Urteil des HessVGH vom 25.09.1989

VGH Kassel: politische verfolgung, amnesty international, verfolgung aus politischen gründen, flucht, repressalien, eritrea, sudan, wahrscheinlichkeit, anerkennung, regierung

1
2
Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
13. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
13 UE 2036/87
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
Art 16 Abs 2 S 2 GG
(Asylrecht: Äthiopien - Bürgerkrieg; Sippenhaft)
Leitsatz
1. Trotz der in Äthiopien zu verzeichnenden bürgerkriegsähnlichen
Auseinandersetzungen stellen die Repressalien des äthiopischen Staates gegnüber
Sympathisanten und Angehörigen separatistischer Widerstandsorganisationen in
Eritrea politisch motivierte und damit asylrechtlich relevante Verfolgung dar, und zwar
unabhängig davon, ob sie gegen bloße Sympathisanten oder gegen Helfer gerichtet
sind, die sich ausschließlich im zivilen Bereich betätigten (z.B. Flugblattverteiler), oder
gegen aktive Teilnehmer an militärischen Auseiandersetzungen.
2. In Äthiopien wurden in der Vergangenheit (hier für 1985 entschieden) gegenüber
Ehegatten und minderjährigen Kindern von (tatsächlichen oder vermeintlichen)
Regimegegnern Sippenhaftmaßnahmen praktiziert.
Solche Maßnahmen hat dieser Personenkreis, wenn er Äthiopien illegal verlassen und in
der Bundesrepublik einen Asylantrag gestellt hat, auch noch heute im Falle einer
Rückkehr nach Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten.
Tatbestand
Der am ... 1955 geborene Kläger zu 1) und seine am ... 1962 geborene Ehefrau,
die Klägerin zu 2), und die am ... 1981 und ... 1984 geborenen Kinder, die Kläger zu
3) und 4), sind äthiopische Staatsangehörige eritreischer Volkszugehörigkeit und
christlich-orthodoxen Glaubens. Sie reisten am 15. Mai 1985 mit dem Kamel aus
ihrem Heimatland aus, hielten sich sodann nach ihren Angaben etwa einen Monat
im Sudan und fünf Tage in Italien auf, bevor sie am 1. Juli 1985 in die
Bundesrepublik Deutschland einreisten, wo sie am 3. Juli 1985 ihre Anerkennung
als Asylberechtigte beantragten.
Bei ihrer Anhörung im Rahmen der Vorprüfung gab die Klägerin zu 2) im
wesentlichen folgendes an: Sie sei seit 1977 Kämpferin der ELF gewesen. Ihr
Ehemann, der Kläger zu 1), habe bereits Jahre vor ihr für die ELF gekämpft. Bis
1980 habe sie aktiv in der ELF mitgekämpft, Anfang 1981 sei sie wegen ihrer
Schwangerschaft nach Gash verlegt worden. Dieser Ort sei nicht völlig befreit
gewesen, er habe im Kampfgebiet gelegen, zeitweise seien EPLF-Kämpfer,
zeitweise ELF-Kämpfer, zuweilen aber auch äthiopische Truppen gekommen. Er sei
bis heute aber nicht in die Hände der äthiopischen Truppen gefallen. Ihr Ehemann
sei auch nach 11081 Kämpfer geblieben, habe sich aber, nachdem die meisten
ELF-Kämpfer sich 1981 in den Sudan zurückgezogen hätten, der Sagem
angeschlossen. Warum er dies getan habe, wisse sie nicht. Als Zivilistin sei für sie
das Leben in Gash erträglich gewesen. Die Eltern ihres Ehemannes hätten für sie
gesorgt, ihre Schwiegermutter sei aber schließlich nach Asmara zurückgegangen,
nachdem ihr Mann gestorben und das Gebiet immer wieder bombardiert worden
sei. im Jahre 1985 hätten sie sich dann entschlossen, Gash zu verlassen und seien
mit dem Kamel nach Kassala gereist. Im Sudan hätten sie Pässe gekauft. Sodann
seien sie nach Italien und von dort nach Deutschland gereist, da ihr Ehemann
gehört habe, daß Deutschland Äthiopier aufnehme. Sie könnten erst nach
Äthiopien zurückkehren, wenn Eritrea frei sei. zurückkehren nach Asmara, wie z. B.
ihre Schwiegermutter, könnten sie nicht. Die Schwiegermutter sei immer Zivilistin
3
4
5
6
7
ihre Schwiegermutter, könnten sie nicht. Die Schwiegermutter sei immer Zivilistin
gewesen, ihre geschehe in Asmara nichts, aber sie, die Kläger, könnten als
ehemalige Kämpfer nicht zurückkehren, sondern würden hingerichtet werden.
Auch ihre Kinder, die Kläger zu 3) und 4) hätten Mißhandlung zu befürchten.
Der Kläger zu 1) trug im Rahmen der Vorprüfung im wesentlichen folgendes vor: Er
sei seit November 1972, also seit seinem 17. Lebensjahr, bis zum Juli 1981
Kämpfer der ELF gewesen. Dann sei die ELF von der EPLF zerschlagen worden, die
gesamte Truppe sei in den Sudan zurückgegangen. innerhalb der Führung der ELF
habe es Auseinandersetzungen gegeben, im September 1981 habe er sich der
Sagem angeschlossen, um zusammen mit der EPLF gegen den gemeinsamen
Feind zu kämpfen. Dann sei er aktiver Kämpfer bis Juni 1984 gewesen, als er mit
Zustimmung der Führung der Sagem zu seiner Ehefrau nach Gash gegangen sei,
um sich seiner Familie widmen zu können. In Gash habe er sich etwa ein Jahr lang
aufgehalten. in dieser Zeit habe er sich mehrmals verstecken müssen, wenn die
äthiopischen Truppen oder Kämpfer der EPLF gekommen seien. Nachdem er keine
Zukunftsperspektive für eine absehbare Befreiung Eritreas gesehen habe, habe er
sich entschieden, zusammen mit seiner Familie Äthiopien zu verlassen. Dieser
Entschluß sei außerdem von dem Aspekt getragen gewesen, daß sein Vater
verstorben und das Gebiet Gash den Unruhen des Kampfes ausgesetzt gewesen
sei und er elf Jahre seines Lebens ohne absehbaren Erfolg gekämpft habe.
Verletzungen während der gesamten elf Jahre des Kampfes habe er nicht
davongetragen.
Mit Bescheid vom 8. Juli 1986 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge die Asylanträge der Kläger ab. Dieser Bescheid wurde
am 15. Juli 1986 zugestellt, und zwar zusammen mit einer Verfügung der
Ausländerbehörde vom 14. Juli 1986, in der die Kläger unter Androhung der
Abschiebung zur Ausreise aufgefordert wurden.
Am 28. Juli 1986 erhoben die Kläger Klage, zu deren Begründung sie in Ergänzung
ihrer Angaben im Vorprüfungsverfahren vortrugen, der Kläger zu 1) sei
vorübergehend Mitglied der Stadtguerilla gewesen. 1977 habe er für etwa drei
Monate im Gefängnis in Asmara eingesessen. Zusammen mit weiteren drei
Gefangenen habe er das Gefängnis verlassen können, weil die
Untergrundbewegung Polizeibeamte mit 20.000,-- äthiopischen Birr bestochen
habe. Nach Erlangung der Freiheit habe er sich sofort zu den Freiheitskämpfern
begeben, bei denen er in der zeit von 1978 bis 1981 Führer einer Einheit von 450
Mann gewesen sei. Nach Verlassen des Gefängnisses sei er sehr bald öffentlich,
namentlich durch den äthiopischen Rundfunk, gesucht worden. Seit seinem
Entweichen aus dein Gefängnis habe er ständig seine Festnahme als ein den
Behörden bekannter Kämpfer gegen den äthiopischen Staat befürchtet. Deswegen
habe er auch nach seiner aktiven Kämpferzeit in der Stadt Gash, die nicht in
dauerndem festen Besitz einer Einheit gewesen sei, wiederkehrend flüchten und
sich vor den äthiopischen Sicherheitskräften versteckt halten müssen. Was die
Frage der Kriegsverletzungen angehe, so sei er bei seiner Anhörung
mißverstanden worden. Er habe im Gegenteil etliche Verletzungen aus dem
elfjährigen Kampf vorgetragen. Bei der Sagem, der er sich 1981 angeschlossen
habe, handele es sich um eine Splittergruppe der ELF, die ebenfalls für die
Unabhängigkeit Eritreas kämpfe. Er sei Führer einer Brigade gewesen, habe aber
nicht zur Führung der Sagem gehört. Für diese Organisation habe er mit Waffen
aktiv gekämpft und auch Informationsmaterial an alle Kämpfer verteilt. Im
wesentlichen habe er aber dazu beigetragen, die Moral der Truppe
aufrechtzuerhalten. in den sogenannten befreiten Gebieten sei die Bevölkerung
nicht sicher, weil die Äthiopier nachts kämen und Angriffe durchführten.
Im Sudan und in Italien hätten sie nach ihrer Flucht aus Äthiopien keinen Kontakt
zu den dortigen Behörden gehabt, vielmehr illegal gelebt. Sie hätten auch keinen
Asylantrag in diesen Ländern gestellt. Als sie in den Sudan gegangen seien, hätten
sie nicht beabsichtigt dort zu bleiben, sondern hätten dieses Land nur als
Durchgangsland angesehen.
