daß die Kläger auch bei einer Rückkehr in die
Türkei keine Gruppenverfolgung zu befürchten haben (5.), daß aber die Kläger zu
2) bis 4) -- anders als der Kläger zu 1) (6.) -- dann persönlich politischer Verfolgung
im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG ausgesetzt sein werden (7. und 8.).
1. Die Kläger zu 1) bis 4), an deren syrisch-orthodoxer Glaubenszugehörigkeit der
Senat in Anbetracht ihrer Angaben in den Asylanträgen vom 7. August 1980 und
3. Juni 1981 und bei den Anhörungen durch die Ausländerbehörde am 10. Oktober
1980 und 1. Juli 1981 und durch das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge vom 18. Januar 1982 sowie der Eintragung "Hristiyan" in
ihren Nüfen (Bl. 39 bis 54 der Bundesamtsakte 163/75113/80) keine Zweifel hegt,
können ihre Anerkennung nicht (schon) aufgrund des Abkommens über die
Ausdehnung gewisser Maßnahmen zugunsten russischer und armenischer
Flüchtlinge auf andere Kategorien von Flüchtlingen vom 30. Juni 1928 (abgedruckt
in: Societe des Nations, Recueil des Traites, Bd. 89 (1929), S. 64) erreichen. Da die
Kläger zu 1) bis 4) 1954, 1959, 1978 und 1979 geboren sind und erst 1980 und
1981 die Türkei verlassen haben, kann dieses Abkommen auf sie ohnehin nicht
angewandt werden (ständige und vom BVerwG durch Urteil vom 17.05.1985 -- 9 C
874.82 --, BVerwGE 67, 195 = EZAR 201 Nr. 5, bestätigte Rechtsprechung des
Hess. VGH, vgl. z.B. 11.08.1981 -- X OE 649/81 --, ESVGH 31, 268, 07.08.1986 -- X
OE 189/82 --, 01.02.1988 -- 12 OE 419/82 -- sowie 02.05.1990 -- 12 UE 1078/84, 12
UE 1116/84 u. 12 UE 2784/87 --). Der Senat kann deshalb offenlassen, ob dem
durch die genannte Vereinbarung geschützten Personenkreis überhaupt noch ein
Anspruch auf Asylanerkennung oder Asylgewährung in anderer Form zusteht,
nachdem § 39 Nr. 4 AsylVfG die bis dahin in § 28 AuslG enthaltene Bezugnahme
auf Art. 1 GK und die dort in Abschn. A Nr. 1 enthaltene Verweisung auf die
erwähnte Vereinbarung ersatzlos beseitigt hat und eine Asylanerkennung
nunmehr allein an die Voraussetzungen des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG anknüpft
(vgl. dazu auch Berberich, ZAR 1985, 30 ff., Köfner/Nicolaus, ZAR 1986, 11, 15,
und zu Art. 1 Abschn. A Nr. 2 GK BVerwG, 25.10.1988 -- 9 C 76.87 --, EZAR 200 Nr.
22).
2. Der Senat hat auch nicht feststellen können, daß die Angehörigen der syrisch-
orthodoxen Minderheit in der Türkei bis zur Ausreise der Kläger zu 1) bis 4) einer
unmittelbaren oder mittelbaren Gruppenverfolgung ausgesetzt waren.
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35
Asylerhebliche Bedeutung haben nicht nur unmittelbare Verfolgungsmaßnahmen
des Staats; dieser muß sich vielmehr auch Übergriffe nichtstaatlicher Personen
und Gruppen als mittelbare staatliche Verfolgungsmaßnahmen zurechnen lassen,
wenn er sie anregt, unterstützt, billigt oder tatenlos hinnimmt und damit den
Betroffenen den erforderlichen Schutz versagt (BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR
147/80 u.a. --, BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1). Eine derartige staatliche
Verantwortlichkeit kommt aber nur in Betracht, wenn der Staat wegen fehlender
Schutzfähigkeit oder -willigkeit zum Schutz gegen Ausschreitungen oder Übergriffe
nicht in der Lage ist, wobei es auf den Einsatz der ihm an sich verfügbaren Mittel
ankommt (BVerfG, 10.07.1989 -- BvR 502/86 u.a. --, BVerfGE 80, 315 = EZAR 201
Nr. 20) und dem Staat für Schutzmaßnahmen besonders bei spontanen und
schwerwiegenden Ereignissen eine gewisse Zeitspanne zugebilligt werden muß
(BVerwG, 23.02.1988 -- 9 C 85.87 --, BVerwGE 79, 79 = EZAR 202 Nr. 13).
Asylrelevante politische Verfolgung -- und zwar sowohl unmittelbar staatlicher als
auch mittelbar staatlicher Art -- kann sich nicht nur gegen Einzelpersonen,
sondern auch gegen durch gemeinsame Merkmale verbundene Gruppen von
Menschen richten mit der regelmäßigen Folge, daß jedes Gruppenmitglied als von
dem Gruppenschicksal mitbetroffen anzusehen ist (BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR
147/80 u.a. --, BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1, u. 01.07.1987 -- 2 BvR 478/86
u.a. --, BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20; BVerwG, 02.08.1983 -- 9 C 599.81 --,
BVerwGE 67, 314 = EZAR 203 Nr. 1, u. 23.02.1988 -- 9 C 85.87 --, a.a.O.). Die
Annahme einer Gruppenverfolgung setzt eine Verfolgungsdichte voraus, die in
quantitativer Hinsicht die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen
aufweist, daß ohne weiteres von einer aktuellen Gefahr eigener Betroffenheit jedes
Gruppenmitglieds gesprochen werden kann (BVerwG, 08.02.1989 -- 9 C 33.87 --,
EZAR 202 Nr. 15 = NVwZ-RR 1989, 502). Als nicht verfolgt ist nur derjenige
Gruppenangehörige anzusehen, für den die Verfolgungsvermutung widerlegt
werden kann, es kommt nicht darauf an, ob sich die Verfolgungsmaßnahmen
schon in seiner Person verwirklicht haben (BVerwG, 23.02.1988 -- 9 C 85.87 --,
a.a.O.). Auch eine frühere Gruppenverfolgung führt für die Betroffenen zur
Anwendung des herabgestuften Prognosemaßstabs hinsichtlich künftiger
Verfolgung (BVerwG, 23.02.1988 -- 9 C 85.87 --, a.a.O.).
Der Senat legt seiner Beurteilung der Lage der Christen in der Türkei im
allgemeinen und der syrisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaft im besonderen
sowie des Verhältnisses dieser Christen zu anderen dort lebenden religiösen und
ethnischen Gruppen die nachfolgend anhand der vorliegenden schriftlichen
Unterlagen (im folgenden nur noch mit der entsprechenden Nr. der Liste von S. 7
ff. bezeichnet) auszugsweise dargestellte historische Entwicklung der christlichen
Siedlungsgemeinschaften im Nahen Osten zugrunde.
Die Anhänger der syrischen Kirchen siedelten ursprünglich im mesopotamischen
Raum, und zwar im Bergland des Tur'Abdin mit dem Zentrum Midyat, im weiter
östlich gelegenen Bergland von Bohtan, im alpenähnlichen Hochgebirge Hakkari
und weiter südlich in der Mosul-Ebene sowie in der Urmia-Ebene. Nachdem im 7.
Jahrhundert im Zuge der Arabisierung die Mehrheit dieser Christen zum Islam
übergetreten war und dann mongolische Eindringlinge Ende des 14. Jahrhunderts
die syrischen Kirchen bis auf wenige Überreste vernichtet hatten, erlebten sowohl
die syrisch-orthodoxen als auch die anderen im Osmanischen Reich lebenden
Christen vom Ende des 15. Jahrhunderts an eine vergleichsweise friedliche und
gesicherte Periode (38., S. 18), in der einigen der christlichen Kirchen -- allerdings
nicht der syrisch-orthodoxen (3., S. 46) -- der Status als "millat" zuerkannt wurde,
so daß sie ihr Personal- und Familienrecht nach eigenem Rechtsstatut regeln
konnten. Während der im 19. Jahrhundert zur Bewahrung des Osmanischen Reichs
eingeleiteten Reformbewegungen kam es sodann etwa nach der Seeschlacht von
Navarino 1827 zu einer Verfolgung der Armenier und 1843 zu einem Massaker der
Kurden unter den nestorianischen Bergstämmen im Hakkari. Die abseits in ihren
Siedlungsräumen in Ostanatolien lebenden syrischen Christen blieben von
derartigen Ereignissen weitgehend verschont. Sie waren ähnlich wie die ebenfalls in
dieser Region siedelnden Kurden stammesmäßig organisiert und erhielten sich
Unabhängigkeit und Schutz durch Selbstverteidigung und durch Tributzahlungen
an den Sultan. Nachdem seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine rege
Missionstätigkeit christlicher Religionsgesellschaften aus Amerika, England und
Frankreich dazu beigetragen hatte, die kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung
der Christen im Nahen Osten zu heben und gleichzeitig deren politisches
Bewußtsein zu fördern, reagierte das Osmanische Reich im letzten Viertel des 19.
Jahrhunderts auf Unabhängigkeitsbestrebungen der Christen mit dem Einsatz
kurdischer Söldnertruppen, und dabei kam es dann häufig zu Morden,
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kurdischer Söldnertruppen, und dabei kam es dann häufig zu Morden,
Plünderungen und Hungersnöten (1., S. 17 ff.). Schließlich fanden während des
Ersten Weltkriegs unter den Christen zahlreiche Massaker statt, die insgesamt
über drei Millionen Tote gefordert haben sollen (1., S. 28; 5., S. 14; 7.; 24., S. 6;
38., S. 9 u. 18 f.; 48., S. 18); für sie werden zumindest auch die Allianz der Christen
mit England und Rußland und die Kriegserklärung des damaligen syrisch-
orthodoxen Patriarchen Benjamin XXI. an die Türkei im Mai 1915 verantwortlich
gemacht. So wurden etwa bis März 1915 im Urmia- und im Salamas-Gebiet über
70 Dörfer von türkischen Truppen und kurdischen Freiwilligen zerstört und
geplündert und die christliche Bevölkerung massakriert, und im selben Jahr folgten
weitere Massenmorde in der armenischen Stadt Van und im Bohtan-Gebiet (1., S.
29 f.). Bei der Flucht der Bergassyrer nach Salamas und der Urmia-Assyrer nach
Hamadan sollen jeweils mehr als 10.000 Menschen umgekommen sein (1., S. 30
ff.). Schließlich siedelten syrische Christen in den Jahren 1922 und 1924 in zwei
großen Fluchtbewegungen aus der Türkei in das benachbarte Syrien über (1., S.
110), und im Gefolge des Ersten Weltkriegs und des Friedensvertrags von
Lausanne vom 24. Juli 1923 verließen mehr als zwei Millionen Griechen die Türkei
(3., S. 41).
Es mag im einzelnen Streit darüber herrschen, welche Bedeutung das christliche
Bekenntnis der verschiedenen Gruppen der Christen für ihr jeweiliges Schicksal in
der Vergangenheit im einzelnen hatte, welche Rolle politische und militärische
Interessen fremder Großmächte gespielt haben und ob und in welchem Maße sich
etwa bei Armeniern, Griechen oder Assyrern ein eigenes Nationalbewußtsein
entwickeln konnte (vgl. dazu: 1., S. 12 ff.; 5., S. 1 ff.; 18., S. 6 ff.). Die Situation der
Christen in der Türkei ist jedenfalls seit langem geprägt von ihrer bis in die Anfänge
des Christentums zurückreichenden religiösen und kirchlichen Tradition, von den
ethnischen und sprachlichen Besonderheiten der einzelnen Gruppen und von
einem mehr und mehr hoffnungslos erscheinenden Überlebenskampf in einer
mehrheitlich türkischen/muslimischen Umwelt, der angesichts der leidvollen
historischen Erfahrungen als besonders bedrückend empfunden wird. Während die
Christen Ende des 19. Jahrhunderts noch etwa 30 % der Untertanen des
Osmanischen Reichs ausmachten, stellen sie nunmehr in der Türkei mit
schätzungsweise kaum noch 100.000 Menschen nur eine äußerst kleine Minderheit
der Gesamtbevölkerung von 43 Millionen (zu den Zahlenangaben und im übrigen
vgl.: 2.; 5., S. 5; 6., S. 5; 7.; 18., S. 8; 40.). Außer den Armeniern und den Griechen
sind zahlenmäßig vor allem die Assyrer von Bedeutung, denen aber im
Unterschied zu den Armeniern, Griechen und Juden ein Schutz als
nichtmuslimische Minderheit aufgrund des Lausanner Vertrags von 1923 nicht
zugestanden wird (3., S. 46; 5., S. 6; 32., S. 17 u. 40.; 41., S. 2 f.; 60.; 63., S. 7;
68.). Die syrischen Christen gehören im wesentlichen vier Kirchen an, nämlich der
alten apostolischen Kirche des Ostens (oder nestorianischen), der syrisch-
orthodoxen (oder jakobitischen), der chaldäischen und der syrisch-katholischen
(1., S. 3; 6., S. 5 f. u. 16 f.; 38., S. 8 f.). Die alte apostolische Kirche, die die
diophysitische Lehre des Nestorius (Christ als Gott und Mensch zugleich sowie
Maria als Gebärerin Christi) vertritt, brach auf dem Konzil von Ephesus im Jahre
431 mit der römischen Kirche (vgl. 1., S. 12, u. 6., S. 15 f.). Das Konzil von
Chalkedon im Jahre 451 führte zur Abspaltung der syrisch-orthodoxen Kirche von
Rom, wobei wiederum eine abweichende -- diesmal extrem monophysitische --
Lehrmeinung über die Person Christi ausschlaggebend war (1., S. 12; 6., S. 5 f.);
ihr Patriarch von Antiochia und dem gesamten Osten, Mar Ignatius Yakup III., hat
seinen Sitz seit 1954 in Damaskus (5., S. 21; 8., S. 2; 9., S. 2). Nestorianer und
Syrisch-Orthodoxe bedienen sich bis heute einer altsyrischen Liturgiesprache (1.,
S. 12); die Syrisch-Orthodoxen heben sich außerdem durch verschiedene Dialekte
der neuaramäischen Umgangssprache (im Tur'Abdin: Turoyo) von den
muslimischen Türken und Kurden sowie von den Yeziden ab. Im 16. und 17.
Jahrhundert kamen Teile der nestorianischen Kirche infolge innerer Streitigkeiten
und auf Betreiben von Kapuzinermissionaren unter Beibehaltung ihres Ritus mit
der römischen Kirche zum Ausgleich; diese unierte nestorianische Kirche nennt
sich chaldäische Kirche; ihr Patriarch residiert (nach Vereinigung der früheren
Patriarchate von Babylon und Mosul) heute in Bagdad (1., S. 12; 3., S. 46; 5., S. 5;
6., S. 16; 29.; 38., S. 9). Im 18. oder 19. Jahrhundert kam es schließlich auch zu
einer Union eines Teils der syrisch-orthodoxen Kirche mit Rom, wobei gleichfalls
der syrische Ritus beibehalten wurde; hierbei handelt es sich um die sog. syrisch-
katholische Kirche (1., S. 3 u. 12; 3., S. 46; 5., S. 5; 6., S. 6 u. 16 f.; 38., S. 9).
Während bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts im Gebiet der heutigen Türkei noch
etwa eine Million Jakobiten und Nestorianer gelebt haben sollen und 1927
immerhin noch insgesamt 257.000 (1., S. 46 u. 110), beträgt die Zahl der Syrisch-
Orthodoxen in der Türkei neueren Schätzungen zufolge nur noch etwa 45.000 (1.,
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Orthodoxen in der Türkei neueren Schätzungen zufolge nur noch etwa 45.000 (1.,
S. 111; 5., S. 20), 35.000 (1., S. 46), 20.000 bis 25.000 bzw. 35.000 (6., S. 17; 58.,
S. 1), 20.000 (8., S. 2) oder sogar nur 10.000 bis 15.000 (2.). Im Gebiet des
Tur'Abdin (Berg der Gottesknechte), wo vor 25 Jahren noch 70.000 Syrisch-
Orthodoxe lebten, sollen es 1967/68 noch 20.000 gewesen sein (4., S. 2), 1980
noch ca. 13.000 (70., S. 7), 25.000 (5., S. 29) oder auch annähernd 40.000 (32., S.
17), 1987/1988 lediglich noch 5.000 bis 7.000 (48., S. 14; 63., S. 5; 70., S. 4 f., 7 u.
14) oder 12.000 (58., S. 2) und 1989 sogar nur noch ungefähr 4.000 (76., S. 13 u.
16), während ihre Zahl in Istanbul im selben Zeitraum von einigen Hundert auf
15.000 oder gar auf 17.000 angestiegen sein soll (5., S. 46; 9., S. 7; 21.; 26.; 27.;
für die Zeit nach 1982 vgl. auch 35.; 37., S. 11; 58., S. 2; 63., S. 5; 70., S. 4);
derzeit dürften in Istanbul noch ungefähr 10.000 syrisch-orthodoxe Christen leben
(64., S. 3; 66., S. 1). In der Bezirksstadt Midyat sollen im Jahr 1978 von den
ursprünglich 3.000 syrischen Familien infolge einer seit 1960 anhaltenden starken
Abwanderung in türkische Großstädte und ins Ausland noch 1.000 Familien
gewohnt haben (1., S. 117).
Vor dem Hintergrund dieser geschichtlichen Entwicklung kann nicht festgestellt
werden, daß die christliche Bevölkerung in der Türkei und insbesondere im Gebiet
des Tur'Abdin in dem hier maßgeblichen Zeitraum bis zur Ausreise der Kläger im
Juni 1980 bzw. Mai 1981 unter einer an die Religion anknüpfenden
Gruppenverfolgung zu leiden hatten; dies gilt sowohl hinsichtlich einer
unmittelbaren staatlichen Verfolgung (a) als auch hinsichtlich einer dem türkischen
Staat zurechenbaren Verfolgung durch andere Bevölkerungsgruppen (b) (ebenso
schon der früher für Asylverfahren allein zuständige 10. Senat des Hess. VGH in st.
Rspr., zuletzt 30.05.1985 -- 10 OE 35/83 --, und jetzt der 12. Senat, 22.02.1988 --
12 UE 1071/84 --, NVwZ-RR 1988, 48, und 26.03.1990 -- 12 UE 2997/86 m.w.N.,
ähnlich VGH Baden-Württemberg, 25.07.1985 -- A 12 S 573/81 --, u. OVG
Lüneburg, 25.08.1986 -- 11 OVG A 263/85 --; a.A. Bay. VGH, 19.03.1981 --
12.B/5074/79 --, InfAuslR 1981, 219, VGH Baden-Württemberg, 09.02.1987 -- A 13
S 709/86 --, u. OVG Nordrhein-Westfalen, 23.04.1985 -- 18 A 10237/84 --, sowie
OVG Rheinland-Pfalz, 10.12.1986 -- 11 A 131/86 --). Für die Frage nach dem
Vorliegen einer an die religiöse Grundentscheidung anknüpfenden
Gruppenverfolgung ist allgemein zu beachten, daß eine aus Gründen der Religion
stattfindende Verfolgung nur dann asylerheblich ist, wenn die Beeinträchtigungen
der Freiheit der religiösen Betätigung nach Intensität und Schwere die
Menschenwürde verletzen (BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR 147/80 u.a. --, BVerfGE 54,
341 (357) = EZAR 200 Nr. 1). Es muß sich um Maßnahmen handeln, die den
Gläubigen als religiös geprägte Persönlichkeit ähnlich schwer treffen wie bei
Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit oder die physische Freiheit (BVerwG,
18.02.1986 -- 9 C 16.85 --, BVerwGE 74, 31 = EZAR 202 Nr. 7), indem sie ihn
physisch vernichten, mit vergleichbar schweren Sanktionen bedrohen, seiner
religiösen Identität berauben oder daran hindern, seinen Glauben im privaten
Bereich und durch Gebet und Gottesdienst zu bekennen (BVerfG, 01.07.1987 --
BvR 472/86 u.a. --, BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20, u. 10.11.1989 -- 2 BvR
403/84 u.a. --, EZAR 203 Nr. 5 = NVwZ 1990, 254).
a) Aus den in das Verfahren eingeführten Gutachten, Auskünften und anderen
Erkenntnisquellen ergeben sich insgesamt keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür,
daß der türkische Staat die syrisch-orthodoxen Christen in diesem Sinne in dem
hier maßgeblichen Zeitraum unmittelbar aus religiösen Gründen verfolgt hat.
