Urteil des HessVGH vom 23.07.1990

VGH Kassel: politische verfolgung, amnesty international, afghanistan, eltern, auskunft, anerkennung, pakistan, regierung, flucht, politischer gefangener

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Gericht:
Hessischer
Verwaltungsgerichtshof
13. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
13 UE 2918/88
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
Art 16 Abs 2 GG
(Vermutung der Erstreckung der Sippenhaft auf Kinder von
in der Bundesrepublik Deutschland lebenden
asylberechtigten afghanischen Staatsbürgern)
Tatbestand
Die in den Jahren 1974 und 1976 in Kabul geborenen Klägerinnen zu 3) und 4) -- im
folgenden: Klägerinnen -- sind afghanische Staatsangehörige. Ihre ebenfalls in
Kabul geborenen Eltern, N und M R, sind rechtskräftig als Asylberechtigte
anerkannt.
Die Klägerinnen verließen zusammen mit ihren Eltern und ihren inzwischen
ebenfalls rechtskräftig als Asylberechtigte anerkannten Brüdern R und R A, die
Kläger zu 1) und 2), am 21. Juni 1982 ihr Heimatland, reisten nach Tschaman in
Pakistan, mit dem Zug weiter nach Quetta und am 23. Juni 1982 nach Karachi. Von
dort flogen sie am 5. August 1982 nach Istanbul und einen Tag später weiter nach
Frankfurt am Main.
Am Tage nach ihrer Ankunft in der Bundesrepublik Deutschland stellten die Eltern
der Klägerinnen bei der Grenzschutzstelle des Flughafens Frankfurt am Main einen
Asylantrag, den sie darauf stützten, als religiöse moslemische Familie nicht mit
der kommunistischen Regierung zusammenarbeiten zu können. Deswegen sei ihr
Leben Tag für Tag bedroht gewesen. Die Aufforderung, "kommunistischen"
Abteilungen beizutreten, hätten sie verweigert, weshalb der Vater der Klägerinnen
nach Kandahar versetzt worden sei, nachdem zuvor zwei Hausdurchsuchungen
stattgefunden hätten.
Bei der Anhörung im Rahmen der Vorprüfung bei dem Bundesamt für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 18. August 1982 trug der Vater der
Klägerinnen ergänzend vor, er sei als Geologielaborant tätig gewesen. Im Jahre
1981 sei er mehr und mehr unter Druck gesetzt worden, sich den Kommunisten
anzuschließen. Da er sich wahrscheinlich wegen seiner Weigerung, der Partei
beizutreten, als Regimegegner verdächtig gemacht habe, sei es im Juni 1981 zu
Hausdurchsuchungen gekommen, bei denen seine "religiösen" und fachlichen
Bücher mitgenommen worden seien. Am 17. August 1981 gegen 22.00 Uhr sei
eine zweite Hausdurchsuchung erfolgt. Die Polizisten hätten ihn schließlich
gefesselt, zum Büro des Geheimdienstes Khad und dann ins Gefängnis gebracht,
wo sich zwei Monate und zehn Tage niemand um ihn gekümmert habe. Er sei
mehrmals verhört und mittels Elektroschocks gefoltert worden. Seine rechte
Kniescheibe sei durch Knüppelschläge gebrochen worden. Am 28. Dezember 1981
sei er schließlich, nachdem er eine Loyalitätserklärung unterschrieben habe, unter
weiteren Drohungen entlassen worden. Er habe dann seine Arbeit wieder
aufgenommen, aber wegen der Behandlung seines Beines für einen Monat ein
Krankenhaus aufsuchen müssen. Nachdem er schließlich wieder sechs bis sieben
Wochen gearbeitet habe, sei er in eine Textilfabrik nach Kandahar versetzt worden
und habe sich dann zur Flucht entschlossen.
Die Mutter der Klägerinnen bestätigte die Aussage ihres Ehemannes und ergänzte
die Asylgründe dahingehend, sie sei Lehrerin gewesen und ebenfalls bedrängt
worden, "Kommunistin" zu werden. Dies habe sie abgelehnt und sei deswegen vom
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worden, "Kommunistin" zu werden. Dies habe sie abgelehnt und sei deswegen vom
Erziehungsministerium zur Erziehung von Analphabeten in eine unwirtliche Gegend
gesandt worden. Nach der Versetzung ihres Ehemannes habe sie sich mit der
Begründung, mit ihm nach Kandahar überzusiedeln, abgemeldet.