Die Klägerin zu 2) trug im Klageverfahren ergänzend vor, in ihrem Elternhaus sei,
nachdem sie sich 1977 den Freiheitskämpfern angeschlossen habe, die Polizei
erschienen und habe sie wegen der Weitergabe von Informationen für die Kämpfer
mitnehmen und verhören wollen. Sie habe nämlich bereits Kontakt zur
Befreiungsfront gehabt, bevor sie 1977 Kämpfer--in der ELF geworden sei. Die
Mutter habe gegenüber der Polizei erklärt, daß sie über den Aufenthaltsort ihrer
Tochter nichts wisse. Daraufhin sei ihr für die Meldung der Tochter bei der Polizei
8
9
10
11
12
13
14
15
Tochter nichts wisse. Daraufhin sei ihr für die Meldung der Tochter bei der Polizei
eine 2-Tages-Frist eingeräumt worden. Als nach zwei Tagen die Polizei wieder
ergebnislos erschienen sei, um ihrer, der Klägerin, habhaft zu werden, habe sie an
ihrer Stelle die Mutter in Haft genommen. Erst nachdem ihr Vater nach Rückkehr
von einer Geschäftsreise der Polizei mitgeteilt habe, daß sie nicht erscheinen
könne, weil sie sich den Freiheitskämpfern angeschlossen habe, sei die Mutter
wieder freigelassen worden. Wegen ihrer Tätigkeit als Freiheitskämpferin, wegen
des illegalen Verlassens ihres Landes und der Stellung von Asylanträgen hätten
sie die begründete Furcht, im Falle einer Rückkehr besonders schwer bestraft zu
werden. ihre Kinder hätten im Falle einer Rückkehr mit einer inhumanen politischen
Umerziehung in einem Lager zur "Erziehung des neuen Menschen" zu rechnen.
Auch wenn das Auswärtige Amt davon spreche, daß die Anwendung des Art. 17 b
des Äthiopischen Strafgesetzbuches nicht bekannt sei, so sei diese Bestimmung
jedoch nicht außer Kraft gesetzt, und das Bestrafungsrisiko könne ihnen, den
Klägern, nicht aufgebürdet werden.
Die Kläger beantragten,
den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
vom 8. Juli 1986 und den Bescheid des Landrats des Schwalm-Eder-Kreises vom
14. Juli 1986 aufzuheben und die Beklagte zu 1) zu verpflichten, sie als
Asylberechtigte anzuerkennen.
Die Beklagten beantragten,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte zu 1) führte aus, die Kläger seien im Sudan bereits vor Verfolgung
sicher gewesen. Im Übrigen könnten aber bei einer Rückkehr der Kläger in ihre
Heimat jetzt und in absehbarer Zukunft politisch motivierte und damit
asylerhebliche Übergriffe der äthiopischen Behörden mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Die politischen Verhältnisse in
Äthiopien seien nämlich gegenwärtig und in absehbarer Zukunft durch einen
Bürgerkrieg bestimmt. in diesem Bürgerkrieg stünden sich derzeit die von der
Sowjetunion und Kuba unterstützte offizielle Regierung Äthiopiens sowie diverse
Befreiungsbewegungen gegenüber, darunter diverse eritreische Bewegungen, von
denen die EPLF die bedeutendste sei. Mittlerweile seien weite Teile des Landes der
Zugriffsmöglichkeit der Zentralregierung entzogen, und es habe sich dort eine
regelrechte Parallelregierung durch die jeweiligen Befreiungsbewegungen etabliert.
Verbände der Befreiungsbewegungen operierten in Eritrea im Kampf sowohl gegen
die Zentralregierung wie auch untereinander in erheblicher Stärke und nahezu in
der Formation regulärer Truppen. Vor diesem Hintergrund seien (allein) politisch
motivierte und damit asylerhebliche Übergriffe der äthiopischen Behörden gegen
die Kläger mit hinreichender Sicherheit auszuschließen, weil derartige Übergriffe
jedenfalls auch durch die geschilderte Bürgerkriegssituation motiviert und geprägt
wären und damit unter Beachtung der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts mögliche andere asylerhebliche Motivationen
bedeutungslos würden. Diese würden nämlich von der Prägung durch die
Bürgerkriegssituation überlagert. Besondere, gerade an die Person der Kläger
geknüpfte Verfolgungsmaßnahmen seien aus dem bisherigen Vortrag nicht
ersichtlich. Schließlich stelle sich im Hinblick darauf, daß umfangreiche befreite
Gebiete dem Zugriff der äthiopischen Behörden entzogen seien, im Falle der
Kläger auch die Frage einer inländischen Fluchtalternative. Eine etwaige Bestrafung
wegen Republikflucht werde von der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts zu den selbstgeschaffenen. Nachfluchtgründen erfaßt.
Mit Urteil vom 13. Mai 1987 hob das Verwaltungsgericht Kassel den Bescheid des
Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 8. Juli 1986 auf
und verpflichtete die Beklagte zu 1), die Kläger als Asylberechtigte anzuerkennen.
Im übrigen wies das Gericht die Klage ab.
Zur Begründung des der Klage stattgebenden Teils des Urteils führte das
Verwaltungsgericht im wesentlichen folgendes aus:
Die Kläger zu 1) und 2) hätten aktiv gegen die derzeitige äthiopische Regierung
gekämpft und damit ihre politische Überzeugung betätigt, so daß die äthiopischen
Behörden im Falle einer Rückkehr dieser Kläger versuchen. würden, sie wegen ihrer
politischen Gesinnung zu verfolgen. Allen vier Klägern drohe im übrigen schon
deshalb politische Verfolgung, weil sie illegal ausgereist seien. Im übrigen hätten
sie auch deshalb politische Verfolgung zu befürchten, weil sie in der
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
sie auch deshalb politische Verfolgung zu befürchten, weil sie in der
Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt haben. Die Kläger zu 3) und
4) müßten befürchten, aus Gründen der Sippenhaft wegen der Betätigung ihrer
Eltern politisch verfolgt zu werden. Die Asylanerkennung der Kläger scheitere auch
nicht an dem Umstand, daß in Eritrea ein sogenannter separatistischer
Bürgerkrieg geführt werde. Die Kläger könnten auch nicht auf die von den
eritreischen Befreiungsorganisationen besetzten Gebiete als inländische
Fluchtalternative verwiesen werden. Es könne nämlich nicht davon ausgegangen
werden, daß diese Gebiete unverrückbar in ihrer heutigen Ausdehnung bestehen
blieben. Schließlich seien die Kläger auch nicht im Sudan oder in Italien im Sinne
des § 2 AsylVfG vor Verfolgung sicher gewesen.
Gegen den der Klage stattgebenden Teil dieses ihm am 19. Juni 1987 zugestellten
Urteils hat der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten am 14. Juli 1987 die
vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt, mit der er geltend
macht, das Asylbegehren der Kläger scheitere an § 2 AsylVfG. Nach der
Neufassung dieser Gesetzesbestimmung komme es nicht mehr darauf an, ob ein
Asylbewerber in einem Drittland Schutz "gesucht" habe und ob der dort
gewährleistete Standard dein des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG ebenbürtig sei.
Vielmehr genüge es, wenn der Flüchtling in dem anderen Staat objektiv vor
Verfolgung sicher gewesen sei.
Dies sei der Fall, wenn der Drittstaat den Ausländer nicht verfolge, nicht
zurückweise und nicht in einen anderen Staat abschiebe, in welchem ihm politisch-
- Verfolgung drohe. Diese Voraussetzungen seien hier gegeben, da nach den
vorliegenden Erkenntnissen äthiopische Staatsangehörige vom Sudan generell
nicht in ihre Heimat abgeschoben würden, wenn sie sich als vor politischer
Verfolgung Schutz Suchende zu erkennen gäben.
Die Beklagte zu 1), der das erstinstanzliche Urteil am 22. Juni 1987 zugestellt
wurde, hat sich dieser Berufung mit Schriftsatz vom 8. September 1987
angeschlossen und wiederholt im wesentlichen ihr erstinstanzliches Vorbringen.
Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten und die Beklagte zu 1)
beantragen,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel vom 13. Mai 1987, soweit es die
Beklagte zu 1) betrifft, abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Berufungen zurückzuweisen.
Der Senat hat über die Asylgründe des Klägers aufgrund des Beweisbeschlusses
vom 11. April 1989 Beweis erhoben durch Vernehmung des Klägers zu 1) und der
Klägerin zu 2) als Beteiligte. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf
den Inhalt der Niederschrift vom 23. Mai 1989 über die Beweisaufnahme durch den
Berichterstatter als beauftragten Richter Bezug genommen.
Den am Berufungsverfahren noch Beteiligten sind Listen. der Erkenntnisquellen
übersandt worden, die dem Senat für Äthiopien vorliegen. Sie haben sich mit einer
Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird Bezug genommen auf die
Gerichts- und die vorgelegten Behördenakten der Beklagten, die Gegenstand der
Beratung waren.
Entscheidungsgründe
Die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung des Bundesbeauftragten für
Asylangelegenheiten und die Anschlußberufung der Beklagten zu 1), über die der
Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung
entscheiden kann (§§ 125 Abs. 1, 101 Abs. 2 VwG0), sind nicht begründet. Das
Verwaltungsgericht hat den zulässigen Asylverpflichtungsklagen, die allein
Gegenstand des Berufungsverfahrens sind, zu Recht stattgegeben.
Die Beklagte zu 1) ist nach der hier maßgeblichen Sach- und Rechtslage im
Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts verpflichtet, die Kläger als
Asylberechtigte anzuerkennen.
Asylrecht als politisch Verfolgter im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG genießt,
28
29
30
31
32
Asylrecht als politisch Verfolgter im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG genießt,
wer bei einer Rückkehr in seine Heimat aus politischen Gründen
Verfolgungsmaßnahmen mit Gefahr für Leib und Leben oder Beeinträchtigungen
seiner persönlichen Freiheit zu erwarten hätte oder politischen Repressalien
ausgesetzt wäre. Als politisch im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG ist- eine
Verfolgung in Anlehnung an den Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention (BGBl.