Die syrisch-orthodoxen Christen waren -- und sind -- von Verfassungs wegen
ebenso wie die Angehörigen anderer muslimischer und nichtmuslimischer
Glaubensgemeinschaften gegen Eingriffe in die Religionsfreiheit und gegen
Diskriminierungen aus religiösen Gründen geschützt (Art. 19 d. türk. Verf. v. 1961,
Art. 24 Abs. 1 d. türk. Verf. vom 07.11.1982; 18., S. 23; 41., S. 3; 57., S. 17 f.). Sie
sind in den durch Art. 14 der Verfassung von 1982 gezogenen Grenzen frei,
Gottesdienste, religiöse Zeremonien und Feiern abzuhalten (Art. 24 Abs. 2 dieser
Verfassung). Sie werden jedoch seit jeher anders als die Armenier, Griechen und
Juden in der Staatspraxis nicht zu den nichtmuslimischen Minderheiten gerechnet,
denen aufgrund der Art. 38 ff. des Friedensvertrags von Lausanne vom 24. Juli
1923 besondere Minderheitenrechte gewährleistet sind, so u.a. gemäß Art. 40 das
Recht, auf eigene Kosten jegliche karitative, religiöse und soziale Institutionen,
Schulen und andere Einrichtungen für Lehre und Erziehung mit dem Recht auf
Gebrauch ihrer eigenen Sprache und freie Religionsausübung zu errichten, zu
betreiben und zu kontrollieren (1., S. 112; 3., S. 46; 5., S. 6 u. 57 f.; 8., S. 3 f.; 9., S.
15 f.; 13.; 32., S. 17 u. 40; 41., S. 2 f.; 60.; 68.). Während die in Istanbul lebenden
etwa 80.000 Armenier dazu imstande sind, ungefähr 30 bis 40 Kirchen und einige
40
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etwa 80.000 Armenier dazu imstande sind, ungefähr 30 bis 40 Kirchen und einige
Schulen, mindestens ein Krankenhaus und 12 Jugendclubs zu unterhalten (12.;
53.; 76., S. 3), verfügen die etwa 10.000 Syrisch-Orthodoxen in Istanbul lediglich
über ein eigenes Kirchenzentrum und sind in fünf bis sieben weiteren Kirchen zu
Gast (18., S. 49; 26.; 27.; 35., S. 6; 37., S. 3, 8 u. 13; 64., S. 9; 66.; 76., S. 4 f.), sie
dürfen aber keine Schulen und keine Sozialeinrichtungen betreiben (58., S. 4; 63.,
S. 7). Die syrisch-orthodoxen Christen werden allerdings ebensowenig wie andere
christliche Glaubensgemeinschaften staatlicherseits unmittelbar an der Ausübung
ihrer Religion gehindert. Sie können sowohl im Gebiet des Tur'Abdin als auch in
Istanbul in den ihnen verbliebenen Kirchen Gottesdienst nach ihrer Liturgie feiern
und ihren Glauben praktizieren. Insbesondere haben sie die Möglichkeit zum Gebet
und zum Gottesdienst im häuslich-privaten Bereich und in Gemeinschaft mit
anderen Gemeindemitgliedern.
aa) Obwohl die Religionsausübung nach außen hin -- weder in der Vergangenheit
noch jetzt -- offen behindert oder gar untersagt (worden) ist, sind dennoch
zahlreiche administrative Schwierigkeiten festzustellen (58., S. 5), die die Syrisch-
Orthodoxen bei der Ausübung ihres Glaubens und der Pflege ihres Brauchtums
empfindlich stören und auf Dauer gesehen das kirchliche und religiöse Leben
beeinträchtigen und schließlich zum Erliegen bringen können. So ist beispielsweise
die Ausbildung der Priester zwar von Staats wegen nicht verboten und auch nicht
erkennbar restriktiv reglementiert. Tatsächlich gibt es aber seit geraumer Zeit in
der Türkei weder einen syrisch-orthodoxen Bischof noch Priesterseminare (8., S. 4;
19., S. 16), und deshalb können neue Priester, die die türkische
Staatsangehörigkeit besitzen müssen, nur im Ausland ausgebildet und geweiht
werden (9., S. 5; 12., S. 5; 45., S. 6 f.; 46., S. 6; 48., S. 19; 60., S. 2). Die
seelsorgerische Betreuung der noch in den ehemals syrisch-orthodoxen
Siedlungsgebieten verbliebenen Gläubigen ist auch dadurch erschwert, daß viele
Priester ihre Gemeinden gegen den Willen der Kirchenleitung verlassen haben und
im Zuge der Anwerbung von Arbeitnehmern durch die Bundesrepublik
Deutschland und andere westdeutsche Staaten ins Ausland abgewandert sind
(40., S. 3; 46., S. 3). Die ehemals zahlreichen Klöster im Tur'Abdin sind jetzt nur
noch von wenigen Mönchen oder Nonnen bewohnt und im übrigen verlassen (5., S.
21). Die Klosterschule in Dair Za'faran wurde zudem mehrmals zumindest
zeitweilig geschlossen, weil der türkische Staat das Schulprogramm mit syrisch-
aramäischem Sprachunterricht und christlichem Religionsunterricht für illegal
erachtete (5., S. 28; 6., S. 18; 32., S. 18; 46., S. 5; 76., S. 15). Der Bau und die
Errichtung von Kirchen sind, nachdem das Eigentum an dem Besitz der "frommen
Stiftungen" im Jahre 1965 auf den Staat übertragen worden ist, nur noch mit
vorheriger staatlicher Genehmigung zulässig (9., S. 17). Die Tatsache, daß in den
vergangenen Jahren keine neue syrisch-orthodoxe Kirche gebaut worden ist,
während in der ganzen Türkei zahlreiche neue Moscheen entstanden sind (43., S.
3 f.; 45., S. 3; 46., S. 4), kann allerdings darauf zurückzuführen sein, daß Geld für
einen derartigen Kirchenbau nicht vorhanden war (28.). Trotz dieser faktischen
Behinderungen im administrativen Bereich läßt sich daraus eine unmittelbare
staatliche Beeinträchtigung der Religionsfreiheit für die Zeit bis zur Ausreise der
Kläger zu 1) bis 4) aus der Türkei nicht herleiten.
bb) Ebenso verhält es sich im Ergebnis mit der Gestaltung des Religionsunterrichts
an den staatlichen Schulen (vgl. 55.). Insoweit ist allerdings zu beachten, daß die
Belastung nur eines bestimmten genau abgegrenzten Kreises von
Gruppenangehörigen -- hier: der eine Schule besuchenden und in der Regel
minderjährigen Personen -- nicht bereits eine Verfolgung der Religionsgruppe
insgesamt darstellt (BVerwG, 24.08.1989 -- 9 B 301.89 --, NVwZ 1990, 80 =
InfAuslR 1989, 348). Indessen kann eine asylrelevante Belastung der Angehörigen
einer solchen Untergruppe -- zumal ihr grundsätzlich jedes Mitglied der
Religionsgruppe im Verlaufe seines Lebens eine Zeitlang angehört -- ein gewisses
Indiz für eine Verfolgung aller Gruppenangehörigen sein. Wären nämlich
Angehörige weiterer Untergruppen -- etwa der Wehrpflichtigen, der Frauen
bestimmten Alters und/oder der minderjährigen Kinder -- ebenfalls asylrechtlich
erheblicher Verfolgung ausgesetzt, so könnte sich eine Verdichtung bis hin zur
Annahme einer Gruppenverfolgung aller Mitglieder der betreffenden
Religionsgruppe ergeben. Soweit das Bundesverwaltungsgericht ausgesprochen
hat, die Pflicht zur Teilnahme am islamischen Religionsunterricht stelle für sich
allein keine asylerhebliche Beeinträchtigung der Religionsausübung dar, da sie
nicht gleichgesetzt werden könne mit der Pflicht, sich zum Islam zu bekennen
(BVerwG, 14.05.1987 -- 9 B 149.87 --, EZAR 202 Nr. 9 = DVBl. 1987, 1113), neigt
der Senat zu einer grundsätzlich anderen Betrachtungsweise. Denn
Religionsunterricht, der gegen den Willen der Kinder oder der insoweit
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Religionsunterricht, der gegen den Willen der Kinder oder der insoweit
erziehungsberechtigten Eltern erteilt wird, kann den Beginn einer
Zwangsbekehrung bedeuten, stellt doch die religiöse Unterweisung von Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen einen unverzichtbaren -- weil lebenswichtigen -- Teil
der Religionsfreiheit dar. Ohne die Weitergabe religiösen Wissens und religiöser
Überzeugungen vermag nämlich weder der einzelne Gläubige noch die
Glaubensgemeinschaft auf Dauer zu bestehen. Neben der Verkündigung des
Glaubens während des kirchlichen Gottesdienstes spielt hierbei vor allem der
Religionsunterricht für Kinder eine ausschlaggebende Rolle. In vorliegendem
Zusammenhang ist indessen von maßgeblicher Bedeutung, daß zur Zeit der
Ausreise sowohl des Klägers zu 1) im Juni 1980 als auch der Kläger zu 2) bis 4) im
Mai 1981 noch keine Pflicht zur Teilnahme am islamischen Religionsunterricht
bestanden hat. Zwar war 1950 für die vierte und fünfte Grundschulklasse, 1956 für
die sechste und siebte Klasse der Mittelschule und 1967/68 auch für die erste und
zweite Klasse des Gymnasiums der Religionsunterricht auf freiwilliger Basis
eingeführt und ab 1976 in allen Klassen der Mittelschule und des Gymnasiums
angeboten worden. Auch hatte man 1974/75 in den beiden letztgenannten
Schulformen einen sog. Ethik- bzw. Moralkundeunterricht als Pflichtfach eingeführt
(55.; 63., S. 20). Dieser war aber jedenfalls in den 70er Jahren weitgehend
laizistisch und wertneutral; erst später wurde er in der Praxis zu einem "Neben-
Religionsunterricht" (35.) und schließlich zwischen 1982 und 1985 mit dem
Religionsunterricht zusammengelegt (55.). Für die Zeit vor dem Inkrafttreten der
Verfassung von 1982 besteht daher keine Veranlassung zu der Annahme, der
türkische Staat habe durch die Gestaltung des Religionsunterrichts an staatlichen
Schulen unmittelbar in einer Art und Weise in die Freiheit der religiösen Betätigung
der syrisch-orthodoxen Christen eingegriffen, die die Menschenwürde und das sog.
religiöse Existenzminimum antastete. Auch wenn man berücksichtigt, daß ein
christlicher Religionsunterricht an staatlichen Schulen nicht angeboten wurde und
es im Rahmen des Ethik- bzw. Moralkundeunterrichts bei der praktischen
Handhabung der Unterscheidung zwischen ethischen und allgemein religiösen
Lehrinhalten einerseits und islamischen Glaubensinhalten andererseits zu
Benachteiligungen und Beeinträchtigungen der Glaubensüberzeugungen
christlicher Schüler kommen konnte, kann darin insgesamt ein asylrelevanter
Eingriff nicht gesehen werden. Denn abgesehen von der regelmäßig fehlenden
Intensität mangelte es insoweit jedenfalls an der asylrechtlichen Zurechenbarkeit,
weil Anhaltspunkte dafür, daß die verantwortlichen Stellen derartiges dienstliches
Fehlverhalten von Lehrern seinerzeit förderten oder zumindest duldeten, aus den
dem Senat vorliegenden Erkenntnisquellen nicht zu entnehmen sind.
cc) Schließlich können Anzeichen für eine gegen Christen gerichtete
Gruppenverfolgung weder zur Zeit der Ausreise des Klägers zu 1) im Juni 1980,
noch der Kläger zu 2) bis 4) im Mai 1981 auch nicht aus der Art und Weise
entnommen werden, wie christliche Wehrpflichtige damals in der türkischen Armee
behandelt worden sind. Eine Verfolgung der betreffenden Religionsgruppe
insgesamt könnte allein daraus ohnehin nicht entnommen werden (vgl. BVerwG,
24.08.1989 -- 9 B 301.89 --, NVwZ 1990, 80 = InfAuslR 1989, 348).
Für den Senat steht aufgrund der vorliegenden Erkenntnisquellen und der
Erkenntnisse aus den in letzter Zeit entschiedenen zahlreichen
Berufungsverfahren fest, daß es jedenfalls bis etwa zum Zeitpunkt des
Militärputsches im September 1980 nur in Einzelfällen zu ihrer Intensität nach als
Verfolgung zu qualifizierenden Übergriffen auf christliche Wehrpflichtige gekommen
ist. Bis dahin scheint die Führung der türkischen Streitkräfte, die sich als Hüter
laizistischer Prinzipien verstehen, mit Erfolg darauf geachtet zu haben, daß
religiöse Strömungen dort keinen nachhaltigen Widerhall finden konnten (vgl. 36.).
Demzufolge hatten christliche Wehrpflichtige in aller Regel weder seitens ihrer
Vorgesetzten noch seitens ihrer Kameraden mit schwerwiegenden
Diskriminierungen zu rechnen, wenn auch -- nach der Darstellung des Auswärtigen
Amtes -- Sticheleien und gelegentliche Übergriffe von Kameraden nicht
auszuschließen waren (33.; 36.) und es -- nach den Äußerungen anderer
Sachverständiger -- darüber hinaus vielfach zur Betrauung mit besonders
unangenehmen Aufgaben, zu verbalen Beleidigungen, zum Versuch der
Bekehrung zum Islam und zur Androhung der Zwangsbeschneidung sowie in
Einzelfällen auch zu schweren Körperverletzungen gekommen sein mag (39.; 40.;
42.) und christliche Wehrpflichtige mit Abitur meist -- anders als Muslime -- nicht
als Offiziersanwärter rekrutiert wurden (und werden) (41.). Die zwangsweise
Durchführung von Beschneidungen christlicher Wehrpflichtiger war in der Zeit bis
September 1980 offenbar nur in seltenen Einzelfällen festzustellen (42.). Diese
Einschätzung der damaligen Situation christlicher Wehrpflichtiger wird durch die
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Einschätzung der damaligen Situation christlicher Wehrpflichtiger wird durch die
von dem erkennenden Senat in zahlreichen Berufungsverfahren gewonnenen
Erkenntnisse über türkische Christen, die vor dem Militärputsch ihren Wehrdienst
abgeschlossen haben, bestätigt. Die vom Senat gehörten Christen haben
entweder selbst in dem Zeitraum zwischen 1953 und 1978 ihren Wehrdienst
abgeleistet oder aber von den Erfahrungen ihrer Brüder oder anderer Verwandter
während deren damaliger Dienstzeit berichtet. Während einige -- wie etwa der
Vater des Klägers --, obgleich sie vom Alter her Wehrdienst geleistet haben
müßten, diesen Punkt in ihren Asylverfahren überhaupt nicht angesprochen
haben, haben sich andere auf die Mitteilung der Dienstleistung als solcher
beschränkt und von irgendwelchen Benachteiligungen nichts erwähnt (vgl. etwa
Hess. VGH, 27.06.1988 -- 12 UE 2438/85 -- (Abdruck S. 3), 04.07.1988 -- 12 UE
25/86 -- (Abdruck S. 3), 06.02.1989 -- 12 UE 2584/85 -- (Abdruck S. 3), 29.05.1989
-- 12 UE 2586/85 -- (Abdruck S. 3 u. 40), 26.03.1990 -- 12 UE 2997/86 -- (Abdruck
S. 26)). Die übrigen haben von einer übermäßigen Heranziehung zum Wachdienst
und zu besonders schmutzigen Arbeiten, von Beschimpfungen ihrer Person und
ihrer Religion und von wiederholten Schlägen berichtet, mit denen regelmäßig das
Ziel verfolgt worden sei, sie zum Übertritt zum Islam und zur Beschneidung zu
bewegen; in allen Fällen gelang es den Betroffenen jedoch, sowohl einer
Zwangsbekehrung als auch einer Zwangsbeschneidung letztlich zu entgehen,
wobei es allerdings einmal zu einer Brandverletzung am Geschlechtsteil kam und
ein andermal erst im Militärkrankenhaus der Arzt dazu bewegt werden konnte, von
einer Beschneidung Abstand zu nehmen (vgl. etwa Bl. 67 d.A. und Hess. VGH,
22.02.1988 -- 12 UE 1071/84 -- (Abdruck S. 4 u. 34) u. -- 12 UE 2585/85 --
(Abdruck S. 4 u. 34 f.), 30.05.1988 -- 12 UE 2514/85 -- (Abdruck S. 5 u. 35 f.),
17.10.1988 -- 12 UE 2601/84 -- (Abdruck S. 35) u. -- 12 UE 767/85 -- (Abdruck S.
37), 18.10.1988 -- 12 UE 433/85 -- (Abdruck S. 33 f.)), 20.03.1989 -- 12 UE
1705/85 -- (abdruck S. 5 u. 46 ff.) u. -- 12 UE 2192/86 -- (Abdruck S. 44 f.),
04.12.1989 -- 12 UE 2652/85 -- (Abdruck S. 39) sowie 26.03.1990 -- 12 UE 2997/86
-- (Abdruck S. 5)). Danach kann schon nicht festgestellt werden, daß seinerzeit
christliche Wehrpflichtige mit Rechtsverletzungen zu rechnen hatten, die nicht nur
als Beeinträchtigungen, sondern auch als sie ihrer Intensität nach aus der
übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzende
Verfolgungsmaßnahmen zu qualifizieren sind (vgl. BVerfG, 10.07.1989 -- 2 BvR
502/86 u.a. --, BVerfGE 79, 315 = EZAR 201 Nr. 20). Schon deshalb kann daraus
für die Zeit vor dem Militärputsch nicht auf eine Verfolgung des abgegrenzten
Kreises der wehrpflichtigen Gruppenangehörigen und erst recht nicht auf eine
Gruppenverfolgung aller syrisch-orthodoxen Christen geschlossen werden. Darüber
hinaus fehlen für den betreffenden Zeitraum Anhaltspunkte dafür, daß die
militärische Führung Übergriffe, soweit sie vorkamen, geduldet oder gar gefördert
hat (vgl. 33.; 41.); mithin läßt sich für die damalige Zeit die asylrechtliche
Zurechenbarkeit, die auch für Zugriffe innerhalb der Armee erforderlich ist,
ebenfalls nicht annehmen, weil nicht festgestellt werden kann, daß der türkische
Staat seinerzeit an die Religion anknüpfenden Übergriffen auf Wehrpflichtige nicht
entgegengewirkt hätte, indem er beispielsweise präventive Vorkehrungen
unterlassen hätte, um weitere Übergriffe zu verhindern und, wenn sie gleichwohl
vorgekommen wären, weder den Opfern Schutz gewährt noch gegen pflichtwidrig
Handelnde Sanktionen verhängt hätte (vgl. BVerwG, 22.04.1986 -- 9 C 318.85 u.a.
--, BVerwGE 74, 160 = EZAR 202 Nr. 8).