Eigene Fluchtgründe für die Klägerinnen wurden nicht vorgetragen.
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte die Anträge
der Klägerinnen, die der beiden Brüder und ihrer Eltern durch Bescheid vom 10.
September 1982 im wesentlichen mit folgender Begründung ab: Das Vorbringen
des Vaters der Klägerinnen sei unglaubhaft, weil er seine Inhaftierung nicht schon
bei der Grenzschutzstelle Frankfurt am Main erwähnt habe. Die
Hausdurchsuchungen seien nicht als politische Verfolgung anzusehen, die
Aufforderung, der herrschenden Demokratischen Volkspartei Afghanistan bzw.
einer ihrer Organisationen beizutreten, sei ebensowenig wie die illegale Ausreise
asylbegründend. Aber selbst wenn eine politische Verfolgung unterstellt werde,
habe die Familie einschließlich der Klägerinnen in Pakistan anderweitigen Schutz
im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylVfG gefunden.
Der Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
wurde den Eltern der Klägerinnen am 13. Dezember 1982 zugestellt.
Am 12. Januar 1983 erhoben die Klägerinnen, ihre beiden Brüder und ihre Eltern
Klage bei dem Verwaltungsgericht Wiesbaden und begehrten ihre Anerkennung als
Asylberechtigte. Zur Klagebegründung wurde darauf verwiesen, der Vater der
Klägerinnen habe bei seiner Vorprüfung detailliert eine gegen ihn gerichtete
Verfolgungsmaßnahme des afghanischen Staates geschildert, insbesondere
glaubhaft gemacht, aus politischen Gründen inhaftiert und in diesem
Zusammenhang gefoltert worden zu sein. Seine Freilassung habe er nur einer
Loyalitätserklärung zu verdanken. Der Einwand der Beklagten, die Angaben seien
deshalb unglaubhaft, weil er diese nicht unmittelbar bei seiner Vernehmung durch
die Grenzbehörden gemacht habe, verkenne die tatsächliche Situation neu
einreisender Flüchtlinge.
Mit Beschluß vom 26. März 1984 wurde der die Klägerinnen und der ihre Brüder
betreffende Teil des Verfahrens abgetrennt.
Den Klagen der Eltern gab das Verwaltungsgericht Wiesbaden mit Urteil vom 19.
April 1984 -- II/2 E 5054/83 -- statt und verpflichtete die Beklagte, die Eltern als
Asylberechtigte anzuerkennen. Die Entscheidung ist rechtskräftig.
Zur Begründung ihrer Klagen verwiesen die Klägerinnen und ihre Brüder im
wesentlichen darauf, ihnen drohten aus dem Gesichtspunkt der Drittbetroffenheit
politische Verfolgung. Es sei nicht auszuschließen, daß sich der afghanische Staat
ihrer geiselähnlich bediene, um die sich im Ausland aufhaltenden Eltern zur
Rückkehr zu bewegen.
Die Klägerinnen und ihre Brüder, die Kläger zu 1) und 2), beantragten,
den Bescheid des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
vom 10. September 1982, soweit dieser sie betrifft, aufzuheben und das
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zu verpflichten, sie als
Asylberechtigte anzuerkennen.
Die Beklagte beantragte,
die Klagen abzuweisen.
Sie bezog sich zur Begründung auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides.
Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten beteiligte sich am
erstinstanzlichen Verfahren nicht.
Mit Urteil vom 2. Dezember 1987 wies das Verwaltungsgericht die Klagen der
Klägerinnen ab und führte zur Begründung im wesentlichen aus, ihrer
Anerkennung stehe entgegen, daß sie in Pakistan vor politischer Verfolgung sicher
im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylVfG gewesen seien. Hinsichtlich der Brüder der
Klägerinnen, der Kläger zu 1) und 2), gab das Verwaltungsgericht den Klagen statt
und verpflichtete die Beklagte, diese als Asylberechtigte anzuerkennen. Wegen der
ablehnenden Haltung der Kläger zu 1) und 2) gegenüber dem afghanischen
Wehrdienst hätten sie mit politischer Verfolgung zu rechnen. Dem stehe auch der
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Wehrdienst hätten sie mit politischer Verfolgung zu rechnen. Dem stehe auch der
in Pakistan gefundene Verfolgungsschutz nicht entgegen, da die Gründe für ihre
Anerkennung als Asylberechtigte erst nach der Ausreise aus Pakistan entstanden
seien.