1953 11, S. 559) dann anzusehen, wenn sie auf die Rasse, die Religion, die
Nationalität, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder die
politische Überzeugung zielt. insofern kommt es entscheidend auf die Motive für
die Verfolgungsmaßnahmen des Staates an. Werden nicht Leib, Leben oder
physische Freiheit gefährdet, sondern andere Grundfreiheiten wie etwa die
Religionsausübung oder die berufliche und wirtschaftliche Betätigung, so sind nur
solche Beeinträchtigungen asylrelevant, die nach Intensität und Schwere die
Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die Bewohner des
Heimatstaats aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen
haben. Asylerhebliche Bedeutung haben hierbei nicht nur unmittelbare
Verfolgungsmaßnahmen des Staates; dieser muß sich vielmehr auch Übergriffe
nichtstaatlicher Personen und Gruppen - als mittelbare staatliche
Verfolgungsmaßnahmen - zurechnen lassen, wenn er sie anregt, unterstützt, billigt
oder tatenlos hinnimmt und damit den Betroffenen den erforderlichen Schutz
versagt, der allerdings nicht lückenlos zu sein braucht. Asylrelevante politische
Verfolgung - und zwar sowohl unmittelbar staatlicher als auch mittelbar staatlicher
Art - kann sich schließlich nicht nur gegen Einzelpersonen, sondern auch gegen
durch gemeinsame Merkmale verbundene Gruppen von Menschen richten mit der
regelmäßigen Folge, daß jedes Gruppenmitglied als von dem Gruppenschicksal
mitbetroffen anzusehen ist.
Ist jemand bereits in seiner Heimat politisch verfolgt worden, war er insbesondere
bereits Opfer politisch motivierter Repressalien oder hatte er jedenfalls gute
Gründe, solche Repressalien als konkret bevorstehend zu befürchten, so sind
sogenannte Vorfluchttatbestände gegeben; sind erst mit oder nach dem
Verlassen des Heimatstaats Gründe entstanden, die im Falle einer Rückkehr des
Asylbewerbers politische Verfolgung erwarten lassen, so handelt es sich um
sogenannte Nachfluchttatbestände. In beiden Fällen ist eine Rückkehr nur dann
zumutbar, wenn der Asylbewerber nunmehr in seiner Heimat vor
Verfolgungsmaßnahmen sicher sein kann. Die insoweit erforderliche
Zukunftsprognose muß auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen
Tatsachenentscheidung abgestellt und. auf einen absehbaren Zeitraum
ausgerichtet sein. Beim Vorliegen von Vorfluchttatbeständen sind allerdings bei
der Prognose künftiger Verfolgungserwartung grundsätzlich geringere
Anforderungen zu stellen als beim ausschließlichen Gegebensein von
Nachfluchttatbeständen. Dem Vorverfolgten kann eine Rückkehr regelmäßig schon
dann nicht zugemutet werden, wenn die Wiederholung von
Verfolgungsmaßnahmen nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
ausgeschlossen werden kann. Ansonsten kommt eine Anerkennung als
Asylberechtigter nur in Betracht, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände
des konkreten Falles bei der Rückkehr in die Heimat politische Verfolgung mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
Unabhängig hiervon ist der Asylbewerber aufgrund der ihm obliegenden
prozessualen Mitwirkungspflicht gehalten, von sich aus die in seine eigene Sphäre
fallenden tatsächlichen Umstände substantiiert und in sich stimmig zu schildern
sowie eventuelle Widersprüche zu seinem Vorbringen in früheren
Verfahrensstadien nachvollziehbar aufzulösen, so daß sein Vortrag insgesamt
geeignet ist, den Asylanspruch lückenlos zu tragen und insbesondere auch eine
politische Motivation der Verfolgungsmaßnahmen festzustellen. Bei der
Darstellung der allgemeinen Umstände im Heimatland genügt es dagegen, daß
die vorgetragenen Tatsachen die nicht entfernt liegende Möglichkeit politischer
Verfolgung ergeben. Ungeachtet dessen muß sich das Gericht in vollem Umfang
die Überzeugung von der Wahrheit des von dem Asylbewerber behaupteten
individuellen Verfolgungsschicksals verschaffen, wobei allerdings der sachtypische
Beweisnotstand hinsichtlich der Vorgänge im Heimatland bei der Auswahl der
Beweismittel und bei der Würdigung des Vortrages und der Beweise angemessen
zu berücksichtigen ist.
Diesen Grundsätzen, die in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
und des Bundesverfassungsgerichts aufgestellt worden sind, folgt der Senat.
Was zunächst den Kläger zu 1) angeht, so ist der Senat aufgrund des Ergebnisses
32
33
34
35
36
37
38
Was zunächst den Kläger zu 1) angeht, so ist der Senat aufgrund des Ergebnisses
der Beweisaufnahme im Berufungsverfahren und aufgrund der weiteren Angaben
dieses Klägers im Verlaufe des gesamten Asylverfahrens zu der Auffassung
gelangt, daß er die Voraussetzungen für seine Anerkennung als Asylberechtigter
im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG erfüllt. Dabei ist für die Zeit bis zur Ausreise
des Klägers zu 1) aus Äthiopien nach Überzeugung des Senats von folgendem
Sachverhalt auszugehen:
Im Jahre 1972 wurde der Kläger aktiver Kämpfer der ELF (Eritrean Liberation Front),
der er bis zum Jahre 1981 angehörte. Während seiner Zugehörigkeit zur ELF wurde
er 1977 als Mitglied der Stadtguerilla für drei Monate von der äthiopischen
Verwaltung im Gefängnis von Asmara inhaftiert. Aufgrund einer Bestechung von
Polizeibeamten gelang ihm die Flucht aus dem Gefängnis. in der Folgezeit wurde
er von der äthiopischen Verwaltung gesucht. Am Ende seiner Mitgliedschaft in der
ELF befehligte der Kläger eine Einheit von etwa 450 Kämpfern. Im Jahre 1981
schloß sich der Kläger der Widerstandsbewegung Sagem an, in der er ebenfalls
eine Einheit von vergleichbarer Größe befehligte. Dies geschah, nachdem die ELF
von der mit ihr rivalisierenden Widerstandsorganisation EPLF (Eritrean Peoples
Liberation Front) weitgehend zerschlagen worden war und sich die meisten ELF-
Kämpfer in den Sudan zurückgezogen hatten. Von 1981 bis 1984 war der Kläger
zu 1) aktiver Kämpfer bei der Sagem. In dieser Zeit besuchte er regelmäßig seine
Ehefrau, die Klägerin zu 2), in Gash, wo diese mit ihrem 1981 geborenen Kind, dem
Kläger zu 3), seit 1981 lebte. Von Juni 1984 an bis zu seiner Flucht im Mai 1985 war
der Kläger nicht mehr als aktiver Kämpfer tätig, sondern lebte mit Zustimmung
der Führung der Sagem bei seiner Familie in Gash. Auch während dieser Zeit
mußte er sich immer wieder verbergen, weil das Gebiet um Gash von Einheiten der
EPLF (Tigray Peoples Liberation Front), der EPLF und äthiopischer Truppen
umkämpft war. Während seines Aufenthalts in Gash war der Kläger kriegsmäßig
bewaffnet, da er nach eigenen Angaben ohne diese Waffen dort nicht hätte
überleben können.
Dieser Sachverhalt ergibt sich aus dem in den entscheidenden Punkten
übereinstimmenden, detailfreudigen und in sich schlüssigen Vorbringen des
Klägers gegenüber dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge, dein Verwaltungsgericht und dem vorliegend zur Entscheidung
berufenen Senat. Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger in relevanten Punkten die
Unwahrheit gesagt haben könnte, sind nicht erkennbar.
Auf der Grundlage dieses Sachverhalts ist davon auszugehen, daß der Kläger
bereits in Äthiopien politisch verfolgt war, weil er jedenfalls gute Gründe hatte,
politisch motivierte Repressalien als jederzeit eintretend und konkret bevorstehend
befürchten zu müssen.
Er war nämlich etwa 12 Jahre als Mitglied eritreischer Widerstandsorganisationen
im aktiven Kampf gegen die äthiopische Zentralregierung tätig, hatte bereits
während seiner Zugehörigkeit zur ELF das Kommando über eine größere Einheit
inne und war auch bis zum Jahre 1984 in der Sagem Führer einer ähnlich großen
Einheit. Es ist davon auszugehen, und der Kläger hat dies bei seinen
verschiedenen Vernehmungen überzeugend dargelegt, daß er in dieser Funktion
auch bei äthiopischen Regierungsstellen und den für die äthiopische Regierung
kämpfenden Truppen bekannt war und daß er sofort festgenommen, langdauernd
inhaftiert oder getötet worden wäre, wenn äthiopische Truppen seiner - etwa in
Gash - habhaft geworden wären. Ob ihm darüber hinaus auch Gefahr durch
andere, mit der ELF oder Sagem rivalisierende Widerstandsorganisationen gedroht
hatte, kann im Rahmen der vorliegenden. Asylklage. dahingestellt bleiben.
Die dem Kläger akut und konkret drohende Form der Verfolgung durch den
äthiopischen Staat stellt sich auch als politische und damit als asylrechtlich
relevante Verfolgung dar. Dem steht insbesondere nicht entgegen, daß in den,
Gebiet, in dein der Kläger zuletzt lebte, Kampfhandlungen stattfanden, die nach
Auffassung des Senats als Teil eines Bürgerkriegs, jedenfalls aber als
bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen einzustufen sind.