Die Behandlung christlicher Wehrpflichtiger in der türkischen Armee hat sich nach
den Erkenntnissen des Senats seit der Machtübernahme durch das Militär im
September 1980 merklich verschlimmert. Die vorliegenden Auskünfte und
Stellungnahmen gehen nach wie vor überwiegend dahin, daß Drangsalierungen
durch Verbalinjurien und Schläge weiterhin vorkämen, daß aber Fälle von
Zwangsbeschneidungen und -bekehrungen nicht oder nur selten bekannt
geworden seien (53.; 56.; 61., S. 6; 63., S. 15; 64., S. 9; 66., S. 2 f.; 74., S. 4 f.; 77.,
S. 4). Demgegenüber hat ein Zeuge in einem Verfahren vor dem
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen nähere Angaben über einzelne Fälle von
Zwangsbeschneidungen gemacht (47.). Dieser ist 16 Monate lang bis Juli 1985
Militärarzt in Agri in der Osttürkei gewesen und hat während seiner Dienstzeit etwa
90 christliche Rekruten kennengelernt. Seinen Angaben zufolge kann er zwar nicht
als Augenzeuge bestätigen, daß jemand beim Militär einer mit körperlicher Gewalt
durchgeführten Zwangsbeschneidung unterzogen worden ist. Er hat allerdings
glaubhaft bezeugt, daß man auf andere Weise Personen dazu gezwungen hat, sich
beschneiden zu lassen. Er selbst habe die Beschneidung einiger Soldaten, die zu
ihm zur Zwangsbeschneidung geschickt worden seien, zwar abgelehnt. Er habe
aber mit eigenen Augen gesehen, daß man im Militärkrankenhaus von Agri einen
christlichen Soldaten beschnitten habe, der bei einem späteren Gespräch
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christlichen Soldaten beschnitten habe, der bei einem späteren Gespräch
offenbart habe, daß er nur unter Zwang die Beschneidung habe vornehmen
lassen; der Soldat sei nämlich nach seiner anfänglichen Weigerung "vom
Schreibdienst zum Toilettenplatz degradiert" und dann auch noch wiederholt
geschlagen worden. Der Zeuge gab ferner an, er wisse, daß 30 bis 40 Soldaten der
Beschneidung im Krankenhaus unterzogen worden seien; er habe diese Soldaten
aus den üblichen Generaluntersuchungen, die alle drei Monate stattfänden,
gekannt, und alle hätten ihm unter vier Augen bedeutet, sie seien auf keinen Fall
zur Beschneidung bereit gewesen. Die in einem anderen Berufungsverfahren am
22. März 1990 vernommenen sechs Zeugen haben ähnliches bekundet (78.). Sie
haben in dem Zeitraum zwischen Juli 1980 und Dezember 1986 jeweils unabhängig
voneinander ihren Militärdienst abgeleistet und sind allesamt Christen entweder --
in einem Fall -- armenisch-katholischer oder arabisch- bzw. rum-orthodoxer
Religionszugehörigkeit. Ihre mindestens drei Monate lange Grundausbildung
absolvierten drei von ihnen in Sivas und die übrigen in Amazya, und ihren
anschließenden Dienst versahen sie in Samsun, Konya, Istanbul, Van, Agri und
Sarikamis. Alle sechs Zeugen haben glaubhaft bekundet, daß sie während ihrer
Militärzeit beschnitten worden sind, und zwar mit einer Ausnahme im Verlaufe der
Grundausbildung. Der Zeuge, der sich der Beschneidung in der Grundausbildung
noch entziehen konnte, hat dies nachvollziehbar auf ein gewisses Wohlwollen
seines Vorgesetzten zurückgeführt, das er durch die Reparatur von dessen
Fernsehapparat erlangt gehabt habe; dieser Zeuge wurde dann an seinem neuen
Standort Sarikamis beschnitten (78., S. 13). Die Zeugen sind ihren in sich
stimmigen und von den übrigen Verfahrensbeteiligten nicht in Zweifel gezogenen
Angaben zufolge jeweils im örtlichen Militärkrankenhaus beschnitten worden.
Einem wurde vorgetäuscht, daß er lediglich untersucht werde; er wurde sodann in
Vollnarkose versetzt und beschnitten (78., S. 3). Den anderen war klar oder wurde
spätestens von den Militärärzten eröffnet, daß sie beschnitten werden sollten.
Hiervon ließen sich die Ärzte auch nicht abbringen, obwohl drei der Zeugen ihnen
gegenüber äußerten, daß sie eine Beschneidung ablehnten; die Ärzte verwiesen
entweder auf einen ihnen erteilten Befehl oder auf die Regeln des Islam (78., S. 5,
7 u. 9). Einer der Zeugen gab an, er habe sich angesichts eines
vorausgegangenen Befehls des obersten Vorgesetzten am Standort und
anwesender Wachen nicht getraut, dem Arzt gegenüber eine Beschneidung zu
verweigern (78., S. 14). Und nur ein einziger der sechs Zeugen hat ausgesagt, daß
er sich nicht auf Befehl, sondern auf den Rat des Arztes hin habe beschneiden
lassen, weil er keinen anderen Ausweg gesehen habe, wenn er nicht jeden Tag
Prügel habe beziehen wollen (78., S. 11). Des weiteren haben fünf der Zeugen
nicht nur von ihrer eigenen Beschneidung, sondern darüber hinaus davon
berichtet, daß die übrigen ihnen bekannten christlichen Rekruten, die zum selben
Zeitpunkt einberufen worden waren oder in derselben Einheit Wehrdienst leisteten,
nahezu ausnahmslos während der Grundausbildung gegen ihren Willen
beschnitten worden seien; insoweit wurden für Sivas von einem Zeugen für seine
Dienstzeit zehn armenische Christen (78., S. 3) und von einem anderen für seine
Dienstzeit insgesamt ca. 30 Christen (78., S. 9) und für Amazya von drei Zeugen
jeweils für die eigene Dienstzeit ca. 35 bzw. 45 bzw. 30 christliche Rekruten
genannt (78., S. 4 f., 8 u. 12 f.). Einer der Zeugen hat ferner bekundet, daß er sich
nicht nur bei seinem Kompaniechef, sondern -- zusammen mit anderen
zwangsbeschnittenen Christen -- sogar bei dem ranghöchsten Offizier in Sivas
über den Eingriff erfolglos beschwert habe (78., S. 3); ein anderer Zeuge hat
angegeben, daß er sich bei seinem direkten Vorgesetzten ohne Erfolg zum
Zwecke einer Beschwerde bei dem nächsthöheren Vorgesetzten angemeldet habe
(78., S. 5), und ein dritter, daß er wegen Beleidigung seines direkten Vorgesetzten
Disziplinararrest erhalten habe, als er sich über diesen beim nächsthöheren
Vorgesetzten beschwert habe (78., S. 11).
Wenn nach alledem nunmehr davon auszugehen ist, daß es nicht nur in Agri,
sondern auch in Sivas, Amazya und Sarikamis zu Zwangsbeschneidungen von
christlichen Wehrpflichtigen gekommen ist, und zwar nicht lediglich von einzelnen
Personen, sondern seit dem Militärputsch offenbar von nahezu allen zu einem
bestimmten Dienstantrittstermin einberufenen Rekruten, so vermag der Senat
jedenfalls in bezug auf diese Standorte und auch für die Zukunft eine beachtliche
Wahrscheinlichkeit dafür nicht (mehr) zu verneinen, daß -- soweit eine
Beschneidung nicht sogar ausdrücklich befohlen wird -- christliche Wehrpflichtige
von Kameraden und insbesondere auch von Vorgesetzten mindestens derart
unter Druck gesetzt werden, daß sie einer Beschneidung regelmäßig nicht
ausweichen können (Hess.VGH, 26.03.1990 -- 12 UE 2702/86, 12 UE 2970/86, 12
UE 2997/86 u. 12 UE 2998/86 --, 23.04.1990 -- 12 UE 2579/85, 12 UE 2581/85 u.
12 UE 61/86 -- sowie 02.05.1990 -- 12 UE 1078/84, 12 UE 1116/84 u. 12 UE
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12 UE 61/86 -- sowie 02.05.1990 -- 12 UE 1078/84, 12 UE 1116/84 u. 12 UE
2784/87 --). Mit physischer oder psychischer Gewalt durchgeführte
Beschneidungen liegen als Eingriffe in die körperliche Integrität, die regelmäßig mit
einem stationären Aufenthalt im Militärkrankenhaus verbunden sind, und als
Maßnahmen, die die Opfer unter Mißachtung ihres religiösen und personalen
Selbstbestimmungsrechts zum bloßen Objekt erniedrigen und deshalb das
religiöse Existenzminimum berühren, über der Schwelle dessen, was -- auch mit
Blick auf die allgemein rauhen Umgangsformen innerhalb der türkischen Armee
(39., S. 5; 41., S. 5 f.; 77., S. 2 u. 5) -- noch als hinnehmbar angesehen werden
kann (ebenso OVG Nordrhein-Westfalen, 15.02.1990 -- 14 A 10082/87 --).
Derartige Beschneidungen knüpfen überdies erkennbar an die
Religionszugehörigkeit der Betroffenen an. Denn sie stellen nach ihrem inhaltlichen
Charakter objektiv und nicht nur aus der Sicht derjenigen, die sie anordnen oder
veranlassen, und derjenigen, die sie durchführen, einen ersten und
unabänderlichen äußeren Schritt zur zwangsweisen Bekehrung der Opfer zum
Islam dar; den Betroffenen wird damit nämlich die symbolhafte Aufnahme in die
islamische Gemeinschaft aufgenötigt, mag deren innere religiöse Einstellung allein
dadurch auch noch unberührt bleiben können (vgl. 39., S. 5).
Der Senat ist darüber hinaus aufgrund der ihm nunmehr vorliegenden
Erkenntnisse auch zu der Überzeugung gelangt, daß die betreffenden
Verfolgungsmaßnahmen dem türkischen Staat zuzurechnen sind (ebenso OVG
Nordrhein-Westfalen, 15.02.1990 -- 14 A 10082/87 --). Eine zurechenbare
Verfolgung liegt nämlich schon dann vor, wenn der Staat in der Armee
auftretenden asylrelevanten Übergriffen auf Wehrpflichtige nicht entgegenwirkt,
indem er beispielsweise präventive Vorkehrungen trifft, um Übergriffe zu
verhindern, und indem er, wenn solche Übergriffe gleichwohl vorkommen, den
Opfern Schutz gewährt und gegen pflichtwidrig Handelnde Sanktionen verhängt
(BVerwG, 22.04.1986 -- 9 C 318.85 u.a. --, BVerwGE 74, 160 = EZAR 202 Nr. 8).
Die Vielzahl der jetzt bekannt gewordenen Fälle von Zwangsbeschneidungen
christlicher Wehrpflichtiger während ihres Militärdienstes kann der militärischen
Führung nicht verborgen geblieben sein. Gleichwohl hat sie keinerlei Vorkehrungen
dafür getroffen, daß derartige Übergriffe in Zukunft unterbleiben, sondern sie
bietet hierzu offenbar weiterhin Gelegenheit in mehreren Militärkrankenhäusern, in
denen Beschneidungen ohne weiteres und gegen den Willen der Betroffenen
vorgenommen werden. Ebensowenig kann nach dem Ergebnis der
Beweisaufnahme vom 22. März 1990 (78.) und den sonst vorliegenden
Erkenntnisquellen noch festgestellt werden, daß den Betroffenen wenigstens im
nachhinein Schutz gewährt wird und daß diejenigen, die Beschneidungen
anordnen, veranlassen oder durchführen, prinzipiell zur Rechenschaft gezogen
werden (79., 81.). Schon bisher ist der Senat davon ausgegangen, daß die
Beschwerden von Soldaten in den unteren Rängen häufig nicht akzeptiert werden
und die Folgen einer Beschwerdeeinlegung für sie eher negativ seien, so daß sie
aus Angst oder wegen des sozialen Drucks in ihrer Einheit in der Praxis von der
Beschreitung des Beschwerdewegs meist absehen (41., S. 6; 56.; 57.; 61.; 77., S.
4). Diese Einschätzung haben einige der Zeugen bestätigt und dabei insbesondere
auch darauf hingewiesen, daß sie keine Chance für eine erfolgreiche Beschwerde
an höherer Stelle gesehen hätten, weil jeweils der Beschwerdeweg über den
direkten Vorgesetzten einzuhalten sei (78., S. 5 f., 7 u. 10), und daß wegen der
Kontrolle der Post auch die Einschaltung politischer Stellen nicht angezeigt
gewesen sei (78., S. 3). Darüber hinaus hat einer der Zeugen glaubhaft bekundet,
daß selbst der ranghöchste Vorgesetzte am Standort Sivas auf seine Beschwerde
hin nicht tätig geworden sei (78., S. 3); andere haben angegeben, daß ihre
Beschneidung nicht irgendein militärischer Unterführer, sondern der jeweilige
Kapitän (Hauptmann) ihrer Einheit selbst befohlen habe (78., S. 7 u. 13 f.). Wenn
schließlich der ranghöchste Vorgesetzte in Sivas auf eine Beschwerde hin
geäußert hat, es sei beschlossene Sache, in der Türkei einen islamischen
Einheitsstaat zu schaffen (78., S. 3), so bestätigt dies hinreichend deutlich, daß die
Militärführung offenbar dem Laizismus nicht mehr hinreichend Geltung verschafft
und vor dem Hintergrund der in der Türkei spürbaren Rückbesinnung auf
islamische Werte Übergriffe gegenüber christlichen Wehrpflichtigen nicht mehr
energisch genug unterbindet (56.; 61.; 74. S. 4; 77., S. 5). Nimmt man noch hinzu,
daß der Generalstab im Ramadan 1984 kollektiv gefastet hat und daß in letzter
Zeit Offiziere zum gemeinsamen Freitagsgebet aufgefordert haben (77., S. 5),
ferner daß der Staatsminister für das Amt für religiöse Angelegenheiten am 10.
November 1989 geäußert haben soll, es sei jetzt notwendig, die Christen zu
islamisieren (76., S. 18; vgl. dazu auch 61., S. 6), so liegen nunmehr die -- vom
Senat bisher vermißten (vgl. zuletzt vor allem Hess. VGH, 27.02.1989 -- 12 UE
839/85 --, 20.11.1989 -- 12 UE 2336/85 -- u. 04.12.1989 -- 12 UE 2652/85 u. 12 UE
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839/85 --, 20.11.1989 -- 12 UE 2336/85 -- u. 04.12.1989 -- 12 UE 2652/85 u. 12 UE
63/86 --) -- verwertbaren Tatsachen vor, die auf eine Förderung oder zumindest
Duldung von Zwangsbeschneidungen gegenüber christlichen Wehrpflichtigen
hindeuten. Denn einmal sind jetzt konkrete Fälle bekannt, in denen Beschwerden
eingereicht und bei höherer Stelle erfolglos geblieben sind, und zum anderen
finden sich Äußerungen verantwortlicher Personen in der Öffentlichkeit oder
gegenüber Betroffenen, die -- im Einklang mit entsprechenden Beschlüssen des
"Islamischen Rates" aus dem Jahr 1984 (vgl. 65.) -- den generellen Schluß auf eine
staatliche Politik zulassen, die den Umstand mindestens mit Wohlwollen sieht --
wenn nicht sogar gezielt herbeiführt --, daß sich Christen durch Drangsalierungen
auf verschiedensten Ebenen -- nicht nur beim Militär -- zur Ausreise veranlaßt
sehen (56.; 77., S. 4; vgl. auch 43., S. 7, u. 45, S. 4). Bei alledem bedarf es --
zumal keiner der Beteiligten das vorliegende Tatsachenmaterial angezweifelt oder
die Einholung weiterer Auskünfte oder gutachtlicher Stellungnahmen substantiiert
beantragt hat -- derzeit keiner diesbezüglichen weiteren Ermittlungen; denn
bereits auf der Grundlage der dem Senat vorliegenden Erkenntnisquellen steht
fest, daß gegenwärtig nicht (mehr) davon die Rede sein kann, daß der türkische
Staat im großen und ganzen erfolgreich das pflichtwidrige Handeln von
Militärangehörigen bekämpft und daß deshalb -- trotz Mißlingens einer lückenlosen
Verhinderung und Ahndung aller in seinem Machtbereich auftretenden Vorfälle --
seine asylrechtliche Verantwortlichkeit entfällt (Hess.VGH, 26.03.1990 -- 12 UE
2702/86, 12 UE 2970/86, 12 UE 2997/86 u. 12 UE 2998/86 --, 23.04.1990 -- 12 UE
2579/85, 12 UE 2581/85 u. 12 UE 61/86 -- sowie 02.05.1990 -- 12 UE 1078/84, 12
UE 1116/84 u. 12 UE 2784/87 --).
Indessen reichen die vorliegenden Feststellungen nicht für die Annahme aus, daß
christliche Wehrpflichtige allgemein mit einer Zwangsbeschneidung im Militär in
dem Sinne zu rechnen haben, daß daraus auf eine politische Kollektivverfolgung
aller Christen oder zumindest des abgegrenzten Kreises aller wehrpflichtigen
Gruppenangehörigen geschlossen werden könnte. Denn die Annahme einer
Gruppenverfolgung setzt eine Verfolgungsdichte voraus, die in quantitativer
Hinsicht die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen aufweist, daß
dabei nicht mehr nur von -- möglicherweise zahlreichen -- individuellen Übergriffen
gesprochen werden kann, sondern von einer ohne weiteres bestehenden aktuellen
Gefahr eigener Betroffenheit jedes Gruppenmitglieds (BVerwG, 08.02.1989 -- 9 C
33.87 --, EZAR 202 Nr. 15 = NVwZ-RR 1989, 502). Dafür genügen die bisher
lediglich für vier Standorte festgestellten Zwangsbeschneidungen von christlichen
Wehrpflichtigen für sich allein noch nicht, zumal aus einer politischen Verfolgung
der wehrpflichtigen Gruppenangehörigen nicht ohne weiteres eine
Kollektivverfolgung der Syrisch-Orthodoxen insgesamt entnommen werden könnte
(BVerwG, 24.08.1989 -- 9 B 301.89 --, NVwZ 1990, 80 = InfAuslR 1989, 348).
b) Darüber hinaus waren die Christen in der Türkei, insbesondere in der
Südosttürkei, in dem hier maßgeblichen Zeitraum auch keiner mittelbaren
staatlichen Kollektivverfolgung in der Weise ausgesetzt, daß sie von anderen
Bevölkerungsgruppen ihrer Religion und ihres christlichen Bekenntnisses wegen
verfolgt wurden und hiergegen staatlichen Schutz nicht erhalten konnten.
In diesem Zusammenhang ist es nicht erforderlich, die Ursachen der oben (unter
II. 2.) dargestellten Abwanderungsbewegungen aus den ursprünglich ausschließlich
oder zumindest überwiegend christlichen Dörfern nach Mardin und Midyat und vor
allem nach Istanbul und von dort aus ins Ausland im einzelnen zu ermitteln.
Tatsächlich sind die Christen den Anwerbeaktionen der westeuropäischen
Wirtschaft seit Beginn der 60er Jahre wohl dank ihrer besseren Ausbildung und
ihrer größeren Flexibilität eher gefolgt als die in der Südosttürkei lebenden Kurden
und haben dann nach und nach ihre Familien in die Bundesrepublik Deutschland
und in andere westeuropäische Länder nachgeholt. Eine gewisse Rolle mag
anfangs auch die allgemein in der Türkei zu beobachtende Landflucht gespielt
haben, die die Einwohnerzahl von Istanbul auf jetzt 8 bis 10 Millionen hat
anwachsen lassen (1., S. 111; 18., S. 20). Wie bereits oben (unter II. 2. a)
festgestellt, haben zudem viele Priester im Zuge der Gastarbeiterwanderung ihre
syrisch-orthodoxen Gemeinden im Tur'Abdin verlassen und sind gegen den Willen
der Kirchenleitung nach Europa und nach Übersee ausgewandert (40., S. 3; 45., S.