Gegen dieses den Klägerinnen am 4. Juli 1988 zugestellte Urteil haben diese unter
Hinweis darauf, daß in ihrem Falle kein anderweitiger Verfolgungsschutz in Pakistan
eingetreten sei, am 12. Juli 1988 Berufung eingelegt.
Die Klägerinnen beantragen,
unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 2.
Dezember 1987 die Beklagte zu verpflichten, sie als Asylberechtigte
anzuerkennen.
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten hat sich im Berufungsverfahren
nicht geäußert.
Den Beteiligten ist eine Liste der dem Senat zu Afghanistan vorliegenden
Erkenntnisquellen übersandt worden. Sie haben ihr Einverständnis erklärt, daß
ohne mündliche Verhandlung entschieden wird.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der
Beteiligten wird auf die von diesen eingereichten Schriftsätze, den einschlägigen
Vorgang des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge -- Gz.:
423/01129/82 -- sowie die die Eltern der Klägerinnen betreffende Gerichtsakte des
Verwaltungsgerichts Wiesbaden -- II/2 E 5054/83 -- Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung der Klägerinnen, über die der Senat mit Einverständnis der
Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann (§§ 101 Abs. 2, 125
Abs. 1 VwGO), ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Verpflichtungsklage
auf Anerkennung als Asylberechtigte zu Unrecht abgewiesen.
Asylrechtlichen Schutz genießt jeder, der im Falle seiner Rückkehr in den
Herkunftsstaat dort aus politischen Gründen Verfolgungsmaßnahmen mit Gefahr
für Leib und Leben oder Beschränkungen seiner persönlichen Freiheit ausgesetzt
wäre oder in diesem Land politische Repressalien zu erwarten hätte (BVerfG,
Beschluß v. 2. Juli 1980 -- 1 BvR 147/80 u.a. --, BVerfGE 54, 341 <357>). Eine
Verfolgung ist politisch im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG, wenn sie dem
einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse
Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein
prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der
übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Diese
spezifische Zielrichtung ist anhand des inhaltlichen Charakters der Verfolgung
nach deren erkennbarem Zweck und nicht nach den subjektiven Motiven des
Verfolgenden zu ermitteln (BVerfG, Beschluß v. 10. Juli 1989 -- 2 BvR 502/86 u.a. --
, BVerfGE 80, 315 ff.)
Werden durch die staatliche Maßnahme nicht Leib, Leben oder die physische
Freiheit des Betreffenden gefährdet, sondern andere Rechtsgüter beeinträchtigt,
so sind diese Eingriffe nur dann asylrelevant, wenn sie nach Intensität und Schwere
die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die Bewohner des
Heimatstaates aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen
haben (BVerfG, Beschluß v. 2. Juli 1980, a.a.O.).
Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG setzt eine gegenwärtige Verfolgungsbetroffenheit voraus
(BVerfG, Beschluß v. 2. Juli 1980, a.a.O., S. 359, 360). Dem Asylbewerber muß
deshalb politische Verfolgung bei verständiger Würdigung aller Umstände seines
Falles mit beachtlicher, d. h. überwiegender Wahrscheinlichkeit drohen, so daß es
ihm nicht zumutbar ist, in sein Heimatland zurückzukehren. Hierbei ist auf die
Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung
abzustellen, wobei es einer über einen absehbaren Zeitraum ausgerichteten
Prognose der sich für den Asylbewerber ergebenden Verfolgungssituation bedarf
(BVerwG, Urteil v. 24. April 1979 -- BVerwG 1 C 49.77 --, Buchholz 402.24, § 28
AuslG Nr. 13; Urteil v. 31. März 1981 -- BVerwG 9 C 286.80 --, EZAR 200 Nr. 3).
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Ein herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt für diejenigen
Asylantragsteller, die schon in ihrer Heimat politisch verfolgt wurden, die
insbesondere bereits Opfer politisch begründeter Repressalien waren oder
jedenfalls gute Gründe hatten, solche Repressalien als konkret bevorstehend zu
befürchten. Diese Personen sind schon dann als Asylberechtigte anzuerkennen,
wenn an ihrer Sicherheit vor abermals einsetzender Verfolgung bei Rückkehr in
den Heimatstaat ernsthafte Zweifel verbleiben (BVerfG, Beschluß v. 2. Juli 1980,
a.a.O.; BVerwG, Urteil v. 25. September 1984 -- BVerwG 9 C 17.84 --, BVerwGE 70,
169).