Aufgrund der ihm vorliegenden Erkenntnisse geht der Senat davon aus, daß in
Äthiopien seit etwa 25 Jahren eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen der
äthiopischen Zentralregierung und bewaffneten eritreischen
Widerstandsorganisationen stattfindet, die sich zum Teil in offenen
Kampfhandlungen, zum Teil in der Form eines Guerillakrieges abspielen. Anlaß und
Ziel dieser kriegsähnlichen Auseinandersetzung ist die Absicht der
39
40
Ziel dieser kriegsähnlichen Auseinandersetzung ist die Absicht der
Widerstandsorganisationen, Eritrea als eigenen und von der Vorherrschaft durch
die amharische Bevölkerungsgruppe befreiten Staat: zu etablieren und damit die
Einverleibung Eritreas als 14. Provinz in den äthiopischen Staatsverband, wie sie
im Jahre 1962 unter Aufhebung einer zuvor erreichten weitgehenden Autonomie
dieses Gebietes erfolgte, rückgängig zu machen. Demgegenüber kämpft die
äthiopische Zentralregierung dafür, eine Absplitterung Eritreas zu verhindern und
die staatliche Einheit und den territorialen Bestand des Gesamtstaates Äthiopien
zu erhalten. Hintergrund dieses Kampfes ist auch die Erkenntnis, daß eine
Selbständigkeit Eritreas Äthiopien von jedem Meereszugang abschnitte, also zu
einem reinen Binnenstaat machte. Außerdem dürfte der Kampf der Regierung in
Addis Abeba wesentlich von der Erkenntnis bestimmt sein, daß erfolgreiche
Sezessions- und Autonomiebestrebungen in Eritrea ähnlichen Bestrebungen auch
in anderen Provinzen Äthiopiens Vorschub leisten könnte. In Übereinstimmung mit
der wohl überwiegenden einschlägigen Rechtsprechung ist der Senat auf der
Grundlage dieser Erkenntnisse zu der Auffassung gelangt, daß die UM Eritrea
geführte bewaffnete Auseinandersetzung als Bürgerkrieg, jedenfalls aber als
bürgerkriegsähnlich eingestuft werden muß (ebenso z.B. OVG Rheinland-Pfalz,
Urteil v. 7. Juni 1989 -13 A 12188 -, Bay. VGH, Urteil v. 25. Mai 1988 - 9 BZ
87.31456 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 23. März 1987 - A 13 S 318186 -).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich der vorliegend
erkennende Senat im Grundsatz angeschlossen hat (z.B. Urteil v. 8. Mai 1989 - 13
UE 3885/87 -, Beschluß v. 22. Juni 1989 -13 TH 3075/88 -), vermögen staatliche
Verfolgungsmaßnahmen den verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf Asyl
dann nicht auszulösen, wenn sie nicht politisch motiviert sind, sondern im Zuge
eines Bürgerkrieges oder einer bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzung gegen
Mitglieder und Parteigänger der anderen Bürgerkriegspartei zwecks Sicherung der
Staatsmacht vorgenommen werden. Andererseits erscheint es selbstverständlich,
daß eine Verfolgung aus politischen Gründen nicht von vornherein deshalb
unbeachtlich ist, weil sie Form und Ausmaß eines Bürgerkrieges oder
bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen annimmt. Die Annahme einer
politischen Verfolgung unter diesen Verhältnissen ist vielmehr von der dem
staatlichen Vorgehen zugrundeliegenden Motivation abhängig und erfordert die
Feststellung, daß der Staat auf den von ihm möglicherweise auch als "politischen
Feind" angesehenen Bürgerkriegsgegner gerade deshalb zugreift, weil er ihn in
einem asylrechtlich geschützten Merkmal treffen will. ob dies der Fall ist, läßt sich
nur unter Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland sowie unter
Beachtung der besonderen Umstände des zu entscheidenden Einzelfalles
beurteilen. Insoweit kommt es wesentlich darauf an, ob der betreffende Staat
jedenfalls auch auf die politische Überzeugung der Betroffenen zugreifen will, was
in der Regel dann der Fall ist, wenn bereits diese Überzeugung als zu
bekämpfende Gefahr angesehen wird. Ob dies der Fall ist, hängt von einer Vielzahl
von Kriterien ab, beispielsweise von der Eigenart des Staates, seinem eventuell
totalitären Charakter, der Radikalität seiner Ziele und der zu ihrer Verwirklichung
eingesetzten Mittel. Ferner kann entscheidend auf den Umfang der rechtlich
gewährten und tatsächlich respektierten Meinungsfreiheit abgestellt werden und
insoweit insbesondere darauf, ob im Wege der Kritik eine geistige
Auseinandersetzung zwischen den Prinzipien der jeweiligen staatlichen Ordnung
und anderen, ihnen nicht entsprechenden Ideen und Überzeugungen möglich ist
(vgl. BVerwG, Urteil v. 30. Mai 1989 - BVerwG 9 C 44.88 -<Äthiopien> m.w.N.).
Aufgrund der in das Berufungsverfahren eingeführten Auskünfte und sonstigen
Unterlagen ist der Senat der Auffassung, daß die Situation in Äthiopien im
Zeitpunkt der Flucht des Klägers (Mai 1985) wie auch noch heute in hohem Maße
durch Elemente der Gewaltherrschaft und Rechtsunsicherheit bis hin zu Willkür und
Gesetzlosigkeit gekennzeichnet ist, auch wenn im Vergleich zu den jahrelangen
Gewaltmaßnahmen, Verhaftungen, Folterungen und Exekutionen zur Zeit des
"Roten Terrors" eine gewisse Verbesserung der Situation eingetreten zu sein
scheint. Nach wie vor gilt aber, daß jeder äthiopische Staatsangehörige, der nicht
bereit ist, sich dem ideologischen Absolutheitsanspruch des totalitär herrschenden
marxistisch-leninistischen Regimes in Addis Abeba zu unterwerfen, Gefahr läuft,
als konterrevolutionär eingestuft und damit als Staatsfeind bekämpft zu werden.
Dies bedeutet für ihn, daß er damit rechnen muß, weitgehend willkürlich und ohne
ein den Minimalerfordernissen der Rechtsstaatlichkeit entsprechendes
Gerichtsverfahren kurzzeitig, aber evtl. auch jahrelang gefangengenommen,
gefoltert oder gar getötet zu werden. Zu dieser Einschätzung gelangt der Senat in
Würdigung einer Vielzahl ihm vorliegender Dokumente, beispielsweise der
Auskünfte von amnesty international vom 12. Februar 1985 an das
41
42
Auskünfte von amnesty international vom 12. Februar 1985 an das
Verwaltungsgericht Kassel, vom 8. März 1985 an das Verwaltungsgericht Hamburg
und vom 3. Juni 1985 an das Verwaltungsgericht Köln sowie weiterer
Stellungnahmen des Instituts für Afrika-Kunde vom 21. Februar 1985 an das
Verwaltungsgericht Köln, vom 8. Oktober 1986 an den Verwaltungsgerichtshof
Baden-Württemberg und vom 19. Juni 1987 an das Verwaltungsgericht Ansbach. In
seiner Auskunft vom 3. Juni 1985 weist amnesty international beispielsweise darauf
hin, daß nach Kenntnis dieser Organisation Angehörige ethnischer Gruppen, die
Widerstandsorganisationen gebildet hätten, also Eritreer, Tigrays, Oromos und
Somalis, von Verhaftung und anschließender Inhaftierung von unbestimmter
Dauer und ohne Gerichtsverfahren bedroht seien. 1984 habe es zahlreiche
Verhaftungen unter den Oromos und Tigrays gegeben, die nur wegen ihrer
Volkszugehörigkeit verdächtigt worden seien, die Widerstandsbewegungen zu
unterstützen. Das Institut für Afrika-Kunde teilt diese Einschätzung in seiner
Stellungnahme vom 8. Oktober 1986 im wesentlichen, wenn es ausführt, es könne
als gesichert gelten, daß die äthiopische Regierung Regimegegner mit allen ihr zur
Verfügung stehenden Mitteln einschüchtere und verfolge. obwohl das Ausmaß der
staatlichen Repressionen in dem Maße zurückgegangen sei, in dein sich die
gegenwärtige Regierung konsolodiert habe, verschwänden noch immer einzelne
Personen. Außerdem seien nach wie vor Folter und extralegale Hinrichtungen
verbürgt. Die Zahl der überwiegend ohne formales Verfahren
gefangengenommenen und zum Teil in Abwesenheit verurteilten politischen
Gefangenen dürfte bei mehreren Tausend liegen. In den Verwaltungsregionen,
aber auch in der Hauptstadt gelte das Interesse der Sicherheitsbehörden vor allein
mutmaßlichen Angehörigen nationaler Widerstands- bzw. Oppositionsbewegungen;
es könne als gesichert gelten, daß durch Folter erzwungene "Geständnisse" zur
geläufigen Praxis der Sicherheitsbehörden zählten. Diese nur beispielhaft
aufgezählten Äußerungen werden im wesentlichen auch durch Dokumente
neueren Datums bestätigt, so etwa in einer Mitteilung der Internationalen
Gesellschaft für Menschenrechte (FAZ vom 10. Mai 1989), in der die Befürchtung
ausgesprochen wird, daß erneut die Zivilbevölkerung Äthiopiens in großem Stil
zum Opfer der bewaffneten Auseinandersetzung werde. So habe die äthiopische
Armee nach Angaben von New African allein bei einem ihrer grausamsten
Massaker am 12. Mai des Jahres 1988 in einem eritreischen Dorf 400 Zivilisten
zusammengetrieben, mit Panzern überrollt und gleichzeitig mit
Maschinengewehren auf sie geschossen mit der Begründung, sie seien
"Kollaborateure der EPLF" (vgl. hierzu auch die Presseberichte in der Frankfurter
Rundschau vom 19. und vom 27. Mai 1988). Schließlich sei in diesem
Zusammenhang auf die ausführliche Stellungnahme des Günter Schröder vom
Januar 1989 gegenüber dem Verwaltungsgericht Stuttgart verwiesen, der im
wesentlichen unter dein Aspekt der in Äthiopien nach wie vor praktizierten
Sippenhaft darstellt, mit welchen Mitteln das Regime in Addis Abeba bemüht ist,
von seiner politischen Auffassung abweichende Meinungen zu bekämpfen und jede
gegen das Regime gerichtete Opposition zu unterdrücken und auszuschalten.