3), was zusätzlich zu einer Destabilisierung der gewachsenen Siedlungsstrukturen
der Christen in der Südosttürkei beigetragen hat. Schließlich haben auch die
Ereignisse um Zypern, im Libanon und im Iran sowie allenthalben feststellbare
Islamisierungstendenzen zu einer Verhärtung des Verhältnisses zwischen Christen
und muslimischen Kurden im Tur'Abdin beigetragen. Ungeachtet der im einzelnen
maßgeblichen Gründe für die Bevölkerungsbewegungen, die durchaus umstritten
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maßgeblichen Gründe für die Bevölkerungsbewegungen, die durchaus umstritten
sein mögen, wurde aber seit Mitte der 70er Jahre aus dem Gebiet um Midyat über
eine auffällige Zunahme schwerer Übergriffe der muslimischen Mehrheit (meist
Kurden) gegen Christen berichtet, und zwar über Morde, Mordversuche,
Entführungen, Zwangsbeschneidungen, Viehdiebstähle, Landwegnahmen,
Sachbeschädigungen und Plünderungen (vgl. dazu etwa: 1., S. 112 f. u. 115 f.; 3.,
S. 46 ff.; 5., S. 32 ff. u. 106 ff.; 11., S. 5 ff.; 14.; 16.; 32., S. 17 ff.). Gleichzeitig
wurde allgemein beanstandet, daß staatliche Stellen, wenn sie um Hilfe
angegangen wurden, entweder überhaupt nicht tätig geworden sind oder aber
sogar offen zum Ausdruck gebracht haben, sie lehnten es ab, Christen Schutz zu
gewähren (vgl. etwa: 4., S. 3 u. 5; 5., S. 34; 15.). Außerdem wurde betont, ähnliche
Gewalttaten Syrisch-Orthodoxer seien, wenn sie vereinzelt vorgekommen seien,
auch verfolgt worden (9., S. 21).
Bei der Frage nach den Ursachen für die danach seit Mitte der 70er Jahre vermehrt
feststellbaren Beeinträchtigungen der Christen durch die muslimische Bevölkerung
im Tur'Abdin werden teils die Auswirkungen der Verfolgung weniger schwerwiegend
dargestellt, teils die religionsbezogene Motivation der Verfolger bezweifelt und teils
die Einstellung der staatlichen Stellen zu diesen Maßnahmen der andersgläubigen
Mitbürger nicht so gewertet und eingeschätzt, daß den Christen der erforderliche
staatliche Schutz gegen private Übergriffe ihrer Religion wegen verwehrt wurde. So
bestätigen etwa auch andere als die bereits erwähnten Quellen gewalttätige
Auseinandersetzungen und existenzbedrohende Übergriffe im Südosten der Türkei
(2., S. 2; 17.) und die Gefahr administrativer Schikanen sowie die Schutzlosigkeit
gegenüber gesetzlosen Zuständen vor der Machtübernahme durch das Militär im
September 1980 (15.). Andererseits wird aber darauf hingewiesen, daß unter
schwierigen Lebensverhältnissen und der gesetzlosen Lage vor September 1980
auch die übrige Bevölkerung zu leiden gehabt habe, die Abwanderung aus dem
Tur'Abdin vorwiegend wirtschaftliche und soziale Gründe habe und die
Wanderungsbewegung bei den Christen nicht stärker sei als bei der übrigen
Bevölkerung (vgl. vor allem 18., S. 23 ff. u. 31 ff.). Während das Auswärtige Amt als
Ursachen für die Abwanderung neben religiösen Spannungen sowohl
wirtschaftliche Schwierigkeiten als auch die in Gewalttätigkeiten ausufernden
Streitigkeiten aus sprachlichen, sozialen und ethnischen Motiven nennt, räumt es
doch gleichzeitig ein, Christen hätten teilweise existenzbedrohende
Benachteiligungen erlitten und seien gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt
gewesen, gegen die ausreichender staatlicher Schutz besonders in schwer
zugänglichen ländlichen Gebieten häufig nicht habe gewährt werden können, so
daß praktisch die christliche Minderheit oftmals gewalttätigen Übergriffen schutzlos
preisgegeben gewesen sei (2., S. 2). Wenn Wiskandt bezweifelt, daß Christen aus
dem Tur'Abdin in wesentlich größerem Ausmaß als Kurden abgewandert sind (18.,
S. 23 ff., besonders S. 28), so fällt auf, daß er die Anzahl der in der Provinz Mardin
lebenden Syrisch-Orthodoxen aus einer offiziellen Einwohnerstatistik und eigenen
Berechnungen ableitet, während die oben (unter II. 2.) erwähnten Zahlenangaben
anderer Autoren zwar vorwiegend auf Schätzungen beruhen, aber insgesamt
zutreffender erscheinen, weil dort der Bevölkerungsrückgang bei den Christen zum
größten Teil durch die Nennung von Ortsnamen und exakten Einwohnerzahlen
belegt ist. Es mag zutreffen, daß die historischen Fakten in den epd-
Dokumentationen (5. u. 32.) nicht immer neutral dargestellt sind und die religiösen
Bezüge dort ebenso einseitig in den Vordergrund gestellt werden wie von Yonan
(1.) der Prozeß der Entwicklung einer assyrischen Nation. Abgesehen aber davon,
daß Wiskandt seine Befragungen offenbar ohne die in solchen Situationen wichtige
Vertrauensbasis zu den befragten Personen ohne Bekanntgabe seines Auftrags
durchgeführt hat, ist in seinem Gutachten an zahlreichen Stellen nachzuweisen,
daß seine Ausführungen nicht völlig frei sind von Vorverständnissen und
festliegenden persönlichen Positionen, die die Beantwortung der ihm gestellten
Fragen teilweise beeinflußt haben könnten (vgl. dazu im einzelnen 23., 24., 25.).
So wirft er der ersten epd-Dokumentation offen bewußte Zahlenmanipulation vor
(S. 27, 29), polemisiert gegen die "hiesige Lobby der Sürjannis" (S. 65) und
beschreibt die "Erfolge" der Militärregierung ohne jede Einschränkung (S. 20 ff.),
obwohl Vorbehalte gegen die Politik der Militärregierung angesichts zahlreicher
Proteste gegen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei zumindest
erwähnenswert gewesen wären.
Nach alledem vermag der Senat nicht festzustellen, daß die Christen in der Türkei
-- und zwar auch im Tur'Abdin -- in ihrer Gesamtheit in der Zeit bis zur
Machtübernahme der Militärs im September 1980 in der Weise mittelbar aus
religiösen Gründen verfolgt worden sind, daß sie als Angehörige der christlichen
Minderheit gewalttätigen Übergriffen mit Gefahren für Leib und Leben und die
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Minderheit gewalttätigen Übergriffen mit Gefahren für Leib und Leben und die
persönliche Freiheit durch die muslimische Bevölkerung ausgesetzt waren und der
türkische Staat diese Verfolgungsmaßnahmen entweder gebilligt oder zumindest
tatenlos hingenommen und damit den Christen den erforderlichen staatlichen
Schutz versagt hat. Die dargelegten Verhältnisse stellen sich allerdings so dar,
daß in zahlreichen Einzelfällen tatsächlich syrisch-orthodoxe Bewohner des
Tur'Abdin von muslimischen Mitbürgern umgebracht, verletzt, entführt oder
beraubt worden sind, ohne daß die zuständigen staatlichen Behörden hiergegen
eingeschritten sind, obwohl ihnen dies möglich gewesen wäre.
Nach der Machtübernahme durch die Militärs im September 1980 hat sich die
Sicherheitslage allgemein erheblich verbessert; dies hat sich nach allgemeiner
Einschätzung auch zugunsten der syrisch-orthodoxen Christen in Istanbul wie in
anderen Landesteilen ausgewirkt (vgl. dazu etwa: 18., S. 34; 21.; 26.; 27.; 28.; 33.;
35.; 37.). Das Auswärtige Amt hat dazu nach eingehenden Gesprächen mit
syrisch-orthodoxen Geistlichen unter Bezugnahme auf einen deutschsprachigen
Bericht in dem Organ der Erzdiözese der syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochien
in Europa vom Dezember 1982/Januar 1983 einen zunehmenden staatlichen
Schutz für die syrisch-orthodoxen Christen nach der Machtübernahme durch die
Militärs festgestellt (33.). Die Evangelische Gemeinde deutscher Sprache in der
Türkei berichtet davon, daß von der Geistlichkeit und von einzelnen
Gemeindemitgliedern immer wieder festgestellt werde, daß sich die Verhältnisse
nach dem 12. September 1980 gebessert hätten (26.). Die Sürjanni Kadim
berichtet, ihre Mitglieder befänden sich wie jeder andere türkische Bürger nach
dem 12. September 1980 "in Ruhe und in Sicherheit" (27.). Nach Auskunft der
Sachverständigen Dr. Harb-Anschütz hat sich nach dem 12. September 1980
auch in Istanbul der Lage der syrisch-orthodoxen Christen wesentlich verbessert
(28.). Zu demselben Ergebnis gelangten die Teilnehmer einer von der
Evangelischen Akademie Bad Boll im Mai 1983 veranstalteten Studienfahrt in die
Türkei (30., S. 7 u. 18). Soweit eine Verbesserung der Sicherheitslage mit den
entsprechenden Auswirkungen auf die Situation der Syrisch-Orthodoxen in Istanbul
bezweifelt wird (32., S. 17 ff.), fehlt es -- auch bei Berücksichtigung des
klägerischen Vorbringens vom 7. Juni 1984 (Bl. 29. d.A.) -- an genügend konkreten
Hinweisen darauf, daß sich tatsächlich entgegen der allgemeinen Lebenserfahrung
die in der Türkei in den letzten Jahren zu beobachtende Verbesserung der
Sicherheitslage nicht auch zugunsten der christlichen Bevölkerung ausgewirkt
haben könnte (im Ergebnis ebenso Bay. VGH, 29.11.1985 -- 11 B 85 C 35 --; VGH
Baden-Württemberg, 20.06.1985 -- A 13 S 221/84 -- u. 09.02.1987 -- A 13 S
709/86 --; OVG Bremen, 14.04.1987 -- 2 BA 28/85 u. 32/85 --; OVG Hamburg,
10.06.1987 -- Bf V 21/86 --; OVG Nordrhein-Westfalen, 19.02.1987 -- 18 A
10315/86 --; Hess. VGH, 30.08.1984 -- X OE 306/82 --, 22.02.1988 -- 12 UE
1071/84 -- NVwZ-RR 1988, 48, -- 12 UE 1587/84 u. 12 UE 2585/85 --, 26.03.1990 --
12 UE 2702/86, 12 UE 2970/86, 12 UE 2997/86 u. 12 UE 2998/86 -- sowie
23.04.1990 -- 12 UE 2579/85, 12 UE 2581/85 u. 12 UE 61/86 --).
3. Es kann auch nicht festgestellt werden, daß der Kläger zu 1) persönlich bereits
vor seiner Ausreise aus der Türkei in seinem Heimatdorf Tasköy (a) oder in
Istanbul (b) von asylerheblichen Übergriffen muslimischer Mitbürger betroffen war
und dagegen staatlichen Schutz nicht in Anspruch nehmen konnte. Ebensowenig
kann angenommen werden, daß der Kläger zu 1) damals schon in seiner
persönlichen Freiheit, in seiner körperlichen Unversehrtheit oder in seiner
Religionsfreiheit beeinträchtigt oder bereits so konkret bedroht war, daß ein
asylrelevanter Eingriff unmittelbar bevorstand, und er deswegen als vorverfolgt
anzusehen ist (c). Die Angaben des Klägers zu seinem Lebensschicksal und zu
den Gründen und Umständen seiner Ausreise aus der Türkei sind allerdings --
jedenfalls hinsichtlich des Herkunftsorts und der dortigen Lebensumstände -- im
wesentlichen glaubhaft.
Danach steht fest, daß der Kläger zu 1) in Tasköy (= Arbo, vgl. zu den
Ortsbezeichnungen 38., S. 76) geboren und dort bis zu seinem Wegzug nach
Istanbul im Jahr 1970, wenn auch mit Unterbrechungen, gelebt hat. Zwar ist in den
Personalpapieren des Klägers zu 1) (Bl. 39 der Bundesamtsakte 163/75113/80) als
Geburtsdatum 1954 und als Geburtsort Nusaybin eingetragen. Allerdings hat der
Kläger zu 1) bei seiner Vernehmung durch die Berichterstatterin am 18. Mai 1990
eindeutig bekundet, bereits 1949 in Tasköy geboren zu sein. Der Senat geht davon
aus, daß die Angaben des Klägers zu 1) zutreffend sind, weil -- wie dem Senat aus
der Praxis bekannt ist -- türkische Behörden häufig Provinz- oder
Bezirkshauptstädte als Geburtsort und auch das Datum der Registrierung der
Geburt einer Person als Geburtsdatum in die Personalpapiere eintragen. Der
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Geburt einer Person als Geburtsdatum in die Personalpapiere eintragen. Der
Senat nimmt ferner an, daß es sich bei dem 30 km südöstlich Midyat und sechs
km südlich des Klosters Mar Gabriel gelegenen Ort Tasköy um ein christliches Dorf
handelt, in dem in den 70er und Anfang der 80er Jahre etwa 30 und 1988 nur noch
vier bis acht christliche Familien lebten (38., S. 76; 70., S. 62), die bis 1981 von
dem Priester A A aus dem benachbarten Ort Harapali betreut wurden. Nach den
glaubhaften Bekundungen des Klägers am 18. Mai 1990 ist der Ort heute
entvölkert und die letzte Person etwa vor sechs Monaten ausgereist (Bl. 264 d.A.).
Ferner befinden sich in dem Ort Tasköy in der Kirche "Mar Dimet" mehrere
Patriarchen- und Bischofsgräber; mehrere Kirchenruinen sowie die Überreste des
Klosters "Mar Schimun" bezeugen die frühere Bedeutung, die der heute kleine Ort
besaß (38., S. 76). Der Senat hat außerdem die Überzeugung gewonnen, daß der
Kläger zu 1) vier Jahre die Schule in Tasköy besuchte, danach drei Jahre in dem
Kloster Mar Gabriel als Religionslehrer ausgebildet wurde, 1967 nach Tasköy
zurückkehrte und von 1968 bis 1. Februar 1969 in Enhil und danach für drei
Monate in Syrien als Religionslehrer tätig war, allerdings die ganze Zeit den
Schwerpunkt seiner Lebensbeziehungen in Tasköy hatte.
Der Senat konnte indessen nicht die Überzeugung gewinnen, daß der Kläger zu 1)
in Tasköy politische Verfolgung erlitten hat. Die Gründe, warum er und auch
zahlreiche andere christliche Familien Tasköy verlassen haben, erscheinen
vielgestaltig, rechtfertigen aber nicht die Annahme einer dortigen Verfolgung in
asylerheblicher Weise.
a) Soweit der Kläger zu 1) bei seiner Vernehmung am 18. Mai 1990 angegeben
hat, daß sein Onkel bei einem Überfall, als er seinen Bediensteten auf der Weide
zu Hilfe kommen wollte, schwer verletzt und danach Invalide wurde, hat er weder
konkrete Anhaltspunkte für die religiöse Motivation der Täter mitgeteilt, noch hat
er dargelegt, weshalb dieser Vorfall für ihn persönlich von asylerheblicher
Bedeutung gewesen ist, zumal eine vergleichbare Situation für ihn persönlich nie
eingetreten ist. Ebensowenig ist der von ihm vorgetragene Überfall auf seinen
Bruder, der dabei nicht verletzt wurde, für sein persönliches Verfolgungsschicksal
von asylerheblicher Bedeutung. Der Kläger zu 1) konnte bei umfassender Wertung
seiner Schilderung im Heimatdorf Tasköy ebenso unbehelligt leben wie in Enhil
oder während seiner Ausbildung im Kloster Mar Gabriel.
b) Auch für die Zeit nach dem Umzug des Klägers zu 1) nach Istanbul vermag der
Senat sowohl für die Zeit vor dem Militärdienst als auch danach -- den Militärdienst
leistete er ab März 1973 bis Oktober 1974 ab -- eine Verfolgung nicht zu bejahen.
Soweit der Kläger zu 1) angegeben hat, die Klage wegen eines Unfalles seines
Bruders, bei dem dieser verletzt worden war, nicht weiterverfolgt zu haben, weil er
vermutete, als Christ vor Gericht keine Aussicht auf Erfolg zu haben, fehlt es an
der Möglichkeit staatlicher Zurechenbarkeit, da der Kläger zu 1) keine konkreten
Anhaltspunkte, die seine Mutmaßung stützen könnten, vorgetragen und auch
nicht dargetan hat, sich bei dem Vorgesetzten des Richters oder an höherer Stelle
beschwert oder um Abhilfe nachgesucht zu haben. Soweit der Kläger zu 1)
vorgetragen hat, es habe Schwierigkeiten beim Betrieb seiner Schneiderei
gegeben, zum einen weil seine Kunden nur einen Teil des geforderten Preises
zahlten, zum anderen weil er auch mehrfach überfallen und ihm Geld
abgenommen worden sei, fehlt es an konkreten Indizien für die religiöse Motivation
der Kunden bzw. der Täter, da möglicherweise auch wirtschaftliche Beweggründe
maßgebend gewesen sein könnten. Hinzu kommt, daß es an der staatlichen
Zurechenbarkeit mangelt, weil der Kläger zu 1) nicht versucht hat -- was bei der
drohenden und von ihm behaupteten Existenzgefährdung nahegelegen hätte --
behördliche Hilfe in Anspruch zu nehmen oder den Rechtsweg zu beschreiten.
Soweit der Kläger zu 1) anführt, es habe Probleme gegeben, wenn er sein Kreuz
offen getragen habe, kann er daraus asylrechtlich nichts herleiten, weil das offene
Tragen von christlichen Symbolen nicht Bestandteil des sog. religiösen
Existenzminimums ist.
c) Schließlich hat der Kläger zu 1) auch während seiner Militärdienstzeit von März
1973 bis Oktober 1974, wobei er infolge seiner Erkrankung nur etwa sechs Monate
Dienst leistete, die übrige Zeit im Krankenhaus oder zuhause verbrachte und
schließlich nach 19 Monaten als untauglich entlassen wurde, keine asylerhebliche
Verfolgung erlitten. Soweit der Kläger zu 1) vorträgt, er sei von den Mitsoldaten
und den Vorgesetzten aufgefordert worden, Moslem zu werden und sich
beschneiden zu lassen und -- als er sich weigerte -- geschlagen und verstärkt zu
längeren Wachen sowie schweren Arbeiten herangezogen worden zu sein, fehlt es
teilweise an einem Eingriff in das religiöse Existenzminimum, auch konnte sich der
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teilweise an einem Eingriff in das religiöse Existenzminimum, auch konnte sich der
Kläger zu 1) den Versuchen einer Zwangsbekehrung offenbar erfolgreich erwehren.
Die vom Kläger zu 1) geschilderten Vorfälle können dem türkischen Staat
jedenfalls nicht in asylrechtlichem Sinne zugerechnet werden. Denn er hat nicht
dargetan, daß er gegen Übergriffe oder sonstige Versuche der Zwangsbekehrung
bei seinen Vorgesetzten oder an den seinen Vorgesetzten übergeordneten Stellen
vorstellig geworden ist oder sich beschwert hat. Eine asylrechtliche Zurechnung
scheitert unter diesen Umständen daran, daß, wie oben (II. 2. a cc, S. 29 f.) für die
Zeit vor dem Militärputsch dargestellt, Anhaltspunkte dafür nicht bestehen, daß
die militärische Führung derartige Übergriffe geduldet oder gefördert hat.