Ein strenger Maßstab ist demgegenüber sowohl in materieller Hinsicht als auch
was die Darlegungslast und die Beweisanforderungen anbelangt, dann anzulegen,
wenn sich der Asylbewerber auf Verfolgungsgründe beruft, die er nach Verlassen
seines Heimatstaates aus eigenem Entschluß geschaffen hat (sogenannte
selbstgeschaffene Nachfluchttatbestände). Diese subjektiven Nachfluchtgründe
sind wegen des Fehlens des von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG grundsätzlich
vorausgesetzten kausalen Zusammenhangs zwischen Verfolgung und Flucht
überdies nur in eng begrenzten Ausnahmefällen überhaupt asylrechtlich relevant
(BVerfG, Beschluß v. 26. November 1986 -- 2 BvR 1058/85 --, BVerfGE 74, 51).
Eine Ausnahme von der grundsätzlichen Unerheblichkeit subjektiver
Nachfluchtgründe ist dabei dann anzuerkennen, wenn sich der Ausländer bei
Vornahme seines Verfolgung auslösenden Nachfluchtverhaltens in einer
ausweglosen Lage befunden hat (BVerwG, Urteil v. 30. August 1988 -- BVerwG 9 C
80.87 --, BVerwGE 80, 131). Besteht das zur Verfolgung führende
Nachfluchtverhalten in einer exilpolitischen Betätigung, ist der sich hieraus
ergebende Nachfluchttatbestand dann asylrechtlich relevant, wenn sich die
politische Betätigung als Ausdruck und Fortführung einer schon während des
Aufenthalts im Heimatstaat vorhandenen und erkennbar betätigten festen
Überzeugung darstellt (BVerfG, Beschluß v. 26. November 1986, a.a.O., S. 66).
Handelt es sich bei dem Asylantragsteller um den Angehörigen eines politisch
Verfolgten, kann seinem Asylbegehren nicht entgegengehalten werden, daß ihm
schon ausländerrechtlich der Aufenthalt bei seinem in der Bundesrepublik
Deutschland lebenden Angehörigen gestattet ist, sich sein Schicksal nach
freiwilliger oder erzwungener Rückkehr somit -- jedenfalls gegenwärtig -- lediglich
als theoretische Frage stellt (BVerwG, Urteil v. 27. April 1982 -- BVerwG 9 C 239.80
--, BVerwGE 65, 245 <249>).
Allerdings setzt die Zuerkennung eines Asylanspruchs stets die Gefahr eigener
politischer Verfolgung voraus. Angehörige von politisch Verfolgten können ihre
Anerkennung als Asylberechtigte deshalb nicht bereits wegen der familiären
Verbundenheit mit der von politischen Verfolgungsmaßnahmen betroffenen oder
bedrohten Person verlangen (BVerfG, Vorprüfungsausschuß, Beschluß v. 19.
Dezember 1984 -- 2 BvR 1517/84 --, NVwZ 1985, 260; BVerwG, Urteil v. 27. April
1982, a.a.O.). Soweit es um das Schicksal von Familienangehörigen politisch
Verfolgter geht, ist jedoch stets in Betracht zu ziehen, daß die primär gegen ein
Familienmitglied gerichteten Maßnahmen des Staates kraft der gegenseitigen
Abhängigkeit mittelbar Auswirkungen auch auf die Lage seiner Angehörigen haben
und sich -- je nach Art und Schwere dieser Folgen -- auch für diese als Verfolgung
darstellen können. Anhaltspunkte für den Willen des Staates, auch diese Personen
in die Verfolgung mit einzubeziehen, können in der Schwere der Maßnahmen und
ihrer Folgen, dem Stellenwert, der der Familie aus Sicht des Regimes zukommt
sowie in den allgemeinen politischen Verhältnissen im Verfolgerstaat zu finden
sein. Eine Rolle spielen kann auch die Frage, ob und inwieweit Familienangehörige
von Verfolgten, soweit sie im Land zurückbleiben oder dorthin zurückkehren
müssen, in die Gefahr geraten können, daß der Verfolgerstaat sich ihrer
geiselähnlich bedient, um auf den Angehörigen Druck auszuüben (BVerwG, Urteil
v. 27. April 1982, a.a.O.).