Auch das Auswärtige Amt räumt, obgleich es die Lage in Äthiopien unter
bestimmten Teilaspekten positiver einschätzt, durchgehend ein, daß dieser Staat
weit davon entfernt sei, ein Rechtsstaat im Sinne westlicher Idealvorstellungen zu
sein. Es gebe weiterhin Folter und Inhaftierung ohne Urteil, "wohl auch"
Erschießungen (Lageberichte Äthiopien, Stand 15. März 1987 und 31. März 1988).
Aus dieser konkreten Situation in Äthiopien folgt, daß der Kampf der äthiopischen
Zentralregierung gegen wirkliche oder vermeintliche Angehörige oder
Sympathisanten separatistischer Widerstandsorganisationen nicht ausschließlich
durch das Motiv bestimmt ist, den staatlichen Zusammenhalt sicherzustellen und
den Frieden im Lande wieder herzustellen, sondern daß mit der Bekämpfung
dieser Personengruppe auch und entscheidend der politische Gegner getroffen
und vernichtet werden soll, um hierdurch gleichzeitig die von diesem vertretene
und der Auffassung der Zentralregierung zuwiderlaufende politische Überzeugung
möglichst weitgehend auszumerzen.
Diese somit asylrelevante politische Motivation der Bekämpfung von Angehörigen
separatistischer Widerstandsorganisationen besteht völlig unabhängig von der
Frage, ob sich diese Personen als bloße Sympathisanten, als weitgehend
gewaltlose Helfer, beispielsweise als Verteiler von Flugblättern o.ä., oder als aktive
Kämpfer für die Ziele der jeweiligen Organisation darstellen. Eine Unterscheidung
in dieser Hinsicht, also etwa danach, ob sich ein Angehöriger einer
Widerstandsbewegung am aktiven Kampf mit der Waffe beteiligt oder lediglich
sonstige, aber für die Ziele der Organisation nicht minder bedeutsame Hilfsdienste
ziviler Art leistet, erscheint dein Senat angesichts der spezifischen
43
44
45
46
ziviler Art leistet, erscheint dein Senat angesichts der spezifischen
Bürgerkriegssituation in Äthiopien und der daraus resultierenden fließenden
Grenzziehung zwischen diesen Gruppierungen auch wenig praktikabel und kaum
nachvollziehbar. Eine Unterscheidung der vorgenannten Art liefe letztlich auch der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zuwider, wie sie beispielsweise im
Urteil vom 3. Dezember 1985 - BVerwG 9 C 33.85 u.a. -, BVerwGE 72, 269 <275
f.> zum Ausdruck kommt.
Dem Kläger zu 1) war es auch nicht zuzumuten, der Gefahrenlage in der Weise zu
entgehen, daß er in die von eritreischen Befreiungsbewegungen seit längerer Zeit
beherrschten Gebiete ging. Dafür sind - ohne daß insoweit auf die vom Kläger
vorgetragenen Rivalitäten zwischen der Sagem und der EPLF näher eingegangen
werden müßte - mehrere Gründe maßgebend:
Die Wege in die von den Befreiungsbewegungen seit längerer Zeit beherrschten
Gebiete führten überwiegend durch Kampfgebiete. Schon auf diesen wegen
bestand deshalb eine erhebliche Gefährdung für Leib und Leben, In den von den
Befreiungsbewegungen beherrschten Gebieten war zu erwarten, daß von
gesunden jungen Männern wie dem Kläger zu 1) der Einsatz im bewaffneten Kampf
gegen die Zentralregierung gefordert wurde. Davon ist der Senat aufgrund der
Angaben überzeugt, die in der Niederschrift des Verwaltungsgerichts Bremen vom
16. Juli 11084 über die Vernehmung des Sozialwissenschaftlers Günter Schröder
enthalten sind. Als Kämpfer für die Befreiungsbewegungen wäre der Kläger aber
wiederum an Leib und Leben gefährdet gewesen. Schließlich waren in den von den
Befreiungsbewegungen beherrschten Gebieten häufige Bombardierungen durch
die Luftwaffe der Zentralregierung zu befürchten (so ebenfalls die Angaben des
Günter Schröder in der Niederschrift des Verwaltungsgerichts Bremen vom 16. Juli
1984 und die Darstellung in dem Manuskript zu dem Fernsehbericht vom 27.
Januar 1986 "Kinder der Welt: VI, Die Vergessenen, Gordian Troeller berichtet über
Kindheit und Erziehung im eritreischen Freiheitskampf").
Schließlich ist es nach den gegenwärtigen Verhältnissen auch zu erwarten, daß der
Kläger mit erheblichen Sanktionen zu rechnen hätte, möglicherweise sein Leben
riskieren würde, wenn er in seine Heimat zurückkehrte. Den Auskünften des
Instituts für Afrika-Kunde an das Verwaltungsgericht Ansbach vom 19. Juni und 10.
September 1987 und den Lageberichten des Auswärtigen Amtes für Äthiopien
vom 15. April 1988 und 15. März 1987 ist zu entnehmen, daß mit Bestrafungen im
Falle der Rückkehr zu rechnen sei, wenn ein Äthiopier im Verdacht stehe, sich einer
Aufstandsbewegung angeschlossen und illegal das Land verlassen zu haben. Dies
muß in verstärktem Maße dann gelten, wenn es sich - wie bei dem Kläger - um
einen von seiner Stellung her herausgehobenen aktiven Kämpfer einer
Widerstandsbewegung handelt, dessen Namen und frühere Funktion den
äthiopischen Behörden nach Überzeugung des Senats aufgrund des vieljährigen
Kampfes des Klägers bekanntgeworden sind. Unabhängig hiervon zeigt aber auch
das sonstige Vorgehen des äthiopischen Staates gegen die Bevölkerung in den
Provinzen Eritrea und Tigray, etwa die in dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes
vom 14. November 1988 erwähnten Durchsuchungen in Asmara nach Hinweisen
auf eine Zusammenarbeit mit der EPLF, daß bei Personen aus den Provinzen
Eritrea und Tigray, in denen die Befreiungsbewegungen kämpfen, für staatliche
Repressalien bereits der begründete Verdacht ausreicht, daß die Personen mit
diesen oppositionellen Bewegungen zusammengearbeitet haben. Selbst wenn die
äthiopischen Behörden entgegen der vorstehend genannten Annahme des Senats
Namen und Funktion des Klägers zu 1) zunächst nicht kennen sollten, bliebe
jedenfalls, da der Kläger unschwer als Eritreer identifiziert würde, der illegal das
Land verlassen hatte, ein entsprechender Verdacht, der sich als Folge weiterer
Aufklärung gegebenenfalls zu der Gewißheit verdichten würde, eines aktiven und
von seiner Funktion in der ELF und der Sagem her herausragenden Kämpfers der
Widerstandsbewegung habhaft geworden zu sein.
Die Annahme der Verfolgungsgefahr wird auch nicht dadurch ausgeschlossen, daß
nach einer Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 13. September
1989 neuesten äthiopischen Zeitungs- und Fernsehberichten zu entnehmen sei,
daß sogar Mitglieder der EPLF nach reumütiger Rückkehr begnadigt worden seien.
Denn angesichts des mit großem Einsatz auf beiden Seiten fortgeführten Kampfes
in den Provinzen Eritrea und Tigray (s. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 22.
Februar 1989 an das VG Ansbach) sind keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür
gegeben, daß die erwähnten "Begnadigungen" fortgesetzt bzw. ausnahmslos
praktiziert werden.
47
48
49
50
51
52
53
54
Soweit aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 1. April 1989 eine
positivere Einschätzung der für den Fall der Rückkehr zu erwartenden Reaktionen
der äthiopischen Behörden entnommen werden kann, vermag dies - jedenfalls
zum jetzigen Zeitpunkt nichts an der zuvor dargelegten Auffassung des Senats zu
ändern, da es dazu an konkreten Fällen als Belegen für eine geänderte Praxis
äthiopischer Regierungsstellen fehlt und zudem derzeit nicht abzuschätzen ist, ob
nach dem fehlgeschlagenen Putsch gegen das herrschende Regime Mengistu, der
nach der Erstellung des Lageberichts stattgefunden hat und dessen Ursache
zumindest zum Teil in der nach Meinung der Aufständischen zu nachgiebigen
Bekämpfung der Widerstandsbewegungen in Eritrea zu sehen ist, die in dem
Lagebericht zum Ausdruck kommende positive Einschätzung noch gerechtfertigt
ist. Im übrigen bezieht sich der vorgenannte Lagebericht ausdrücklich nur auf die
Frage, ob ein Rückkehrer bestraft würde, der sich der Republikflucht, einer
regimekritischen Betätigung in Exilbüros im Ausland oder bloßer Mitgliedschaft in
einer der Guerillaorganisationen des Landes "schuldig" gemacht hatte. Er vermag
daher die Überzeugung des Senats nicht zu erschüttern, daß jedenfalls ein an
herausragender Stelle innerhalb einer eritreischen Widerstandsorganisation tätig
gewesener Kämpfer im Falle seiner Rückkehr nach Äthiopien erheblichen
politischen Repressalien ausgesetzt wäre.