4. Der Senat konnte auch nicht die Überzeugung gewinnen, daß die Klägerin zu 2)
in Tasköy, wo sie geboren ist und bis 1977 gelebt hat, oder in Istanbul politische
Verfolgung erlitten hat. Abweichend von der Eintragung in ihren Personalpapieren
(Bl. 48 der Bundesamtsakte 163/75113/80), wonach die Klägerin zu 2) in Nusaybin
geboren ist, hat sie bei ihrer Vernehmung am 18. Mai 1990 glaubhaft bekundet, in
Tasköy geboren zu sein. Auch hier folgt der Senat wie bereits oben (II. 3. a)
ausgeführt, den insoweit glaubhaften Angaben der Klägerin zu 2). Soweit die
Klägerin zu 2) bei ihrer Vernehmung am 18. Mai 1990 denselben Vorfall wie der
Kläger zu 1) hinsichtlich eines Onkels, der verletzt worden war (s.o. II. 3. a)
angegeben hat, fehlt es ebenso an Anhaltspunkten dafür, weshalb dieser Vorfall
für sie persönlich von asylerheblicher Bedeutung gewesen sein soll. Auch die
Angaben der Klägerin zu 2) bei der Asylantragstellung, wonach eine Verwandte auf
dem Weg von Nusaybin in ein Nachbardorf überfallen und entführt und auch in
Istanbul zwei christliche Mädchen entführt worden seien, konnte sie bei ihrer
Vernehmung am 18. Mai 1990 die Vorfälle nicht näher konkretisieren, so daß für
ihr persönliches Verfolgungsschicksal nichts Asylerhebliches herzuleiten ist. Soweit
die Klägerin zu 2) schilderte, in ständiger Furcht vor Entführung sowohl in Tasköy
als auch in Istanbul gelebt zu haben, fehlen konkrete Anhaltspunkte dafür, daß für
sie die Gefahr einer Entführung unmittelbar bevorstand, da sie weitgehend
abgeschirmt gelebt und das Haus nie ohne Begleitung verlassen hat.
Hinsichtlich der Kläger zu 3) und 4) ist ebenfalls nicht davon auszugehen, daß sie
in asylrechtlich erheblicher Weise vorverfolgt waren. Eine Vorverfolgung der Kläger
zu 3) und 4) wurde im übrigen von den Klägern zu 1) und 2) nicht behauptet. Die
Kläger zu 3) und 4), die bei ihrer Ausreise knapp drei und eineinhalb Jahre alt
waren, konnten nach den Bekundungen ihrer Eltern in Istanbul unbehelligt leben.
5. Sind demnach die Kläger zu 1) bis 4) unverfolgt ausgereist und legt man
demzufolge den "normalen" Wahrscheinlichkeitsmaßstab an (vgl. BVerwG,
31.03.1981 -- 9 C 286.80 --, EZAR 200 Nr. 3 = DVBl. 181, 1096, 25.09.1984 -- 9 C
17.84 --, BVerwGE 70, 169 = EZAR 200 Nr. 12, u. 03.12.1985 -- 9 C 22.85 --, EZAR
202 Nr. 6 = NVwZ 1986, 760), so kann auch nicht festgestellt werden, daß ihnen
bei einer Rückkehr in die Türkei im jetzigen Zeitpunkt als Angehörigen einer
kollektiv verfolgten Gruppe politische Verfolgungsmaßnahmen drohen. Zwar hat
sich die Rechts- und Tatsachenlage seit der Ausreise der Kläger zu 1) bis 4) im Juni
1980 bzw. Mai 1981 verändert; hieraus kann aber auf eine gegenwärtige
Gruppenverfolgung der syrisch-orthodoxen Christen nicht geschlossen werden.
Was die Gestaltung des Religionsunterrichts an staatlichen Schulen angeht, so
sehen die Vorschriften des Art. 24 der 1982 in Kraft getretenen neuen türkischen
Verfassung vor, daß niemand gezwungen werden darf, an Gottesdiensten,
religiösen Zeremonien und Feiern teilzunehmen oder seine religiöse Anschauung
und seine religiösen Überzeugungen zu offenbaren (Abs. 3) und daß die Religions-
und Sittenerziehung und -lehre unter der Aufsicht und Kontrolle des Staates
durchgeführt werden und religiöse Kultur und Sittenlehre in den Grund- und
Mittelschulen zu den Pflichtfächern gehören (Abs. 4). Auf der Grundlage der
letztgenannten Verfassungsbestimmung ist in den Jahren 1982 bis 1985 der
bisherige Moralkundeunterricht mit dem Religionsunterricht zusammengelegt und
als Pflichtfach eingeführt worden (46., S. 5; 55.; 57., S. 9 ff.; 58., S. 5; 63., S. 20;
64, S. 5; 69.). Mit Beschluß vom 3. Oktober 1986, Nr. 28, des Erziehungs- und
Ausbildungsausschusses, der im Mitteilungsblatt des Ministeriums für nationale
Erziehung, Jugend und Sport vom 20. Oktober 1986, Nr. 2219, veröffentlich wurde
(Anlage zu 50.; 57., S. 21 ff.), wurden "allgemeine Prinzipien der Religionslehre und
des Ethikunterrichts" festgelegt und ein Ausbildungsprogramm für diese Fächer
verabschiedet. Danach ist der Grundsatz des Laizismus immer zu beachten und
zu schützen und darf niemand zu religiösen Handlungen gezwungen werden;
außerdem ist bestimmt, daß, wenn den Kindern die "nationale Moral gelehrt wird",
unter den Religionen nicht unterschieden wird, um den Kindern später die
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unter den Religionen nicht unterschieden wird, um den Kindern später die
Anpassung an die Gesellschaft zu erleichtern. Insgesamt kommt in dem
Ausbildungsprogramm zwar deutlich zum Ausdruck, daß der Islam die Religion der
Türkei und Mohammed ein Vorbild für die Türken sein soll (57., S. 28 ff.). Die nach
dem Verfassungsgrundsatz des Laizismus gebotene Distanz des türkischen
Staats gegenüber der islamischen Religion äußert sich aber darin, daß türkische
Schüler christlichen Glaubens das islamische Glaubensbekenntnis, die islamische
Einleitungsformel, die Glaubensformel Amentü, die Koranverse und das islamische
Ritualgebet Namaz nicht zu lernen und keine Kenntnisse über Namaz, Ramadan,
die Regeln über die islamischen Jahresspenden und das Pilgern nach Mekka zu
erwerben brauchen (vgl. Nr. 4 der Anlage zu 50. u. Nr. 4 in 57., S. 23). Durch
ergänzenden Beschluß vom 29. Januar 1987, Nr. 23, veröffentlich im
Mitteilungsblatt vom 9. Februar 1987, Nr. 2227, wurde zudem klargestellt, daß
christliche Schüler während der Behandlung der betreffenden Lehrinhalte nicht in
der Klasse anwesend sein müssen (57., S. 31 ff.). Nach alledem bieten die
gesetzlichen und die verwaltungsinternen Vorschriften, die auch Gegenstand eines
beim Höchsten Gerichtshof anhängigen Prozesses sind (63., S. 24 ff.), keine
Veranlassung für die Annahme, der türkische Staat greife zum jetzigen Zeitpunkt
unmittelbar in die Freiheit der religiösen Betätigung der Syrisch-Orthodoxen in
einer Weise ein, die die Menschenwürde oder das religiöse Existenzminimum
antastet. Davon abgesehen verfolgte die Einführung des staatlichen
Pflichtunterrichts in Ethik und Religion das Ziel einer Eindämmung der privaten
Koranschulen (20.; 57., S. 1) und läßt deshalb für sich keinen Rückschluß auf eine
damals und noch jetzt vorhandene Neigung staatlicher Stellen zur gezielten
Beeinträchtigung nichtmuslimischer Religionen zu. Auch eine mittelbare staatliche
Gruppenverfolgung läßt sich im Zusammenhang mit dem Religionsunterricht nicht
feststellen. Zwar mag in einigen Fällen von den Lehrkräften gegen die oben
behandelten Vorschriften verstoßen werden und es zu Diskriminierungen von
christlichen Schülern kommen mit der Folge, daß diese lieber an den islamischen
Gebeten teilnehmen (vgl. 34.; 45., S. 3; 50.; 57., S. 26 ff., 35 ff. u. 47 ff; 58., S. 5;
63. S. 20 f.; 64., S. 5 ff.; 69.; 75.; 76., S. 5). Abgesehen von der insoweit meist
fehlenden Intensität der einzelnen Maßnahmen sind die gelegentlichen Übergriffe
von Lehrkräften dem türkischen Staat asylrechtlich nicht zuzurechnen, weil auch
gegenwärtig Anhaltspunkte dafür, daß die Verantwortlichen an höherer Stelle
derartige dienstliche Verfehlungen fördern oder zumindest dulden, nicht
festgestellt werden können (vgl. 58., S. 5).
Den Klägern zu 1) bis 4) droht im Rückkehrfalle auch keine mittelbare staatliche
Gruppenverfolgung im Hinblick auf mögliche Übergriffe muslimischer Eiferer, und
zwar für den Kläger zu 1) außerhalb des Militärdienstes. Wie oben unter (II. 2. b)
ausgeführt, hatten die syrisch-orthodoxen Christen bis zur Ausreise der Kläger zu
1) bis 4) aus der Türkei im Juni 1980 bzw. Mai 1981 allgemein und insbesondere in
Istanbul eine derartige politische Verfolgung nicht zu befürchten. Hieran hat sich
im Ergebnis bis heute nichts geändert. Auch bei Berücksichtigung neuerer
Erkenntnisquellen hält der Senat an dieser Einschätzung fest. Insbesondere läßt
die insgesamt vorsichtig gehaltene und nach Straftaten differenzierende
Stellungnahme des Sachverständigen Oehring an das Verwaltungsgericht Kassel
vom 11. Juni 1988 (59.) nicht die Annahme zu, daß türkische Staatsbürger
christlichen Glaubens generell gegenüber Straftaten muslimischer Staatsbürger
strafrechtlichen Schutz nicht erhalten; entsprechend ist das Gutachten der
Gesellschaft für bedrohte Völker vom Dezember 1988 (63., S. 13 f.) zu würdigen.
Denn nach einer aktuellen Auskunft des Auswärtigen Amtes (72.) sind keine Fälle
bekannt worden, in denen christlichen Türken behördlicher Schutz durch
Abweisung ihrer Strafanzeigen versagt worden ist.
6. Für den Kläger zu 1) kann nicht zur Überzeugung des Senats festgestellt
werden, daß gerade ihm bei einer Rückkehr in seine Heimat im derzeitigen
Zeitpunkt politisch motivierte Einzelverfolgung droht.
Für die hinsichtlich des Rückkehrfalles anzustellende Prognose ist zu unterstellen,
daß der Kläger zu 1) allein in die Türkei zurückkehren wird. Zwar lassen
Familienmitglieder nach der Lebenserfahrung einander in Notsituationen nicht
mutwillig im Stich und geben einander nicht einem unsicheren Schicksal preis,
dessen erkennbar bedrohliche Folgen sie ohne eigene Gefährdung oder
übermäßige Anstrengung abwenden können, und deshalb spricht eine tatsächliche
Vermutung dafür, daß der Ehemann und Vater einer mit ihrem Asylbegehren
erfolglos gebliebenen Familie diese heimbegleitet, wenn sie ohne ihn einer
Existenzgefährdung ausgesetzt wäre (BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C 14.89 u. 9 C
15.89 --). Die genannte Vermutung gilt aber nur für das Verhältnis von Eltern zu
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15.89 --). Die genannte Vermutung gilt aber nur für das Verhältnis von Eltern zu
ihren noch sorgebedürftigen Kindern und von Eheleuten untereinander und
überdies nur dann, wenn nicht ihr entgegenstehende Tatsachen festgestellt sind
wie etwa die Anerkennung des Familienvaters als politisch Verfolgter oder dessen
erklärte Absicht, auf keinen Fall in das Herkunftsland zurückzukehren (BVerwG,
06.03.1990 -- 9 C 14.89 u. 9 C 15.89 --). Ferner wird davon auszugehen sein, daß
im Verhältnis der Eheleute untereinander, wenn es um die Rückkehr des Mannes
geht, die Rückkehrbereitschaft der Ehefrau von untergeordneter Bedeutung ist, da
die primäre Frage der Schutzgewährung durch die Ehefrau nicht in Erwägung zu
ziehen ist. Soweit es um die Frage geht, ob die Rückkehr der Ehefrau
Auswirkungen auf die Sicherung und Erlangung des notwendigen Unterhalts haben
könnte, bedarf es insoweit keiner Ermittlungen. Denn die bei einer Rückkehr in den
Heimatstaat möglicherweise zu erwartende existentielle Notlage ist nicht bei der
Entscheidung über die vorliegende Asylverpflichtungsklage, sondern nur bei der
Frage zu berücksichtigen, ob dem Kläger zu 1) ungeachtet der Ablehnung seines
Asylantrags der weitere Aufenthalt zu gestatten ist (Hess. VGH, 26.03.1990 -- 12
UE 2702/86 --).
Die Verfolgungsprognose ist für das gesamte Territorium des Heimatstaats
anzustellen; eine Beschränkung auf etwa den Geburts- oder den letzten
Herkunftsort ist nicht statthaft. Droht dem Asylsuchenden politische Verfolgung
nur in einem Teil des Heimatstaats, so kann er auf Gebiete verwiesen werden, in
denen er vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist, es sei denn, es drohen
dort andere Nachteile und Gefahren, die nach ihrer Intensität und Schwere einer
asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen
gleichkommen, sofern diese existentielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht
bestünde (BVerfG, 10.07.1989 -- 2 BvR 502/86 u.a. --, BVerfGE 79, 315 = EZAR
201 Nr. 20).
Eine gerade dem Kläger zu 1) im Rückkehrfalle außerhalb des Militärdienstes
drohende politische Verfolgung vermag der Senat derzeit weder in bezug auf das
Heimatdorf Tasköy des Klägers zu 1) festzustellen, wo dieser bis 1970, noch in
bezug auf Istanbul, wo er bis zu seiner Ausreise gelebt hat. Der Kläger zu 1)
könnte vielmehr in diesen beiden Orten ebenso wie anderswo in der Türkei ohne
unmittelbar drohende Gefahr politischer Verfolgung leben. Wie oben (unter II. 2., S.
34 f.) dargelegt, hat sich die Verbesserung der Sicherheitslage nach der
Machtübernahme durch die Militärs im September 1980 auch zugunsten der
Christen ausgewirkt. Offenbar gibt es aus jüngerer Zeit keine Bezugsfälle, in denen
männliche Christen im Alter des Klägers zu 1) ernsthaft an der Ausübung ihrer
Religion gehindert worden sind. Mithin kann nicht mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß der Kläger zu 1) im Rückkehrfalle
außerhalb des Militärdienstes von an seiner Religionszugehörigkeit anknüpfenden
Übergriffen muslimischer Türken betroffen und diesen Verfolgungsmaßnahmen
schutzlos ausgesetzt wäre.
Ebensowenig vermag der Senat eine dem Kläger zu 1) im Rückkehrfall drohende
politische Verfolgung festzustellen, solange der Kläger zu 1) aufgrund seines Alters
ferner noch der Wehrpflicht unterliegt (53.; 63., S. 15). Der Senat vermag
allerdings nicht mehr zu verneinen, daß einem christlichen Wehrpflichtigen
während der Militärzeit gegenwärtig mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine
Beschneidung gegen seinen Willen -- und damit individuelle Verfolgung -- droht
(Hess. VGH, 26.03.1990 -- 12 UE 2997/86 --). Der Kläger zu 1) ist aber der Gefahr
einer Zwangsbeschneidung nicht mehr ausgesetzt, da er als "untauglich" im Jahr
1974 aus dem Wehrdienst wegen seiner Erkrankung entlassen und, wie bei seiner
Vernehmung am 18. Mai 1990 durch die Berichterstatterin erkennbar war, seine
Bewegungsfähigkeit erheblich eingeschränkt ist, so daß auch eine Heranziehung
zu Wehrübungen aufgrund seiner Erkrankung ausgeschlossen erscheint.
Der Kläger zu 1) kann sich auch nicht erfolgreich darauf berufen, daß er bei seiner
Rückkehr keine Existenzmöglichkeit finden könne. Denn eine bei der Rückkehr in
den Heimatstaat möglicherweise zu erwartende existentielle wirtschaftliche
Notlage -- sei es aufgrund seiner Erkrankung oder aus anderen Gründen -- ist nicht
bei der Entscheidung über die vorliegende Asylverpflichtungsklage, sondern nur bei
der Frage zu berücksichtigen, ob ihm ungeachtet der Ablehnung des Asylantrages
der weitere Aufenthalt zu gestatten ist (vgl. Hess. VGH, 07.05.1990 -- 12 UE 54/85
m.w.N. --). Aus diesem Grunde ist auch dem die mangelnde Existenzmöglichkeit
betreffenden Beweisantrag zu 1), für dessen Bescheidung § 244 Abs. 3 und 4 StPO
entsprechend heranzuziehen ist (Hess. VGH, 18.1.1990 -- 12 TE 3536/88 m.w.N.
über Rechtsprechung und Literatur --), -- nicht nachzugehen, weil die behauptete
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über Rechtsprechung und Literatur --), -- nicht nachzugehen, weil die behauptete
Tatsache für die Entscheidung ohne Bedeutung ist. Dem Beweisantrag zu 2) ist
bereits deshalb nicht stattzugeben, weil der Kläger zu 1) nicht hinreichend
substantiiert dargelegt hat, daß sich der mesopotamisch-assyrische Kulturverein
in asylrechtlich relevanter Weise politisch betätigt und ihm, dem Kläger zu 1),
deshalb bei einer Rückkehr als Mitglied dieses Vereins und aufgrund seiner
Tätigkeit dort unter dem Aspekt des sogenannten Nachfluchttatbestandes an
seine Religionszugehörigkeit anknüpfende politische Verfolgung droht. Es gehört
zu den Mitwirkungspflichten eines Asylbewerbers, die seine Verfolgungsfurcht für
den Rückkehrfall begründenden Umstände so weit zu konkretisieren, daß eine
Beweiserhebung überhaupt geboten erscheint. Dazu gehört auch, das
Beweisthema so hinreichend zu umreißen, damit der für das Verfolgungsschicksal
asylrechtlich relevante Bezug deutlich wird (BVerwG, 23.11.1982 -- 9 C 74.81 --,
EZAR 630 Nr. 1; 8.5.1984 -- 9 C 14.83 --, EZAR 630 Nr. 13). Auch aus den dem
Senat vorliegenden Erkenntnisquellen (Landesamt für Verfassungsschutz Hessen
an VG Ansbach vom 07.01.1984, HMdI an Bundesamt vom 05.06.1984 u. AA an
VG Ansbach vom 12.07.1989) ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, daß die
Mitgliedschaft und die Tätigkeit in dem mesopotamisch-assyrischen Kulturverein
bei einer Rückkehr asylrechtlich relevant sein könnte.
7. Der Klägerin zu 2) droht indessen zur Überzeugung des Senats mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit asylrelevante Einzelverfolgung in Form ihrer Entführung und
anschließenden Zwangsbekehrung zum Islam (vgl. Hess. VGH, 23.08.1984 -- X OE
609/82 -- und 26.03.1990 -- 12 UE 2970/86 -- m.w.N.; a.A. OVG Rheinland-Pfalz,
06.09.1989 -- 13 A 118/89 -- u. OVG Nordrhein-Westfalen, 19.10.1989 -- 14 A
10258/87 -- sowie 07.12.1989 -- 14 A 10144/87 u. 14 A 10250/87 --, ferner --
jedoch ohne Auseinandersetzung mit den einschlägigen Erkenntnisquellen -- Bay.