Dem Anspruch des Klägers, als Asylberechtigter anerkannt zu werden, steht die
Vorschrift des 5 2 AsylVfG nicht entgegen. Denn der Tatbestand dieser
Bestimmung ist nicht erfüllt.
Der Senat folgt der Auslegung des § 2 AsylVfG, die das Bundesverwaltungsgericht
in mehreren Entscheidungen vom 21. Juni 1988 (BVerwG, - 9 C 12.88 -, BVerwGE
79, 347 - u.a.) vorgenommen hat. Danach setzt die Anwendung dieser Vorschrift
zunächst voraus, daß die Flucht des politisch Verfolgten in dem "anderen Staat" ihr
Ende gefunden hat.
Ob die Flucht in dem sogenannten Drittstaat als beendet anzusehen ist, richtet
sich nach objektiven Maßstäben und nicht nach den subjektiven Vorstellungen des
Flüchtlings. Das Bundesverwaltungsgericht hat in den vorgenannten
Entscheidungen desweiteren ausgeführt, der bloße Wille des Flüchtlings, gerade in
der Bundesrepublik Deutschland Schutz zu finden, belasse ihn nicht im Zustand
der Flucht. Es komme vielmehr darauf an, ob bei objektiver Betrachtungsweise
aufgrund der gesamten Umstände, insbesondere des tatsächlich gezeigten
Verhaltens des politisch verfolgten während seines Zwischenaufenthalts im
Drittstaat, dem äußeren Erscheinungsbild nach noch von einer Flucht gesprochen
werden könne. Dies sei nicht mehr der Fall, wenn der Aufenthalt stationären
Charakter angenommen habe. Für die Feststellung des (gegebenenfalls)
stationären Charakters des Aufenthalts des Flüchtlings komme der Dauer des
Aufenthalts eine entscheidende Bedeutung zu.
Der Kläger hat nach seinen glaubhaften Angaben zusammen mit seiner Familie
Gash am 15. Mai 1985 verlassen und drei Tage später Kassala im Sudan erreicht,
wo er einen Freund traf, der dort mit Geschäftsleuten Kontakt aufnahm. in Kassala
blieb der Kläger drei Tage, bevor er mit seiner Familie nach Khartum ging, wo er
sich etwa einen Monat versteckt aufhielt, während ein Geschäftsmann für ihn die
Ausreiseformalitäten mit den zuständigen Behörden des Sudan regelte.
Dem Aufenthalt des Klägers im Sudan ist danach kein stationärer Charakter im
Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beizumessen. Dies
ergibt sich hinsichtlich seines Aufenthalts in Kassala bereits aus der kurzen Dauer
von lediglich drei Tagen. Doch auch hinsichtlich des Aufenthalts in Khartum ergibt
sich nichts anderes. Dieser Aufenthalt diente erkennbar lediglich dem Zweck, die
notwendigen Ausreiseformalitäten zu regeln und die weitere Flucht: nach Europa
vorzubereiten. Der Kläger hatte während seines Aufenthalts in Khartum weder
Kontakt zu sudanesischen Behörden aufgenommen noch irgendetwas getan, was
den Schluß auf eine Verfestigung seines Aufenthalts in Khartum und damit auf
eine Beendigung seiner Flucht zuließe.
Schließlich wird der Anspruch des Klägers, als Asylberechtigter anerkannt zu
werden, nicht dadurch ausgeschlossen, daß er im Falle der Rückkehr in Äthiopien
Schutz vor politischer, Verfolgung finden könnte.
Zwar ist der Asylanspruch grundsätzlich davon abhängig, daß der Kläger den
Schutz vor politischer Verfolgung nicht im eigenen Land, also in Äthiopien, finden
kann. Auch insoweit gilt - ähnlich der Regelung des 5 2 AsylVfG - nach der
55
56
57
58
59
60
kann. Auch insoweit gilt - ähnlich der Regelung des 5 2 AsylVfG - nach der
gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, welcher der Senat
folgt, der Grundsatz der Subsidiarität des Asylrechts (vgl. BVerwG, Urteil v. 6.
Oktober 1987 - BVerwG 9 C 13.87 -, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 402.25, Nr. 72 zu § 1 AsylVfG).
Danach kommt es darauf an, ob dem Asylbewerber nur in Teilen seines
Heimatlandes politische Verfolgung droht, während er in anderen Teilen ohne
Furcht vor politischer Verfolgung leben kann, ob es ihm also zugemutet werden
kann, in solche Orte oder Gebiete seines Heimatstaates zurückzukehren, in denen
er - anders als in seiner Heimatregion - vor Verfolgung hinreichend geschützt ist
(sogenannte inländische oder innerstaatliche Fluchtalternative).
Hier ist es dem Kläger aber gerade nicht zuzumuten, aus der Bundesrepublik
Deutschland in solche Gebiete seines Heimatstaates zurückzukehren, in denen er
möglicherweise vor Verfolgung geschützt wäre. Als Fluchtalternative in Äthiopien
kommt nur ein Aufenthalt in den von den Befreiungsbewegungen beherrschten
Gebieten in Betracht, in denen die Staatsgewalt der Zentralregierung keine
Einwirkungsmöglichkeit besitzt. Die Einreise nach Äthiopien soll aber nach einer
Regelung der äthiopischen Regierung nur über den internationalen Flughafen in
Addis Abeba erfolgen (so der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 14.
November 1988). Reist der Kläger über den Flughafen Addis Abeba ein, so besteht
gerade die Gefahr politisch motivierter Repressalien. Im übrigen ist es dem Kläger
aus den bereits dargestellten Gründen nicht zuzumuten, sich in die von den
Befreiungsbewegungen beherrschten Gebiete zu begeben.
Auch die Klägerin zu 2), die Ehefrau des Klägers zu 1), erfüllt die Voraussetzungen
für eine Anerkennung als Asylberechtigte im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG.
Dies folgt daraus, daß die Klägerin als Ehefrau des Klägers zu 1) vor ihrer Flucht
aus Äthiopien mit guten Gründen befürchten mußte, jederzeit von äthiopischen
Truppen aufgegriffen, verhaftet und gegebenenfalls durch erhebliche Repressalien
bis hin zu Foltermaßnahmen unter Druck gesetzt zu werden.
Ohne Belang ist daher insoweit, ob die Klägerin zu 2) bereits wegen ihrer eigenen
Tätigkeit für die ELF als vorverfolgt angesehen werden muß. Zweifel könnten
insoweit bestehen, als die Klägerin ihre aktive Tätigkeit für diese
Befreiungsorganisation bereits Ende des Jahres 1980 aufgegeben hatte, so daß
zumindest fraglich erscheint, ob sie, als sie sich zur Flucht aus Äthiopien
entschloß, noch wegen dieser über vier Jahre zurückliegenden Tätigkeit mit einer
aus ihrer eigenen Widerstandstätigkeit herrührenden politischen Verfolgung
rechnen mußte.
Daß die Klägerin zu 2) als Ehefrau des Klägers zu 1) vor ihrer Flucht aus Äthiopien
mit berechtigten Gründen politische Verfolgung durch äthiopische Einheiten zu
befürchten hatte, folgt aus der nach Überzeugung des Senats im damaligen
Zeitpunkt in nicht unerheblichem Maße praktizierten "Sippenhaft:" in Äthiopien.
Wie das Bundesverwaltungsgericht- mehrfach näher dargelegt hat (vgl. zum
folgenden z.B. BVerwG, Urteil vom 13. Januar 1987 - BVerwG 9 C 53.86 -, BVerwGE
75, 304 <312 f.> m.w.N.), neigen unduldsame und mit totalitärem
Herrschaftsanspruch auftretende und oppositionelle Bestrebungen nicht
tolerierende Staaten verstärkt dazu, im Kampf gegen oppositionelle Kräfte anstelle
des politischen Gegners, dessen sie nicht habhaft werden können, auf diesem
besonders nahestehende und von ihm abhängige Personen zurückzugreifen und
diese gewissermaßen stellvertretend oder zusätzlich für den Hauptadressaten von
Verfolgungsmaßnahmen in Form von Repressalien unter Druck zu setzen, um
hierdurch in vielfältiger Weise ihr auf Unterdrückung abweichender Meinungen
gerichtetes Ziel zu erreichen. Da zwischen einem politisch Verfolgten und seinem
Ehegatten oder seinen Kindern - auch aus der Sicht des Verfolgerstaates -
regelmäßig eine genügend enge persönliche Bindung besteht, um durch
Ausübung von Repressalien gegenüber dem Ehegatten bzw. den Kindern nötigend
auch auf den eigentlich verfolgten politischen Gegner einwirken zu können, oder
uni diese Verwandten stellvertretend für den eigentlich Verfolgten oder auch
zusätzlich zu diesem in Anspruch zu nehmen, befinden sich der Ehegatte oder die
Kinder eines politisch Verfolgten regelmäßig in einer potentiellen Gefährdungslage,
der gerecht zu werden, Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG gebietet. Sind Fälle
bekanntgeworden, in denen der Verfolgerstaat im Zusammenhang mit der
Verfolgung eines politischen Gegners auch Repressalien gegenüber dessen
Ehegatten oder Kindern ergriffen hat, so wird deshalb eine aus dem
61
62
63
64
Ehegatten oder Kindern ergriffen hat, so wird deshalb eine aus dem
Schutzgedanken der vorgenannten Grundrechtsbestimmung folgende
Regelvermutung dafür wirksam, daß auch demjenigen Angehörigen eines politisch
Verfolgten, über dessen Asylantrag im konkreten Fall zu entscheiden ist, das
gleiche Schicksal mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, um durch ihn den
Hauptadressaten der Verfolgung, aber auch in dem Angehörigen selbst einen
(vermeintlichen) Regimegegner zu treffen. Es muß daher nach dieser
Rechtsprechung regelmäßig nicht weiter geprüft und bewiesen werden, ob die
festgestellten Verfolgungsfälle gegen Ehegatten oder Kinder politisch Verfolgter
Ausdruck einer allgemeinen Praxis des Verfolgerstaates sind und auch gerade im
konkreten Fall erwartet werden müssen oder ob die ihnen zugrundeliegenden
Umstände konkrete Rückschlüsse gerade auf eine eigene Verfolgungsgefahr
desjenigen gestatten, der sich auf sie als Vergleichsfälle beruft. Anderes gilt nur
dann, wenn die Regelvermutung aufgrund besonderer Umstände als widerlegt
anzusehen ist, etwa weil die festgestellten Verfolgungsfälle Einzelfälle geblieben
sind.
Die Klägerin zu 2) kann sich zu ihren Gunsten auf die vorgenannte
Regelvermutung berufen.
Der Senat ist aufgrund der ihm vorliegenden Erkenntnisse zu der Überzeugung
gelangt, daß in Äthiopien im Zeitpunkt der Flucht der Klägerin aus ihrem
Heimatland, aber auch in der Folgezeit bis zum heutigen Tage, Sippenhaft oder
jedenfalls sippenhaftähnliche Praktiken in der Weise angewandt werden, daß, wenn
es die Opportunität gebietet, auch auf Ehegatten oder minderjährigen Kinder eines
politische Verfolgten zu dem Zwecke zurückgegriffen wird, auf den eigentlichen
Adressaten der Verfolgungsmaßnahme Druck auszuüben, ihn einzuschüchtern,
seiner habhaft zu werden oder zumindest Informationen über ihn zu erhalten. Um
die insoweit angestrebte Wirkung zu erzielen, laufen die nahen Angehörigen des
politisch Verfolgten Gefahr, für längere zeit festgenommen, mißhandelt oder gar
gefoltert zu werden.
Zu dieser Erkenntnis gelangt der Senat in Würdigung der Auskünfte von amnesty
international vom 25. April 1980 an das Verwaltungsgericht Ansbach, vom 3. Mai
1-082 an das Verwaltungsgericht Stuttgart, vom 2. September 1982 an das
Verwaltungsgericht Karlsruhe, vom 8. März 1985 an das Verwaltungsgericht
Hamburg und vom 27. Februar 1986 an das Verwaltungsgericht Köln, der
Stellungnahme des Instituts für Afrika-Kunde an das Verwaltungsgericht Ansbach
vom 19. Juni 1987 sowie der ausführlichen, von offenkundiger Detailkenntnis
getragenen Stellungnahme des Günter Schröder vom Januar 1989, die dieser
gegenüber dem Verwaltungsgericht Stuttgart abgegeben hat und die einen
intensiver. Einblick in die in den vergangenen Jahren bis in die Gegenwart in
Äthiopien geübte Praxis der Sippenhaft vermittelt. Mit seiner Einschätzung der
Lage in Äthiopien befindet sich der Senat im übrigen in Übereinstimmung mit den
Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 25. Mai 1988 - 9
BZ 87.31456 und des OVG Rheinland-Pfalz vom 7. Juni 1989 - 13 A 12188 -.
Trotz überwiegend zurückhaltenderer Bewertung im Vergleich zu vorgenannten
Auskünften räumt im übrigen auch das Auswärtige Amt: jedenfalls noch in seinem
Lagebericht Äthiopien vom 15. März 1987 unter Hinweis darauf, daß dieses Land
weit davon entfernt sei, ein Rechtsstaat im Sinne westlicher Idealvorstellungen zu
sein, ein, daß bei Verschwinden eines Wehrpflichtigen eventuell auch Sippenhaft in
Betracht kommen könne. Unter Zugrundelegung dieser Bewertung erscheint es
dem Senat wenig nachvollziehbar, daß in diesem Lagebericht gleichzeitig
ausgeführt ist, daß Sippenhaft "in der Pegel" nicht: angetroffen werde. Muß bereits
in Fällen einer - evtl. nicht einmal aus politischen Gründen erfolgten -
Wehrdienstentziehung mit offenbar beugehaftähnlichen Repressalien gegenüber
Angehörigen des Wehrpflichtigen gerechnet werden, so ist nach Auffassung des
Senats davon auszugehen, daß ähnliche Maßnahmen praktiziert wurden und noch
werden, wenn es darum geht, den erklärten politischen Gegner, insbesondere also
einen tatsächlichen oder vermeintlichen Angehörigen oder gar aktiven Kämpfer
einer separatistischen Widerstandsorganisation zu treffen. Im übrigen hat das
Auswärtige Amt in der Vergangenheit (Auskunft vom 7. Juli 1987 an das
Verwaltungsgericht Ansbach) eingeräumt, daß sein Erkenntnisgebiet in Äthiopien
weitgehend auf den Großraum Addis Abeba beschränkt sei, dem einzigen Gebiet,
in dem Angehörige der Botschaft sich bewegen dürften, ohne zuvor eine
Reiseerlaubnis der Sicherheitsbehörden einholen zu müssen. Reisen in andere
Provinzen Äthiopiens unterlägen dieser Beschränkung, wodurch naturgemäß die
Möglichkeit begrenzt sei, die Richtigkeit von Angaben äthiopischer Asylbewerber zu
65
66
67
68
69
70
Möglichkeit begrenzt sei, die Richtigkeit von Angaben äthiopischer Asylbewerber zu
den Verhältnissen in anderen Regionen Äthiopien nachzuprüfen. Auch unter
diesem Gesichtspunkt hält es der Senat nicht für angezeigt, allein wegen der in
Fragen der Sippenhaft zurückhaltenden Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes
zu einer von den vorstehend genannten Auskünften, insbesondere der auf eigener
Erkenntnis beruhenden Auskunft des Günter Schröder, abweichenden
Einschätzung der Sachlage zu gelangen.
Nach alledem ist davon auszugehen, daß auch die Klägerin zu 2) im Zeitpunkt
ihrer Flucht aus Äthiopien gute Gründe hatte, eine politische Verfolgung in Form
nachhaltiger und schwerwiegender Repressalien seitens der äthiopischen
Sicherheitskräfte allein deswegen zu befürchten, weil sie die Ehefrau des Klägers
zu 1) ist.
Aus den gleichen Erwägungen hätte die Klägerin zu 2) im Falle einer gedachten
Rückkehr nach Äthiopien jetzt und in absehbarer Zeit eine politische Verfolgung
seitens des äthiopischen Staates zu befürchten. Selbst wenn die äthiopischen
Behörden die verwandtschaftlichen Beziehungen der Klägerin zu 2) zum Kläger zu
1) zunächst nicht erkennen sollten, bliebe jedenfalls, da die Klägerin zu 2)
unschwer als Eritreerin identifiziert würde, die illegal das Land verlassen hatte, ein
entsprechender Verdacht, der sich als Folge weiterer Aufklärung ggfs. zu der
Gewißheit verdichten würde, der Ehefrau eines aktiven und von seiner Funktion in
der ELF und der Sagem her herausragenden Kämpfers der Widerstandsbewegung
habhaft geworden zu sein.
Was die Problematik der in Äthiopien zu verzeichnenden Bürgerkriegssituation,
sowie die Frage möglicher innerstaatlicher Fluchtalternativen und die Erlangung
anderweitiger Verfolgungssicherheit im Sinne des § 2 AsylVfG angeht, kann auf die
Ausführungen zum Kläger zu 1) Bezug genommen werden.
Zu Recht hat das Verwaltungsgericht schließlich auch die Beklagte zu 1)
verpflichtet, die Kläger zu 3) und 4) als Asylberechtigte anzuerkennen. Diesen
Klägern drohte aus den gleichen Erwägungen, wie sie im Zusammenhang mit der
Klägerin zu 2) angestellt wurden, unter den, Gesichtspunkt der Sippenhaft konkret
politische Verfolgung in Äthiopien. Auch sie können sich angesichts der Erkenntnis,
daß in diesem Staate auch gegenüber minderjährigen Kindern
Repressionsmaßnahmen der genannten Art stattgefunden haben (vgl. z.B.
amnesty international an Verwaltungsgericht Stuttgart vom 3. Mai 1982 sowie -
ausführlich Günter Schröder an Verwaltungsgericht Stuttgart vom Januar 1989),
auf die vom Senat näher dargelegte Regelvermutung berufen.