VGH, 21.08.1989 -- 11 B 89.31003 --), wenn sie in Tasköy, in Istanbul oder
anderswo in der Türkei zu leben versuchte. Bei dieser Prognose läßt sich der Senat
nicht etwa von rein quantitativen oder statistischen Erwägungen leiten; sie ist
vielmehr das Ergebnis einer zusammenfassenden Bewertung des relevanten
Sachverhalts, wobei vor allem auch der Schwere des drohenden Eingriffs
erhebliche Bedeutung zuzumessen ist, so daß im Ergebnis die für eine Verfolgung
sprechenden Umstände größeres Gewicht besitzen als die dagegen sprechenden
(vgl. zum Prognosemaßstab insbesondere BVerwG, 23.02.1988 -- 9 C 32.87 --,
EZAR 630 Nr. 25).
Für die hinsichtlich des Rückkehrfalles anzustellende Prognose ist zu unterstellen,
daß die Klägerin zu 2) allein in die Türkei zurückkehren wird. Zwar lassen
Familienmitglieder -- wie oben (II. 6.) ausgeführt -- nach der Lebenserfahrung
einander in Notsituationen nicht mutwillig im Stich und geben einander nicht
einem unsicheren Schicksal preis, dessen erkennbar bedrohliche Folgen sie ohne
eigene Gefährdung oder übermäßige Anstrengung abwenden können, und deshalb
spricht eine tatsächliche Vermutung dafür, daß der Ehemann und Vater einer mit
ihrem Asylbegehren erfolglos gebliebenen Familie diese heimbegleitet, wenn sie
ohne ihn einer Existenzgefährdung ausgesetzt wäre (BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C
14.89 u. 9 C 15.89 --). In bezug auf die Klägerin zu 2) greift die vorgenannte
Vermutung schon deshalb nicht ein, weil ihrem Ehemann nach der derzeit gültigen
Erlaßlage aufenthaltsrechtlich ein Bleiberecht zusteht und er außerdem bei seiner
Vernehmung am 18. Mai 1990 (Bl. 265 d.A.) eindeutig und glaubhaft erklärt hat,
daß eine Rückkehr für ihn keinesfalls in Betracht komme.
Die Verfolgungsprognose ist für das gesamte Territorium des Heimatstaats
anzustellen; eine Beschränkung auf etwa den Geburts- oder den letzten
Herkunftsort ist nicht statthaft. Wer nämlich von nur regionaler politischer
Verfolgung betroffen ist, ist erst dann politisch Verfolgter im Sinne des Art. 16 Abs.
2 Satz 2 GG, wenn er dadurch landesweit in eine ausweglose Lage versetzt wird,
wenn er also in anderen Teilen seines Heimatstaats eine zumutbare Zuflucht nicht
finden kann (sog. inländische Fluchtalternative); dies setzt freilich voraus, daß der
Betroffene in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung
hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und
Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen
Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese
existentielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (BVerfG, 10.07.1989 -
- 2 BvR 502/86 u.a. --, BVerfGE 79, 315 = EZAR 201 Nr. 20, u. 10.11.1989 -- 2 BvR
403/84 u.a. --, EZAR 203 Nr. 5 = NVwZ 1990, 254). Ist jemand vor einer
regionalen, an seine Religionszugehörigkeit anknüpfenden politischen Verfolgung
geflohen, so ist er am Ort einer in Betracht kommenden Fluchtalternative auch
dann nicht hinreichend sicher vor politischer Verfolgung, wenn der Staat ihn durch
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dann nicht hinreichend sicher vor politischer Verfolgung, wenn der Staat ihn durch
eigene Maßnahmen daran hindert, das religiöse Existenzminimum zu wahren;
entsprechendes gilt, wenn die dort ansässige Bevölkerung die Wahrung des
religiösen Existenzminimums durch aktives, mit dem für alle geltenden Recht
unvereinbares Handeln unmöglich macht, ohne daß der Staat die nach seiner
Rechtsordnung hiergegen allgemein in Betracht kommenden Maßnahmen ergreift
(BVerfG, 10.11.1989 -- 2 BvR 403/84 u.a. --, a.a.O.).
Für die Klägerin zu 2) wird eine Rückkehrmöglichkeit nach Tasköy, wo sie geboren
und aufgewachsen ist, und nach Istanbul zu prüfen sein, wo sie zuletzt vor ihrer
Ausreise bei Familienangehörigen ihres Ehemannes gelebt hat. Indessen hat die
Klägerin zu 2) an beiden Orten mit asylrelevanten Übergriffen muslimischer Türken
zu rechnen, gegen die sie staatlichen Schutz nicht wirksam wird in Anspruch
nehmen können, und ein anderer Ort innerhalb ihres Heimatstaats, an dem sie vor
politischer Verfolgung hinreichend sicher und auch sonst nicht existentiell
gefährdet wäre, ist nicht ersichtlich.
In ihrem Geburtsort Tasköy kann sich die Klägerin zu 2) im Rückkehrfalle nicht
niederlassen, weil sich dort den Feststellungen des Senats zufolge (vgl. oben unter
II. 3.) keine christlichen Familien und keine näheren Verwandten der Klägerin zu 2)
mehr befinden, nachdem ihre Eltern und sämtliche Geschwister sich in Westeuropa
aufhalten. Es erscheint deshalb für die Klägerin zu 2) von vornherein als
aussichtslos, in einem Dorf, das zwischenzeitlich höchstwahrscheinlich von
Muslimen übernommen wurde, leben zu können.
Dagegen leben in Istanbul trotz der seit der Ausreise der Klägerin zu 2) aus der
Türkei fortgeschrittenen Abwanderung weiterhin syrisch-orthodoxe Christen in
größerer Anzahl. Wie bereits oben (unter II. 2.) ausgeführt, hat sich die
Sicherheitslage nach der Machtübernahme durch die Militärs im September 1980
landesweit und damit auch zugunsten der syrisch-orthodoxen Christen in Istanbul
erheblich verbessert. Der Senat teilt insoweit nicht die Auffassung des
Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz (10.10.1986 -- 11 A 131/86 --,
aufgehoben durch BVerwG, 06.10.1987 -- 9 C 13.87 --, EZAR 203 Nr. 4 = InfAuslR
1988, 57), daß Asylbewerbern, die in der Osttürkei von einer Gruppenverfolgung
betroffen worden seien und sich nicht länger in Istanbul aufgehalten hätten, dort
allgemein keine zumutbare Fluchtalternative zur Verfügung stehe, weil auch dort
gewaltsame Übergriffe gegenüber Christen nicht ausgeschlossen werden könnten
(vgl. dazu Hess. VGH, 30.05.1988 -- 12 UE 2514/88 --). Für den erkennenden
Senat steht jedoch nach Auswertung der ihm vorliegenden Berichte und
Gutachten (insbesondere 4.; 5., S. 23 ff. u. 43 ff.; 14.; 15.; 16.; 35.; 45., S. 5 f.; 66.;
70., S. 54 ff.; 76., S. 5 f.) über die Lage der Christen in Istanbul fest, daß
diejenigen, die in diese Stadt zuziehen, ohne dort auf die Unterstützung von
Verwandten oder Bekannten rechnen zu können, schon allgemein auf erhebliche
Schwierigkeiten bei der Sicherung ihrer wirtschaftlichen und religiösen Existenz
stoßen. Dabei wird es nach Überzeugung des Senats alleinstehenden Frauen noch
weitaus schwerer als etwa einem jüngeren Mann fallen, einen Arbeitsplatz und eine
Wohnung zu finden (48., S. 19; 64., S. 11; 70., S. 57). Die Bemühungen der
christlichen Kirchen, neu zuziehende Christen aufzunehmen und mit dem
Notwendigsten zu versorgen, sind begrenzt und im übrigen in den letzten Jahren
durch die große Zahl der christlichen Zuwanderer übermäßig in Anspruch
genommen worden (63., S. 30; 66.; 70., S. 52 f.; 76., S. 5).
Wenn eine aus dem Ausland zurückkehrende Christin jüngeren oder mittleren
Alters danach weder in ihrem Geburts- oder letzten Wohnort in der Südosttürkei
noch in Istanbul oder anderswo in der Türkei eine ausreichende materielle
Lebensgrundlage zu erreichen vermag, so wächst zugleich die Gefahr, Opfer von
Übergriffen Andersgläubiger, und zwar insbesondere von Entführungen durch
muslimische Männer, zu werden. Hiergegen können sich solche Christinnen, die
nicht in materiell gesicherten Verhältnissen leben und über keine
verwandtschaftlichen oder sonstigen gesellschaftlichen Anknüpfungspunkte
verfügen, regelmäßig nicht wirksam schützen. Sie sind nämlich, da der Sozialhilfe
vergleichbare staatliche Leistungen in der Türkei nicht gewährt werden (62.; 67.;
68.; 71.), darauf angewiesen, sich nach ihrer Rückkehr allein -- also ohne den
Schutz eines männlichen Begleiters -- in der Türkei zu bewegen, um
möglicherweise eine Unterkunft und eine Arbeitsstelle zu erlangen und die sonst
anfallenden lebensnotwendigen Besorgungen zu erledigen (vgl. zu den
besonderen Problemen der Flüchtlingsfrauen auch den Beschluß Nr. 39 (XXXVI)
des Exekutiv-Komitees für das Programm des UNHCR von 1985 und Gebauer, ZAR
1988, 120). Ohne Kontaktaufnahme mit anderen Menschen werden
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1988, 120). Ohne Kontaktaufnahme mit anderen Menschen werden
entsprechende Bemühungen selbstverständlich keinen Erfolg haben, und dabei
wird an der Sprache, spätestens aber bei der Nennung des Namens und bei der
Vorlage der Personalpapiere wegen des daraus ersichtlichen Geburtsorts die
christliche Religionszugehörigkeit deutlich, die im Nüfus zudem ausdrücklich
eingetragen ist. Bei der Vielzahl von Versuchen, die allein und ohne
verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkt zurückkehrende Christinnen
erfahrungsgemäß unternehmen müssen, bis sie eine Unterkunft und einen
Arbeitsplatz gefunden haben, wird zwangsläufig eine größere Anzahl Personen von
ihrer Religion und ihrer persönlichen Situation Kenntnis erhalten. Regelmäßig
werden sie nur dort unterkommen können, wo bereits andere Zuwanderer aus der
Osttürkei leben. Dies alles schafft für sie eine besondere Gefahrenlage, zumal das
Risiko für potentielle Entführer deshalb gering ist, weil es mangels Verwandter des
Opfers an Personen fehlt, die ihre Tat überhaupt zur Anzeige bringen könnten.
Wenn Christinnen danach auch nicht als solche auf der Straße zu erkennen sein
mögen, so droht ihnen doch aufgrund der zuvor dargelegten Umstände, sofern sie
zur Sicherung ihrer wirtschaftlichen Lebensgrundlage und ihrer gesellschaftlichen
Stellung nicht ausnahmsweise aus anderen Gründen imstande sind, mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit Entführung durch muslimische Männer. Die
vorliegenden Berichte über Entführungen von Mädchen und Frauen (5., S. 33 ff. u.
47 ff.; 11., S. 4 f., 7 u. 9; 22., S. 9; 35., S. 20; 64., S. 11) und die Erkenntnisse, die
der Senat aus in jüngerer Zeit entschiedenen Berufungsverfahren erlangt hat,
belegen überzeugend die nach wie vor und auch in Istanbul bestehende hohe
Entführungsgefahr. So ist eine in Istanbul lebende Christin von einem Muslimen,
der von Arbeitskolleginnen ihre Anschrift erfahren hatte, in der elterlichen
Wohnung aufgesucht und gewaltsam zum Mitkommen gezwungen worden; auf der
Straße gelang ihr dann allerdings die Flucht (Hess. VGH. 05.12.1988 -- 12 UE
2487/85 -- (Abdruck S. 41 ff.)). Eine andere Christin, die morgens in Istanbul von
ihrem Onkel zur Arbeitsstelle begleitet wurde, wurde bei dieser Gelegenheit von
Muslimen entführt (Hess. VGH, 06.02.1989 -- 12 UE 2584/85 -- (Abdruck S. 39)).
Schließlich kam es zur Entführung einer Christin, die mit einer Freundin in Istanbul
auf den Prinzeninseln spazierenging (Hess. VGH, 17.10.1988 -- 12 UE 2601/84 --
(S. 32 f.)). Sind demnach sogar Entführungen von Christinnen häufig, die mit
schutzbereiten Personen -- insbesondere eingebunden in ihre Familie -- in Istanbul
leben, so zwingt dies unter den in der Türkei insgesamt obwaltenden
Lebensumständen nach Überzeugung des Senats zu der Schlußfolgerung, daß
wirtschaftlich, sozial und gesellschaftlich ungesicherten alleinstehenden
Christinnen in weit höherem Maße, nämlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit,
Entführung droht. Daß über Entführungen solcher Frauen verhältnismäßig wenig
Tatsachenmaterial vorliegt, erklärt sich daraus, daß es alleinlebende Frauen
jüngeren oder mittleren Alters in der Türkei aufgrund der dort herrschenden
traditionellen Familienstrukturen (vgl. 70., S. 50 f.) tatsächlich selten geben dürfte
und Entführungsfälle der Öffentlichkeit kaum bekannt werden. Von einer solchen --
an sich wenig realistischen -- Situation muß hier aber aus den oben aufgezeigten
rechtlichen Gründen prognostisch ausgegangen werden. Der beachtlich
wahrscheinlichen Entführung folgt mit derselben Wahrscheinlichkeit regelmäßig die
Aufnahme in den Haushalt des Entführers und/oder die Heirat mit ihm, und damit
ist notwendig der Wechsel der Religionszugehörigkeit für die nichtmuslimische Frau
verbunden. Dem wird sich die betroffene Christin auch in großstädtischen
Verhältnissen grundsätzlich nicht entziehen können, weil der Entführer sie, um ihre
Flucht zu verhindern, jedenfalls zunächst in seinem Haus festhalten und ihr keine
Möglichkeit eröffnen wird, Kontakt nach außen aufzunehmen.
Die Entführung und der ihr zwangsläufig nachfolgende aufgenötigte Übertritt zum
Islam sind ihrer Intensität nach als Verfolgung zu qualifizieren. Dadurch wird nicht
nur die persönliche Freiheit des Opfers beschränkt, sondern zugleich -- in ähnlich
schwerer Weise -- in dessen sexuelles und religiöses Selbstbestimmungsrecht
eingegriffen; denn infolge der auf zwangsweise Bekehrung gerichteten
Einwirkungen kann die betroffene Frau ein an ihrer Religion ausgerichtetes Leben
nicht mehr führen und ist ihr ein vom Glauben geprägtes "Personsein" nicht einmal
mehr im Sinne eines religiösen Existenzminimums gestattet, weil sie ihren
Glauben im privaten oder im nachbarlich-kommunikativen Bereich nicht bekennen
darf und tragende Inhalte ihrer Glaubensüberzeugung verleugnen oder gar
preisgeben muß (BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C 14.89 --). Übergriffe der
vorgenannten Art knüpfen auch erkennbar an die Religionszugehörigkeit des
Opfers an, denn sie führen nach ihrem inhaltlichen Charakter objektiv und nicht nur
aus der subjektiven Sicht derjenigen, die sie vornehmen, zur Aufgabe des eigenen
christlichen Glaubens und zur zwangsweisen Übernahme des islamischen. Dem
steht nicht entgegen, daß Frauen muslimischen Glaubens ebenfalls entführt
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steht nicht entgegen, daß Frauen muslimischen Glaubens ebenfalls entführt
werden, weil die Täter -- auf die von diesen objektiv verfolgte Zielrichtung und nicht
auf die Position des türkischen Staats kommt es insoweit an (BVerwG, 14.03.1984
-- 9 B 412.83 --, Buchholz 402.25 Nr. 20 zu § 1 AsylVfG) -- bei der Entführung einer
christlichen Frau bewußt deren Schutzlosigkeit als einer alleinstehenden
Angehörigen einer religiösen Minderheit ausnutzen und deshalb den Übertritt zum
Islam zumindest auch in Anknüpfung an deren religiöse Grundentscheidung
betreiben (vgl. BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C 14.89 --).
Der türkische Staat muß sich die alleinstehenden Christinnen drohenden
Übergriffe unter Berücksichtigung der dem Senat vorliegenden Unterlagen (vgl.
etwa 5., S. 33 ff. u. 47 ff.; 11., S. 4 f., 7 u. 9; 22., S. 9; 35., S. 20; 64., S. 11) als
mittelbare staatliche Verfolgung asylrechtlich zurechnen lassen. Allerdings ist eine
Verantwortlichkeit des Staats für Verfolgungsmaßnahmen Dritter nur dann
anzunehmen, wenn diese auf eine Anregung des Staats zurückgehen oder doch
dessen Unterstützung oder Billigung genießen oder wenn er sie tatenlos hinnimmt
(BVerfG, 02.07.1980 -- 1 BvR 147/80 u.a. --, BVerfGE 54, 341 = EZAR 200 Nr. 1;
BVerwG, 02.08.1983 -- 9 C 818.81 --, BVerwGE 67, 317 = EZAR 202 Nr. 1). Danach
genügt der Staat zwar den asylrechtlich an ihn zu stellenden Anforderungen, wenn
er mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln im großen und ganzen Schutz
gewährt, auch wenn dieser Schutz nicht lückenlos ist, weil seine Bemühungen mit
unterschiedlicher Effektivität greifen; Übergriffe sind dem Staat jedoch
asylrechtlich zurechenbar, wenn er ihnen nicht entgegenwirkt, indem er präventive
Vorkehrungen unterläßt, um sie zu verhindern, und indem er, wenn sie gleichwohl
vorkommen, weder den Opfern Schutz gewährt noch gegen die Täter Sanktionen
verhängt (vgl. BVerwG, 22.04.1986 -- 9 C 318.85 u.a. --, BVerwGE 74, 160 = EZAR
202 Nr. 8, u. 02.07.1986 -- 9 C 2.85 --, Buchholz 402.25 Nr. 49 zu § 1 AsylVfG).
Diese asylrechtlichen Anforderungen an die staatliche Sicherheitspolitik folgen
unmittelbar aus der staatlichen Schutzverpflichtung gegenüber den eigenen
Staatsangehörigen. Danach kann der Senat aufgrund der ihm vorliegenden
Erkenntnisse auch unter Berücksichtigung der neuesten einschlägigen
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (06.03.1990 -- 9 C 14.89 --) eine
asylrechtliche Verantwortlichkeit des türkischen Staats für die alleinstehenden
Christinnen im Falle ihrer jetzigen Rückkehr drohende Entführung und für den
dieser zwangsläufig nachfolgenden aufgenötigten Übertritt zum Islam nicht
verneinen. Insbesondere kann auch auf der Grundlage der im vorangegangenen
Absatz und eingangs dieses Absatzes getroffenen Feststellungen nicht darauf
abgestellt werden, daß es sich bei den alleinstehenden Christinnen, denen es nicht
gelingt, Wohnung, Arbeit und ein sie sicherndes gesellschaftliches Umfeld zu
finden, und die deshalb besonderes gefährdet sind, nur um Einzelfälle handele, in
denen der Staat keinen Schutz gewähren müsse (so BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C
14.89 --, allerdings auf einer "schmaleren" und nur bis Januar 1988 reichenden
tatsächlichen Erkenntnislage). Denn allein in ihr Heimatland zurückkehrende
Christinnen ohne dortigen persönlichen Anknüpfungspunkt befinden sich -- wie
oben dargelegt -- typischerweise in der Situation, daß sie weder Unterkunft noch
Arbeit noch soziale Kontakte haben; sie sind demzufolge regelmäßig der Gefahr
einer Entführung mit den beschriebenen Konsequenzen ausgesetzt, und unter
diesen Umständen würde es die Ausgrenzung einer ganzen Untergruppe aus der
Verantwortlichkeit des Staates bedeuten, wollte man ihn insoweit von seiner
Schutzpflicht freistellen. Im Hinblick darauf, daß effektiver Schutz im nachhinein
praktisch kaum möglich ist, weil erfolgte Entführungen von allein und in
wirtschaftlicher Not in der Türkei lebenden Christinnen in der Regel gar nicht zur
Kenntnis staatlicher Stellen gelangen werden, da dem Opfer verbundene
Angehörige, die Anzeige erstatten könnten, ja gerade nicht vorhanden sind,
müssen dem türkischen Staat in besonderem Maße präventive Vorkehrungen
abverlangt werden, bevor er von seiner diesbezüglichen Verantwortlichkeit
entlastet werden kann. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß gerade infolge der
allenthalben zunehmenden Islamisierung bei staatlichen Stellen die Neigung
abzunehmen scheint, der mit dem islamischen Religionsverständnis eher als mit
dem christlichen vereinbaren Entführungspraxis konsequent entgegenzuwirken.