Daß den Klägern zu 3) und 4) schließlich auch im Falle einer Rückkehr nach
Äthiopien politische Verfolgung drohen würde, ergibt sich aus den Ausführungen,
wie sie im Senatsurteil vom 26. Juni 1989 - 13 UE 3927187 - enthalten sind. Im
Hinblick auf die minderjährige Klägerin jenes Falles hat der Senat näher dargelegt,
daß dieser bei einer Rückkehr nach Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
politische Verfolgung drohte, weil sie in einem staatlichen Waisenhaus
untergebracht würde Und dort eine Erziehung zu erwarten hätte, die die
Menschenwürde verletzte und deshalb asylrechtlich relevant wäre. Im Anschluß an
diese Feststellung ist in diesem Urteil folgendes ausgeführt:
Dem steht insbesondere nicht die bereits zuvor erwähnte Auskunft des
Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Schleswig vom 25. Januar 1988
entgegen. Wenn dort ausgeführt ist, dem minderjährigen Kläger jenes
Rechtsstreits geschehe im Falle einer unbegleiteten Rückkehr nach Äthiopien
nichts, so ist diese Einschätzung schon deshalb von geringem Wert für die
Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits, weil sich sowohl die Auskunft des
Auswärtigen Amtes als auch die ihr zugrundeliegende Anfrage auf einen nicht
näher spezifizierten Einzelfall bezielen und vor allem nicht erkennen lassen, daß
sie überhaupt einen eritreischen Volkszugehörigen betreffen. Aus diesem Grund
hält der Senat auch die Wahrscheinlichkeitsprognose des Auswärtigen Amtes,
wonach die äthiopischen Behörden gegebenenfalls Verwandte bitten würden, das
zurückkehrende Kind aufzunehmen, auf den vorliegenden Fall nicht für
übertragbar. Denn der Senat geht angesichts der Tatsache, daß die Klägerin zu 2)
über den internationalen Flughafen von Addis Abeba einreisen müßte, davon aus,
daß sie als Eritreerin und als Kind einer in der Bundesrepublik Deutschland
gebliebenen Asylbewerberin erkannt würde. In einem solchen Fall erscheint es
ausgeschlossen, daß äthiopische Behörden in dem Bürgerkriegsgebiet Eritrea
lebende Verwandte der Klägerin zu 2) ausfindig machten, um sie dort
71
72
73
74
lebende Verwandte der Klägerin zu 2) ausfindig machten, um sie dort
unterzubringen, zumal der Großvater und der Vater der Klägerin zu 2) als
Regimegegner inhaftiert waren und im Gefängnis verstorben bzw. verschollen sind.
Eine Unterbringung der Klägerin zu 2) bei Verwandten in Eritrea würde nach
Auffassung des Senats der erklärten Absicht der äthiopischen Regierung, ihre
Ideologie und die Vorherrschaft der amharischen Volksgruppe durchzusetzen,
vollständig widersprechen. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß die Klägerin zu
2) in einer staatlichen Erziehungseinrichtung untergebracht würde und als Kind
eritreischer Regimegegner besonderer Beachtung der äthiopischen Behörden
ausgesetzt wäre. Bei dieser Sachlage ist der Senat der Überzeugung, daß der von
W. Michler anläßlich seiner Zeugenvernehmung vor dem Verwaltungsgericht
Hannover am 26. Januar 1982 getroffenen Aussage, eritreische Kinder würden in
den staatlichen äthiopischen Erziehungseinrichtungen vollständig im Sinne des
Geschichtsbewußtseins und der Geschichtsdarstellung des gegenwärtigen
Regimes erzogen, nach wie vor Gültigkeit zukommt. Dies wird nach Auffassung des
Senats bestätigt durch den Verfassungsentwurf von 1986 für eine Volksrepublik
Äthiopien. Darin wird proklamiert (Robert v. Lucius, Äthiopien auf dem Weg zur
Volksrepublik, FAZ, 4. Juli 1-086; den Beteiligten als Anlage zum Schriftsatz der
Bevollmächtigten der Klägerinnen von? 17. März 1989 bekannt), Staat und
Gesellschaft kümmerten sich uni die Kinder, damit sie als patriotische Bürger
aufwüchsen, die sich für den Sozialismus einsetzten. Es liegt auf der Hand, daß der
äthiopische Staat diese Erziehungsziele zu allererst dort zu erreichen versuchen
wird, wo er unmittelbar Einfluß auf die Erziehung ausüben kann, nämlich in
staatlichen Erziehungseinrichtungen.
Unter Zugrundelegung des totalitären Herrschaftsanspruchs des gegenwärtigen
äthiopischen Regimes bedeutete die Umsetzung der vorgenannten
Erziehungsziele für die Klägerin zu 2), daß ihre auch im Alter von 6 Jahren
bestehende Identität als christliche Eritreerin und der durch ihre Mutter in ihr
angelegte Wille, als christliche Eritreerin erzogen zu werden, zwangsweise
umgebildet würden. Die Klägerin zu 2) ist in den ersten und prägenden Jahren ihrer
Kindheit - wenn auch überwiegend in einem fremden Kulturkreis - als Eritreerin mit
tigrinischer Sprache und im christlich-orthodoxen Glauben aufgewachsen. Die
Erziehung zum sozialistischen, patriotischen äthiopischen Bürger im Sinne des
derzeitigen äthiopischen Regimes hätte jedoch den Verlust gerade dieser ihre
Identität entscheidend prägenden Merkmale zur Folge, ohne daß sie dagegen eine
Abwehrmöglichkeit hätte. Die zwangsweise Umbildung der Klägerin zu 2) im
ethnischen wie religiösen Sinne, die - wie die oben wiedergegebenen
Erziehungsziele eindeutig zeigen - politisch motiviert wäre, stellte nach Auffassung
des Senats einen Eingriff in ihr Recht auf Selbstbestimmung und Wahrung ihrer
Identität dar, der nach Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzte und
daher asylrechtlich relevant wäre (vgl. Hess. VGH, Urteil vom 12. Mai 1989, - 12 UE
2586185 -).
Über diesen zur Asylanerkennung der Klägerin zu 2) führenden Grund hinaus, hält
der Senat eine Anerkennung der Klägerin zu 2) als Asylberechtigte auch aus dem
Gesichtspunkt der "Sippenhaft" für gegeben.
Zwar befindet sich die Klägerin zu 2) zur Zeit mit 6 Jahren in einem Alter, mit dem
sie unter dem äthiopischen Strafmündigkeitsalter von 9 Jahren liegt. Gegenüber
solchen Kindern werden nach G. Schröder (a.a.O.) nur "selten" Formen der
Sippenhaft praktiziert. Der Senat hat aber bei der von ihm zu treffenden Prognose
nicht nur auf den Zeitpunkt seiner Entscheidung abzustellen, sondern auch auf
einen absehbaren Zeitraum nach diesem Zeitpunkt. Im Hinblick auf die am 1.
August 1991 eintretende Strafmündigkeit der Klägerin zu 2) nach äthiopischem
Recht ist der Senat der Auffassung, daß die Klägerin zu 2) in einem bereits jetzt
konkret überschaubaren Zeitraum mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr
droht, Opfer von Sippenhaftmaßnahmen zu werden.
Daß Sippenhaft nach wie vor durch die äthiopischen Behörden als
Repressionsmittel angewandt wird, ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus
der Stellungnahme von G. Schröder (a.a.O.), in der detailliert dargelegt wird, daß,
warum und in welchem Umfang Sippenhaft im heutigen Äthiopien praktiziert wird.
Diese Praxis erhält auf dem Hintergrund der vom Auswärtigen Amt wiederholt
getroffenen Feststellung (Lageberichte vom 15. März 1967 und vom 15. April
1988), Äthiopien sei weit entfernt, ein Rechtsstaat im Sinne westlicher
Idealvorstellungen zu sein, es gäbe weiterhin Folter und Inhaftierungen ohne Urteil,
ihr besonderes Gewicht.
75
76
77
78
Nach der Stellungnahme von G. Schröder findet Sippenhaft in den
verschiedensten Formen und aus den unterschiedlichsten Anlässen statt. Im
konkreten Fall kommt dabei dem Umstand besonderes Gewicht zu, daß es nach
Schröder keine "Verjährungsfrist" bei politischer Verfolgung und auch nicht in der
Anwendung von Sippenhaft gibt. Deshalb ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in
Betracht zu ziehen, daß - zumal mit dem Heranwachsen der Klägerin zu 2) an das
Strafmündigkeitsalter - der Aspekt der Verwandtschaft zu einer oder mehreren
regimefeindlichen Personen im Sinne von Sippenhaft relevant wird. Die Klägerin zu
2) ist dabei nach Auffassung des Senats besonders gefährdet. Denn sie gehört
einer regimefeindlichen Familie an: Ihr Großvater ist als ELF-Angehöriger im
Gefängnis verstorben, ihr Vater als EPLF-Angehöriger seit 1984 im Gefängnis
verschollen, ihre Mutter wird aufgrund des illegalen Verlassens, der
Asylantragstellung und ihrer eigenen Aktivitäten als konterrevolutionär eingestuft,
für ihren in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Onkel gilt das gleiche.
Zumindest bei einer solchen Sachlage hält der Senat mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit die Gefahr für gegeben, daß über die Klägerin zu 2) durch
Verhöre bzw. Inhaftierung (vgl. G. Schröder, a.a.O.) Druck auf die hier lebende
Klägerin zu 1) bzw. deren Bruder ausgeübt wird, um deren Rückkehr nach
Äthiopien zu erzwingen, jedenfalls aber, um Informationen über ihre Tätigkeit und
ihre Kontakte zu Landsleuten zu erlangen.
Diese Ausführungen, an denen der Senat festhält, gelten in gleichem Maße für die
Kläger zu 3) und 4) des vorliegenden Rechtsstreits, so daß auch insoweit die
Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten und die
Anschlußberufung der Beklagten zu 1) gegen das der Asylklage stattgebende
Urteil erster Instanz erfolglos bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 159 VwGO, 100 ZPO, die
Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10,
711 ZPO in entsprechender Anwendung.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche
Bedeutung hat und der Senat im vorliegenden Urteil auch nicht von einer
Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts oder des Gemeinsamen Senats der
obersten Gerichtshöfe des Bundes abweicht.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.