Zwar werden Entführungen allgemein tatsächlich nur schwer zu verhindern sein,
soweit nicht ausnahmsweise und rein zufällig Organe der Polizei oder anderer
staatlicher Stellen Zeugen sind. Indessen könnte der Staat etwa z.B. dadurch
präventiv tätig werden, daß er alleinstehenden Christinnen das zum Leben
Notwendige zur Verfügung stellt und damit ihre besondere Gefährdungslage auf
das allgemeine Maß herabmindert. Derartige Vorkehrungen sind den vorliegenden
Erkenntnisquellen indessen nicht zu entnehmen; vielmehr werden in der Türkei der
Sozialhilfe vergleichbare Leistungen gerade nicht bzw. in der Weise gewährt, daß
die hier betroffene Bevölkerungsgruppe nicht davon profitieren kann (62.; 67.; 68.;
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die hier betroffene Bevölkerungsgruppe nicht davon profitieren kann (62.; 67.; 68.;
71.). Nach alledem genügt der türkische Staat insgesamt mit seinem staatlichen
Sicherheits- und Schutzsystem hinsichtlich der besonders gefährdeten
Untergruppe allein zurückkehrender Christinnen ohne verwandtschaftlichen
Anknüpfungspunkt den ihm obliegenden -- insbesondere präventiven --
Verpflichtungen nicht, so daß ihm Übergriffe auf derartige Personen grundsätzlich
zuzurechnen sind. Diese Auffassung des erkennenden Senats hat im Ergebnis
schon der früher für Asylsachen allein zuständige 10. Senat des Hessischen
Verwaltungsgerichtshofs (23.08.1984 -- X OE 609/82 --) vertreten, und sie ist
seither weder von der Beklagten zu 1) noch vom Bundesbeauftragten für
Asylangelegenheiten in tatsächlicher Hinsicht substantiiert angegriffen worden, so
daß insoweit keine Veranlassung zu weiteren Ermittlungen besteht. Die
Einschätzung widerspricht auch nicht den oben (unter II. 4.) getroffenen
Feststellungen, daß sich die Sicherheitslage nach der Machtübernahme durch die
Militärs im September 1980 allgemein erheblich verbessert und daß sich dies auch
zugunsten der syrisch-orthodoxen Christen in Istanbul und in anderen Landesteilen
ausgewirkt habe. Denn die Situation, in der sich allein zurückkehrende Christinnen
ohne verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkt in der Türkei befinden,
unterscheidet sich von der Lage aller übrigen türkischen Staatsangehörigen
christlichen Glaubens in den bereits angesprochenen Punkten erheblich, und
deshalb ist trotz der allgemein verbesserten Sicherheitslage ihre Situation
praktisch unverändert geblieben. Nach alledem hängt die Möglichkeit eines
verfolgungsfreien Lebens für allein zurückkehrende Christinnen jüngeren und
mittleren Alters entscheidend von ihrem wirtschaftlichen und sozialen Status und
von sonstigen persönlichen Voraussetzungen -- etwa von Schul- und beruflicher
Bildung, von Sprachkenntnissen und von ihrer Arbeitsfähigkeit -- ab.
Angesichts dieser allgemein christlichen Frauen, die allein und ohne gesicherte
wirtschaftliche Lebensgrundlage in die Türkei zurückkehren, drohenden
Gefährdung ist festzustellen, daß der Klägerin zu 2) unter Berücksichtigung ihrer
persönlichen Verhältnisse, Kenntnisse und Beziehungen ein verfolgungsfreies
Leben in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht möglich sein wird. Sie
verfügt dort über keinen verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkt mehr, nachdem
ihre Eltern und Geschwister sowie ihr Ehemann und dessen nähere Verwandte
verstorben oder ausgereist sind. Es ist von der Beklagten zu 1) oder dem
Bundesbeauftragten auch nicht dargetan oder aus dem Vorbringen der Klägerin zu
2) sonst ersichtlich, daß sie über andere konkrete Beziehungen zu in der Türkei
lebenden Christen verfügt, die ihr den Aufbau einer Existenz und damit ein
verfolgungs freies Leben ermöglichen oder in anderer Weise dazu beitragen
könnten, daß die Klägerin zu 2) unbehelligt an irgendeinem Ort in der Türkei leben
kann. Die Klägerin zu 2) verfügt lediglich über aramäische Sprachkenntnisse; sie
hat ihren glaubhaften Angaben zufolge weder eine Schule besucht noch eine
Berufsausbildung erhalten, sondern war Zeit ihres Lebens in der Türkei lediglich
unterstützend in der Landwirtschaft und im Haushalt tätig; in Istanbul hat sie zwar
von 1977 bis zu ihrer Ausreise gelebt, jedoch ihren Bekundungen zufolge
weitgehend abgeschirmt; dies zeigt sich auch darin, daß sie bei ihrer Vernehmung
am 18. Mai 1990 über die vom Kläger zu 1) geschilderten Vorfälle bezüglich der
Schneiderei offensichtlich keine Kenntnis hatte und sie darüber vom Kläger zu 1)
nicht unterrichtet worden war. Die Klägerin zu 2), die sich bei ihrer Vernehmung
am 18. Mai 1990 weder ihres Alters noch ihres Heiratsdatums oder dem des
Umzugs nach Istanbul sicher war, ist deshalb aufgrund ihrer Persönlichkeit und
ihres Bildungsstandes -- selbst wenn ihr Ehemann oder andere Verwandte dazu
bereit und in der Lage sein sollten, zu ihrer Unterstützung gewisse Geldbeträge in
die Türkei zu überweisen -- nicht in der Lage, sich im Rückkehrfalle allein eine
Existenz irgendwo in der Türkei aufzubauen, und infolgedessen mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Entführung durch muslimische Türken mit
anschließender Zwangsbekehrung ausgesetzt. Daß sie mittlerweile 30 Jahre alt
und verheiratet ist, ändert an dieser Einschätzung nichts. Denn angesichts der
vom Islam erlaubten Polygynie sind Muslime nicht nur an der Entführung junger
Mädchen, sondern auch an Frauen mittleren Alters interessiert, um diese alsdann
etwa Haushalts- und sonstige anfallende Arbeiten verrichten zu lassen (vgl. 22., S.
9).
Soweit die Klägerin zu 2) sich darauf beruft, bei einer Rückkehr keine
Existenzmöglichkeit aufzufinden, und zum Beweis hierzu die Einholung von
Sachverständigengutachten beantragt hat, ist dem Beweisantrag zu 1) ebenso
wenig stattzugeben wie dem der Kläger zu 3) und 4), weil sie die Kläger zu 2) bis 4)
als Asylberechtigte -- was hinsichtlich der Kläger zu 3) und 4) noch unten
auszuführen sein wird -- anzuerkennen sind, und die Klärung der unter Beweis
81
auszuführen sein wird -- anzuerkennen sind, und die Klärung der unter Beweis
gestellten Tatsache der Existenzgefährdung für die Entscheidung ohne Bedeutung
ist (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO analog).
Im Hinblick darauf, daß die Klägerin zu 2) unverfolgt ausgereist ist und sich die ihr
im Rückkehrfalle drohende Verfolgung mithin als sog. Nachfluchttatbestand
darstellt, weist der erkennende Senat auf folgendes hin: Nach der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts (26.11.1986 -- 2 BvR 1058/85 --, BVerfGE 72, 51 =
EZAR 200 Nr. 18, 17.11.1988 -- 2 BvR 442/88 --, InfAuslR 1989, 31, u. 08.03.1989 -
- 2 BvR 627/87 --, Bay.VBl. 1989, 561) setzt das Asylgrundrecht des Art. 16 Abs. 2
Satz 2 GG von seinem Tatbestand her grundsätzlich den Zusammenhang
zwischen Verfolgung und Flucht voraus und kann deshalb grundsätzlich nicht auf
sog. subjektive Nachtfluchttatbestände erstreckt werden, die der Asylbewerber
risikolos vom gesicherten Ort aus durch eigenes Tun geschaffen hat; etwas
anderes gelte -- als allgemeine Leitlinie -- nur dann, wenn die selbstgeschaffenen
Nachfluchttatbestände sich als Ausdruck und Fortführung einer schon während des
Aufenthalts im Heimatstaat vorhandenen und erkennbar betätigten Überzeugung
darstellten. Diese Rechtsprechung ist im Schrifttum zwar vorwiegend auf Kritik
gestoßen (vgl. u.a. Brunn, NVwZ 1987, 301; J. Hofmann, ZAR 1987, 115; J.
Hofmann, DÖV 1987, 491; R. Hofmann, NVwZ 1987, 295; Huber, NVwZ 1987, 391;
Kimminich, JZ 1987, 194; Wolff, InfAuslR 1987, 60; Wollenschläger/Becker, ZAR
1987, 51, 54 f.). Dennoch hat sich das Bundesverwaltungsgericht ihr
zwischenzeitlich unter Hinweis auf die seiner Ansicht nach insoweit bestehende
Bindungswirkung gemäß § 31 BVerfGG angeschlossen und ausgeführt, seine
frühere Rechtsprechung zu den subjektiven Nachfluchttatbeständen sei überholt
und die Vorschrift des § 1a AsylVfG laufe für solche Nachfluchttatbestände leer, die
nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schon vom
Anwendungsbereich des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG ausgeschlossen seien, und
regele für die beachtlichen Nachtfluchttatbestände darüber hinaus, daß
bestimmte, ihre Herbeiführung betreffende Umstände bei der Asylentscheidung
außer Betracht zu bleiben hätten (BVerwG, 19.05.1987 -- 9 C 184.86 --, BVerwGE
77, 258 = EZAR 200 Nr. 19, 20.10.1987 -- 9 C 147.86 --, 20.10.1987 -- 9 C 42.87 --
, InfAuslR 1988, 22, 22.06.1988 -- 9 B 65.88 --, InfAuslR 1988, 255, 22.06.1988 -- 9
B 189.88 --, InfAuslR 1988, 254, u. 06.12.1988 -- 9 C 91.87 --, InfAuslR 1989, 135).
Außerdem hat das Bundesverwaltungsgericht die vom Bundesverfassungsgericht
aufgestellten Grundsätze im Hinblick auf weitere Fallgruppen selbstgeschaffener
Nachfluchttatbestände präzisiert -- etwa bezüglich der Asylantragstellung
(30.08.1988 -- 9 C 80.87 --, InfAuslR 1988, 337, 30.08.1988 -- 9 C 20.88 --, InfAuslR
1989, 32, 25.10.1988 -- 9 C 50.87 --, InfAuslR 1989, 173, 17.01.1989 -- 9 C 56.88 --
, BVerwGE 81, 170 = EZAR 200 Nr. 23, u. 11.04.1989 -- 9 C 53.88 --) sowie
bezüglich sog. aktiver oder passiver Republikflucht (vgl. einerseits 06.12.1988 -- 9
C 22.88 --, InfAuslR 1989, 169, andererseits 21.06.1988 -- 9 C 5.88 --, EZAR 201
Nr. 14 = NVwZ 1989, 68) -- und dabei entschieden, daß auch eine wegen dieser
Verhaltensweisen im Rückkehrfalle drohende politische Verfolgung wie ein
selbstgeschaffener Nachfluchtgrund zu behandeln und deshalb asylrechtlich
unbeachtlich sei, wenn der Ausländer sich nicht bereits im Zeitpunkt seines
diesbezüglichen Verhaltens in einer politisch bedingten Zwangslage befunden hat,
als deren Erscheinungsform sich eine "latente Gefährdungslage" darstelle, in der
keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung bestehe. Der Senat hat zur Frage der
Asylerheblichkeit selbstgeschaffener Nachfluchttatbestände ebenso wie zu der
einer möglichen Bindung an die betreffende Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (kritisch hierzu VGH Baden-Württemberg, 19.11.1987 -
- A 12 S 761/86 --, NVwZ-RR 1989, 46) bisher noch nicht grundsätzlich Stellung
genommen. Der vorliegende Fall bietet ebenfalls keine Veranlassung für eine
diesbezügliche Grundsatzentscheidung. Denn es fehlt schon an der vom
Bundesverfassungsgericht zugrunde gelegten Ausgangssituation, daß der
Asylbewerber den Nachfluchttatbestand risikolos vom gesicherten Ort aus durch
eigenes Tun geschaffen hat; die den Asylanspruch der Klägerin zu 2)
begründenden Umstände sind nämlich nicht von ihr selbst -- etwa durch ihre
Ausreise -- herbeigeführt worden, sondern allein dadurch entstanden, daß auch
ihre übrigen Verwandten bzw. diejenigen ihres Ehemannes, die zur Zeit ihrer
eigenen Ausreise noch in der Türkei lebten und sie im Rückkehrfalle hätten
aufnehmen können, zwischenzeitlich ebenfalls die Türkei verlassen haben und daß
insbesondere ihr Ehemann zu einer Rückkehr nicht bereit ist (dahin tendierend
auch BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C 14.89 --). Selbst wenn man gleichwohl die für
subjektive Nachfluchttatbestände entwickelten Maßstäbe anwenden wollte, stünde
dies im vorliegenden Fall einer Asylanerkennung der Klägerin zu 2) nicht entgegen,
weil sie sich schon vor ihrer Ausreise, also erst recht im insoweit maßgeblichen
Zeitpunkt des Entstehens des "Nachfluchtgrundes", in der Türkei zur Überzeugung
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Zeitpunkt des Entstehens des "Nachfluchtgrundes", in der Türkei zur Überzeugung
des Senats in einer latenten Gefährdungslage befunden hat. Hierbei ist zu
bedenken, daß sich die persönliche Situation der Klägerin zu 2) (nur) insofern
verändert darstellt, als sie vor ihrer Ausreise den Schutz des Familienverbandes
ihres Ehemannes genoß, mithin weder für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen
mußte noch ohne männliche Begleitung die Wohnung zu verlassen brauchte,
während sie im Falle ihrer -- prognostisch zugrundezulegenden -- jetzigen
alleinigen Rückkehr den vorgenannten Schutz entbehren müßte. Dies führt auch
für die Klägerin zu 2) zu der vom Senat -- übrigens ebenso in den anderen bisher
entschiedenen und oben (S. 49) angeführten vergleichbaren Fällen, soweit dort
nicht sogar Vorverfolgung gegeben war -- vertretenen Einschätzung, daß schon
vor der Ausreise eine latente Gefährdungslage gegeben war, in der zwar keine
hinreichende Sicherheit vor Verfolgung, aber auch keine beachtliche
Wahrscheinlichkeit für eine solche Verfolgung bestand, und daß deshalb keine
Vorverfolgung anzunehmen ist, daß aber infolge der veränderten tatsächlichen
objektiven Situation bei der jetzt anzustellenden Prognose für den Rückkehrfall von
der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer der Klägerin zu 2) drohenden Entführung
und anschließenden Zwangsbekehrung zum Islam ausgegangen werden muß.
8. Den Klägern zu 3) und 4) droht bei einer Rückkehr in die Türkei nach
Überzeugung des Senats ebenfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
asylrelevante Verfolgung.
Auch bei ihnen ist hinsichtlich der Verfolgungsprognose zu unterstellen, daß sie
allein in die Türkei zurückkehren werden. Die an sich bestehende tatsächliche
Vermutung, daß der Ehemann und Vater einer mit ihrem Asylbegehren erfolglos
gebliebenen Familie diese heimbegleitet, wenn sie ohne ihn einer
Existenzgefährdung ausgesetzt wäre (vgl. oben II. 6.), greift schon deshalb nicht
ein, weil dem Vater der Kläger zu 3) und 4) nach der Erlaßlage ein Bleiberecht
zusteht und weil ihre Mutter, die Klägerin zu 2), -- wie im vorausgegangenen
Abschnitt dargelegt -- ebenfalls Asylrecht genießt. Darüber hinaus haben die Eltern
der Kläger zu 3) und 4) bei ihrer diesbezüglichen Vernehmung am 18. Mai 1990
(Bl. 265 u. 267 d.A.) eindeutig erklärt, daß eine Rückkehr für sie keinesfalls in
Betracht komme, und deshalb kann auch nicht angenommen werden, daß die
Kläger zu 3) und 4) wenigstens zusammen mit einem Elternteil als "Rumpffamilie"
in die Türkei zurückkehren werden (vgl. hierzu BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C 14.89 u.
9 C 15.89 --).
Für die hier zu treffende Verfolgungsprognose ist das Alter der Kläger zu 3) und 4)
insofern von Bedeutung, als die Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung für einen
absehbaren Zeitraum nach dem jetzigen Zeitpunkt beurteilt werden muß. Insofern
kann davon ausgegangen werden, daß zumindest der elf Jahre alte Kläger zu 4)
auch in der Türkei noch schulpflichtig ist. Wie oben (unter II. 2. a u. 5.) im einzelnen
ausgeführt, kann indessen die Pflicht zur Teilnahme am islamischen
Religionsunterricht nicht als asylrelevante Verfolgung christlicher Schüler
angesehen werden. Da aber im vorliegenden Fall die Kläger zu 3) und 4) weder im
Heimatdorf der Kläger zu 1) und 2) noch sonstwo in der Türkei über
aufnahmebereite Verwandte verfügen (vgl. oben unter II. 7.), ist mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit zu befürchten, daß ihnen wegen der ihnen unter diesen
Umständen im Rückkehrfalle notwendigerweise bevorstehenden Aufnahme in
einem staatlichen türkischen Waisenhaus die zwangsweise Aufgabe ihres
christlichen Glaubens droht (vgl. Hess. VGH, 26.03.1990 -- 12 UE 2970/86 m.w.N. -
-; a.A. OVG Nordrhein-Westfalen, 07.12.1989 -- 14 A 10144/87 u. 14 A 10250/87 --
).
Wenn ein syrisch-orthodoxes minderjähriges Kind allein in die Türkei zurückkehrt
und sich seine Eltern und Verwandten allesamt im Ausland befinden, werden
Versuche der syrisch-orthodoxen Kirche, es in einer christlichen Familie oder in
einem Kloster unterzubringen, aufgrund der gegenüber nicht verwandten Personen
nur sehr eingeschränkten Aufnahmebereitschaft und aufgrund der -- infolge der
fortlaufenden Abwanderung -- stark begrenzten Kapazitäten regelmäßig erfolglos
bleiben (vgl. 51.; 52.; 54., S. 1 ff.; 60., S. 5; 64., S. 11; 66., S. 2; 70., S. 51 f., 57 u.
60; 76., S. 5). In eigene Sozialeinrichtungen, insbesondere Waisenhäuser, kann die
syrisch-orthodoxe Kirche alleinstehende Minderjährige nicht aufnehmen, da sie
solche Einrichtungen in der Türkei nicht betreiben darf (58., S. 4; 60., S. 5; 63., S.
7). Die entsprechenden Einrichtungen anderer christlicher Konfessionen in der
Türkei sind auf die Fürsorge für eigene Kirchenmitglieder beschränkt, und deshalb
ist ihnen die Aufnahme syrisch-orthodoxer Kinder legal nicht möglich (51.; 52.; 54.,
S. 8; 60., S. 6). Danach müssen alleinstehende syrisch-orthodoxe Minderjährige,
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S. 8; 60., S. 6). Danach müssen alleinstehende syrisch-orthodoxe Minderjährige,
sofern nicht ausnahmsweise von Gerichts wegen eine Privatperson -- dann aber
regelmäßig muslimischen Glaubens -- zum Vormund bestellt wird (60., S. 7), mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, in ein staatliches türkisches
Waisenhaus eingewiesen zu werden (54., S. 5). Die Verhältnisse in solchen
Waisenhäusern entsprechen nicht unseren Standards (31.). Zwar sind die Erzieher
auf die kemalistisch-laizistische Staatsideologie verpflichtet, andererseits aber
auch von den islamischen Vorstellungen der Bevölkerungsmehrheit geprägt (51.;
52.; 54., S. 5 f. u. 8 f.). Wenn auch Kontakte des Kindes zur syrisch-orthodoxen
Kirche nicht gewaltsam unterbunden werden dürften (51.; 52.), so führen der in der
Einrichtung herrschende Druck und die Angst vor Benachteiligungen letztlich doch
dazu, daß das Kind selbst von einer solchen Kontaktaufnahme Abstand nehmen
wird (54., S. 9; vgl. auch 60., S. 6). Auf keinen Fall ist gewährleistet, daß syrisch-
orthodoxe Kinder in staatlichen türkischen Waisenhäusern im christlichen Sinne
erzogen werden (31.; 54., S. 5 u. 7); insbesondere können sie nicht an einer
Unterweisung durch syrisch-orthodoxe Religionslehrer oder an syrisch-orthodoxen
Gottesdiensten teilnehmen (54., S. 7; 60., S. 7); die Erhaltung ihrer religiösen
Identität ist somit nicht möglich (60., S. 6). Inwieweit Repressalien, Schläge und
Ehrverletzungen durch muslimische Altersgenossen von den Aufsichtspersonen
unterbunden oder geahndet werden, hängt weitgehend von deren persönlicher
Einstellung und Durchsetzungskraft ab (52.; 54., S. 11 f.; vgl. auch 60., S. 6).
Die Aufnahme in ein staatliches türkisches Waisenhaus führt demnach für ein
syrisch-orthodoxes Kinder zwangsläufig zum Verlust seines christlichen Glaubens
(vgl. zu den besonderen Problemen der Flüchtlingskinder auch den Beschluß Nr.
47 (XXXVIII) des Exekutiv-Komitees für das Programm des UNHCR von 1987). Dies
ist rechtlich als asylrelevanter Eingriff in die Religionsfreiheit zu qualifizieren, und
zwar unabhängig davon, ob ein Vorteil für das Kind darin zu erblicken sein mag,
daß durch die Waisenhausunterbringung wenigstens sein Lebensunterhalt
sichergestellt ist und es nicht gleichsam "auf der Straße" leben muß (vgl. hierzu
BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C 14.89 u. 9 C 15.89 --). Gleichwohl wird nämlich bei
Kindern, die -- wie die Kläger zu 3) und 4) -- bisher in einem christlichen
Familienverband aufgewachsen ist und deshalb zweifellos eine eigene, ihnen
bewußte religiöse Identität besitzen, durch die ihnen in einem staatlichen
türkischen Waisenhaus widerfahrende Behandlung in das religiöse
Existenzminimum eingegriffen. Dieses umfaßt die Religionsausübung im häuslich-
privaten Bereich, wie etwa den häuslichen Gottesdienst, aber auch die Möglichkeit
zum Reden über den eigenen Glauben und zum religiösen Bekenntnis im
nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich, ferner das Gebet und den
Gottesdienst abseits der Öffentlichkeit in persönlicher Gemeinschaft mit anderen
Gläubigen dort, wo man sich nach Treu und Glauben unter sich wissen darf
(BVerfG, 01.07.1987 -- 2 BvR 478/86 u.a. --, BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20,
u. 10.11.1989 -- 2 BvR 403/84 u.a. --, EZAR 203 Nr. 5 = NVwZ 1990, 254). Es mag
dahinstehen, ob ein syrisch-orthodoxes Kind in einem staatlichen türkischen
Waisenhaus Gelegenheit zum privaten Gebet findet; jedenfalls ist ihm von dort aus
nach den im vorstehenden Absatz getroffenen Feststellungen eine Teilnahme an
einem syrisch-orthodoxen Gottesdienst nicht möglich, und mindestens deshalb ist
sein religiöses Existenzminimum im Waisenhaus nicht gewährleistet. Der Senat
verkennt nicht, daß die Intensität des Eingriffs je nach dem Alter der betroffenen
Minderjährigen unterschiedlich sein wird. So dürften ältere Kinder durch die ihnen
in einem staatlichen türkischen Waisenhaus auferlegten Einschränkungen insofern
stärker betroffen werden, als sie diese infolge ihrer längeren christlichen Erziehung
subjektiv als einschneidender empfinden; andererseits werden sie aufgrund ihrer
meist ausgeprägteren religiösen Überzeugung eher in der Lage sein, trotzdem
innerlich an ihrem Glauben festzuhalten. Demgegenüber werden jüngere Kinder
zwar mehr unbewußt, dafür aber auch ohne effektive Abwehrmöglichkeit den
Verlust ihrer christlichen Erziehung ertragen müssen. Das religiöse
Existenzminimum wird zur Überzeugung des Senats freilich in allen diesen Fällen
angetastet. Dieser Umstand ist auch nicht -- wie das Bundesverwaltungsgericht
auf einer "schmaleren" und nur bis Anfang 1988 reichenden tatsächlichen
Erkenntnislage angenommen hat (06.03.1990 -- 9 C 14.89 u. 9 C 15.89 --) --
lediglich die Konsequenz eines asylrechtlich irrelevanten Anpassungsprozesses,
dem ein zielgerichtetes Verhalten nicht zu entnehmen sei. Allerdings schützt das
Asylrecht nicht vor einer Entwicklung, die sich für den einzelnen als Folge einer sich
verändernden Situation seiner Umwelt und seiner Lebensbedingungen in seinem
Heimatland ergibt (BVerwG, 15.02.1984 -- 9 CB 191.83 --, EZAR 203 Nr. 2 =
Buchholz 402.25 Nr. 18 zu § 1 AsylVfG, u. 06.03.1990 -- 9 C 14.89 u. 9 C 15.89 --).
Indessen kommt auch einem derartigen Anpassungsdruck Verfolgungscharakter
zu, wenn der Betroffene in bezug auf seine religiöse Überzeugung und Betätigung
zu, wenn der Betroffene in bezug auf seine religiöse Überzeugung und Betätigung
mit einer zwangsweisen Umerziehung, mit Zwangsassimilation oder mit einer auf
Unterwerfung ausgerichteten gezielten Disziplinierung zu rechnen hat (BVerwG,
31.03.1981 -- 9 C 6.80 --, BVerwGE 62, 123 = EZAR 200 Nr. 6, u. 06.03.1990 -- 9 C
14.89 u. 9 C 15/89 --). So aber stellt sich die Situation in staatlichen türkischen
Waisenhäusern für syrisch-orthodoxe Kinder nach den dem Senat derzeit
vorliegenden Erkenntnisquellen dar. Zunächst ist zu berücksichtigen, daß im Falle
alleiniger Rückkehr die Aufnahme in das Waisenhaus und demzufolge auch die dort
stattfindende Behandlung gegen den Willen des Kindes und seiner Eltern erfolgen,
da ihnen aufgrund der gegebenen tatsächlichen Verhältnisse insoweit keine Wahl
bleibt. Die im Waisenhaus demnach erfolgende zwangsweise Erziehung stellt sich
auch als "Umerziehung" dar, weil christliche Kinder dort nach den Erkenntnissen
des Senats und nach der Lebenserfahrung gleichsam "rund um die Uhr" unter
indoktrinierender islamischer Bevormundung stehen (54., S. 7; 60., S. 6),
demzufolge die elementaren Möglichkeiten christlicher Religionsausübung nicht
haben und deshalb notwendigerweise ihren christlichen Glauben verlieren werden
(dahin neigend auch OVG Nordrhein-Westfalen, 19.10.1989 -- 14 A 10258/87 --).
Mit der -- asylrechtlich irrelevanten -- Situation christlicher Schüler während des
islamischen Religionsunterrichts (vgl. oben unter II. 2. a u. 5.) ist die Lage der in
Waisenhäusern untergebrachten christlichen Minderjährigen schon hinsichtlich des
zeitlichen Umfangs nicht vergleichbar, denn für letztere besteht überhaupt keine
Möglichkeit mehr -- auch nicht in der Familie und außerhalb des Schulunterrichts --
, im christlichen Glauben erzogen zu werden und aufzuwachsen. Erst recht haben
christliche Kinder dort, eben weil sogleich mit der Waisenhausaufnahme ihr
religiöses Existenzminimum angetastet wird, mehr zu ertragen als muslimische
Kinder, die ebenfalls ohne elterliche Betreuung in einem staatlichen türkischen
Waisenhaus großgezogen werden. Christliche Kinder werden in diesem Falle in
ähnlich einschneidender Weise betroffen, wie dies der früher für Asylsachen allein
zuständige 10. Senat des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs für afghanische
Kinder im Falle einer ihnen aufgezwungenen atheistischen und kommunistischen
Erziehung und Ausbildung in der Sowjetunion angenommen hat (Hess. VGH,
19.12.1985 -- 10 UE 1647/84 -- u. 03.06.1986 -- 10 OE 40/83 --; offengelassen von
BVerwG, 27.02.1987 -- 9 C 264.86 --). Der hiernach mit der Aufnahme in ein
staatliches türkisches Waisenhaus für syrisch-orthodoxe Kinder verbundene Eingriff
in die Religionsfreiheit ist dem türkischen Staat auch zuzurechnen. Zwar mag
dieser asylrechtlich nicht gehalten sein, die Einweisung christlicher Kinder in die
bestehenden Einrichtungen zu verhindern oder gar christliche Waisenhäuser zu
errichten; auch wird der türkische Staat nicht ohne weiteres in der Lage sein,
muslimisches Eiferertum und daraus resultierende Übergriffe gegenüber
Christenkindern lückenlos abzustellen (vgl. hierzu BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C 14.89
u. 9 C 15.89 --). Eingriffe in das religiöse Existenzminimum, seien sie nun
unmittelbar oder nur mittelbar staatlicher Art, sind dem türkischen Staat aber
auch dann zurechenbar, wenn er ihnen nicht entgegenwirkt, indem er
beispielsweise präventive Vorkehrungen trifft, um Übergriffe zu verhindern, und
indem er, wenn solche Übergriffe gleichwohl vorkommen, den Opfern Schutz
gewährt und gegen pflichtwidrig Handelnde Sanktionen verhängt (vgl. BVerwG,
22.04.1986 -- 9 C 318.85 u.a. --, BVerwGE 74, 160 = EZAR 202 Nr. 8; ferner
BVerfG, 10.11.1989 -- 2 BvR 403/84 u.a. --, EZAR 203 Nr. 5 = NVwZ 1990, 254). Im
Hinblick darauf, daß -- ähnlich wie bei allein in die Türkei zurückkehrenden
christlichen Frauen ohne verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkt (vgl. oben unter
II. 7.) -- effektiver Schutz im nachhinein praktisch kaum möglich ist, weil nach im
Waisenhaus erfolgter zwangsweiser Aufgabe des Glaubens das Kind selbst keine
Beschwerde führen wird und hierzu bereite Angehörige sich gerade nicht in der
Türkei befinden, muß der türkische Staat in besonderem Maße präventiv tätig
werden. Dies könnte dadurch geschehen, daß er durch Rechts- und/oder
Verwaltungsvorschriften -- etwa vergleichbar den zum Religionsunterricht
ergangenen (vgl. oben II. 2. a bb) -- sicherstellt, daß christliche Kinder, die in
staatliche türkische Waisenhäuser eingewiesen sind, dort von allen religiösen
Übungen und Handlungen islamischer Art freigestellt werden und ausreichenden
Freiraum zum Gebet und zum Gespräch mit Glaubensgenossen haben und daß
sie insbesondere ohne Angst vor gravierenden Nachteilen Kontakt zur syrisch-
orthodoxen Kirche halten und an kirchlichen Gottesdiensten in persönlicher
Gemeinschaft mit anderen Gläubigen ihrer Konfession teilnehmen können.
Derartige Vorkehrungen hat der türkische Staat ausweislich der dem Senat
vorliegenden Erkenntnisquellen bisher nicht getroffen; vielmehr nimmt er die
christlichen Kinder in den von ihm betriebenen Waisenhäusern widerfahrende
Behandlung mindestens billigend in Kauf. Dies im Rückkehrfall bis zum Eintritt ihrer
Volljährigkeit zu erdulden, kann den Klägern zu 3) und 4) nicht abverlangt werden.
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Selbst wenn man der Auffassung wäre, die Klägerin zu 3) hätte die ihr in einem
staatlichen türkischen Waisenhaus drohenden Einschränkungen überhaupt oder
doch für die begrenzte Zeit bis zu ihrer Volljährigkeit hinzunehmen, so stünde ihr
dennoch Asyl zu. Dasselbe gilt für den Fall, daß sie der türkische Staat entgegen
der Einschätzung des Senats gar nicht in ein Waisenhaus einweisen sollte und sie
deshalb gezwungen wäre, gleichsam auf der Straße zu leben. Denn dann droht der
Klägerin zu 3) zur Überzeugung des Senats mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
asylrelevante Einzelverfolgung in Form ihrer Entführung und anschließenden
Zwangsbekehrung zum Islam (vgl. Hess. VGH, 23.08.1984 -- X OE 609/82 -- u.
26.03.1990 -- 12 UE 2970/86 m.w.N. --; a.A. OVG Rheinland-Pfalz, 06.09.1989 -- 13
A 118/89 -- u. OVG Nordrhein-Westfalen, 19.10.1989 -- 14 A 10258/87 -- sowie
07.12.1989 -- 14 A 10144/87 u. 14 A 10250/87 --, ferner -- jedoch ohne
Auseinandersetzung mit den einschlägigen Erkenntnisquellen -- Bay. VGH,
21.08.1989 -- 11 B 89.31003 --), wenn sie in Tasköy, dem Heimatdorf ihrer Eltern,
in Istanbul oder anderswo in der Türkei zu leben versuchte. Bei dieser Prognose
läßt sich der Senat nicht etwa von rein quantitativen oder statistischen
Erwägungen leiten; sie ist vielmehr das Ergebnis einer zusammenfassenden
Bewertung des relevanten Sachverhalts, wobei vor allem auch der Schwere des
drohenden Eingriffs erhebliche Bedeutung zuzumessen ist, so daß im Ergebnis die
für eine Verfolgung sprechenden Umstände größeres Gewicht besitzen als die
dagegen sprechenden (vgl. zum Prognosemaßstab insbesondere BVerwG,
23.02.1988 -- 9 C 32.87 --, EZAR 630 Nr. 25). Hinsichtlich der Klägerin zu 3) stellt
sich die Situation in gleicher Weise dar wie bei der Klägerin zu 2), so daß insoweit
auf die Ausführungen hinsichtlich der Klägerin zu 2) vollinhaltlich darauf Bezug
genommen werden kann (s. II. 7.). Angesichts dieser allgemein christlichen Frauen,
die allein und ohne gesicherte wirtschaftliche Lebensgrundlage in die Türkei
zurückkehren drohende Gefährdung ist festzustellen, daß der Klägerin zu 3) unter
Berücksichtigung ihrer persönlichen Verhältnisse, Kenntnisse und Beziehungen ein
verfolgungsfreies Leben in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ebenfalls
nicht möglich sein wird. Sie verfügt dort über keinen verwandtschaftlichen
Anknüpfungspunkt mehr. Da die Klägerin zu 3) bereits im Alter von drei Jahren
ausgereist ist, verfügt sie auch über keine anderen konkreten Beziehungen zu in
der Türkei lebenden Christen, die ihr den Aufbau einer Existenz und damit ein
verfolgungsfreies Leben ermöglichen oder in anderer Weise dazu beitragen
könnten, daß sie unbehelligt an irgendeinem Ort in der Türkei leben kann. Hinzu
kommt auch, daß die Klägerin zu 3) in der Türkei nie eine Schule besucht hat und
demzufolge nur über die von ihren Eltern vermittelten Sprachkenntnisse verfügen
wird. Die Klägerin zu 3) ist deshalb aufgrund ihrer Persönlichkeit und ihres
Bildungsstandes, auch wenn ihr Vater oder andere Verwandte dazu bereit und in
der Lage sein sollten, zu ihrer Unterstützung gewisse Geldbeträge in die Türkei zu
überweisen, nicht in der Lage sein, sich im Rückkehrfalle allein eine Existenz
irgendwo in der Türkei aufzubauen und infolgedessen mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Entführung durch muslimische Türken mit
anschließender Zwangsbekehrung ausgesetzt.
Auch wenn die Kläger zu 3) und 4) unverfolgt ausgereist sind und sich die ihnen im
Rückkehrfalle drohende Verfolgung mithin (ebenfalls) als sog.
Nachfluchttatbestand darstellt (vgl. dazu schon oben unter II. 7.), scheitert hieran
nicht ihr Asylanspruch. Denn die diesen begründenden Umstände sind nicht von
ihnen selbst -- etwa durch ihre Ausreise -- herbeigeführt worden, sondern allein
dadurch entstanden, daß ihre Verwandten, die zur Zeit ihrer Ausreise noch in der
Türkei lebten und sie im Rückkehrfalle hätten aufnehmen können, zwischenzeitlich
die Türkei verlassen haben und daß insbesondere ihre jetzt als asylberechtigt
anerkannte Mutter und auch ihr Vater zu einer Rückkehr zusammen mit ihnen
nicht bereit sind (dahin tendierend auch BVerwG, 06.03.1990 -- 9 C 14.89 u. 9 C
15.89 --). Selbst wenn man gleichwohl die für subjektive Nachtfluchttatbestände
entwickelten Maßstäbe anwenden wollte, stünde dies im vorliegenden Fall einer
Asylanerkennung der Kläger zu 3) und 4) nicht entgegen, weil sie sich schon vor
ihrer Ausreise, aber erst recht im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt des Entstehens
des "Nachfluchtgrundes", in der Türkei zur Überzeugung des Senats in einer
latenten Gefährdungslage befunden hat. Hierbei ist zu bedenken, daß sich ihre
persönliche Situation (nur) insofern verändert darstellt, als sie vor ihrer Ausreise
über aufnahmebereite Familienangehörigen verfügten, während es im Falle ihrer --
prognostisch zugrundezulegenden -- jetzigen alleinigen Rückkehr hieran fehlen
würde und sie deshalb mit der Einweisung in ein staatliches türkisches Waisenhaus
zu rechnen hätte. Dies führt zu der Einschätzung, daß schon vor der Ausreise eine
latente -- nämlich hinsichtlich ihres Eintritts nur vom Verbleib ihrer Eltern und der
übrigen Familienangehörigen abhängige -- Gefährdungslage gegeben war, in der
übrigen Familienangehörigen abhängige -- Gefährdungslage gegeben war, in der
zwar keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung, aber auch keine beachtliche
Wahrscheinlichkeit für eine solche Verfolgung bestand, und daß deshalb keine
Vorverfolgung anzunehmen ist, daß aber infolge der veränderten tatsächlichen
objektiven Situation bei der jetzt anzustellenden Prognose für den Rückkehrfall von
der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer den Klägern zu 3) und 4) drohenden
Aufnahme in ein staatliches türkisches Waisenhaus und damit notwendigerweise
der zwangsweisen Aufgabe seines christlichen Glaubens ausgegangen werden
muß.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.