Einer besonderen Gefährdung unterliegen unter dem Gesichtspunkt der
Sippenhaft Ehegatten und minderjährige Kinder eines politisch Verfolgten, da
totalitäre Staaten erfahrungsgemäß auf diese der Zielperson nahestehenden und
von ihr abhängigen Personen Zugriff nehmen, um sie gewissermaßen
stellvertretend oder zusätzlich für den eigentlichen Adressaten der
Verfolgungsmaßnahmen zu treffen. Um dieser besonderen potentiellen
Gefährdungslage Rechnung zu tragen, wird für Ehegatten und minderjährige Kinder
von politisch Verfolgten eine -- widerlegliche -- Vermutung eigener politischer
Verfolgung wirksam, wenn Fälle festgestellt worden sind, in denen der
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Verfolgung wirksam, wenn Fälle festgestellt worden sind, in denen der
Verfolgerstaat Repressalien gegenüber solchen Personen im Zusammenhang mit
der politischen Verfolgung des Ehegatten oder der Eltern ergriffen hat. In diesen
Fällen bedarf es regelmäßig keiner weiteren Überprüfung, ob die festgestellten
Fälle Ausdruck einer allgemeinen Praxis des Verfolgerstaates sind, ob die ihnen
zugrunde liegenden Umstände konkrete Rückschlüsse auf eine eigene
Verfolgungsgefahr desjenigen gestatten, der sich auf sie als Vergleichsfälle beruft,
und ob die befürchteten Maßnahmen Ausdruck eines gerade gegen den
Angehörigen gerichteten staatlichen Verfolgungswillens sind. Die für die eigene
Verfolgung des Familienmitglieds streitende Vermutung kann nur auf Grund
besonderer Umstände, deren Darlegung und Nachweis der Beklagten obliegt, als
widerlegt gelten, etwa wenn erkennbar ist, daß es sich bei den Übergriffen gegen
Angehörige politisch Verfolgter um atypische Einzelfälle gehandelt hat, die sich
nicht wiederholt haben (BVerwG, Urteile v. 2. Juli 1985 -- BVerwG 9 C 35.84 --,
NVwZ 1986, 487 und v. 13. Januar 1987 -- BVerwG 9 C 53.86 --, BVerwGE 75, 304
<312, 313>).
Der Asylbewerber ist aufgrund der ihm obliegenden prozessualen
Mitwirkungspflicht gehalten, von sich aus die in seine eigene Sphäre fallenden
tatsächlichen Umstände substantiiert und in sich stimmig zu schildern sowie
eventuelle Widersprüche zu seinem Vorbringen in früheren Verfahrensstadien
nachvollziehbar aufzulösen, so daß sein Vortrag insgesamt geeignet ist, den
Asylanspruch lückenlos zu tragen. Bei der Darstellung der allgemeinen Umstände
im Heimatland genügt es dagegen, daß die vorgetragenen Tatsachen die nicht
entfernt liegende Möglichkeit politischer Verfolgung ergeben (BVerwG, Urteil v. 23.
November 1982 -- 9 C 74.81 --, EZAR 630 Nr. 1). Ungeachtet dessen muß sich das
Gericht in vollem Umfang die Überzeugung von der Wahrheit des von dem
Asylbewerber behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals verschaffen, hat
dabei allerdings den sachtypischen Beweisnotstand hinsichtlich der Vorgänge im
Heimatland bei der Auswahl der Beweismittel und bei der Würdigung des Vortrages
und der Beweise angemessen zu berücksichtigen (BVerwG, Urteil v. 16. April 1985
-- BVerwG 9 C 109.84 --, BVerwGE 71, 180 ff).
Ob die Klägerinnen in Anwendung dieser Rechtsgrundsätze als politisch Verfolgte
anzusehen sind, hängt entscheidend von der politischen Situation in ihrer Heimat
ab. Diese stellt sich nach den vom Senat in das Verfahren eingeführten
Erkenntnisquellen (vgl. insbesondere: Hamed Mahmud: Bericht für das
Sozialwissenschaftliche Institut der Konrad-Adenauer-Stiftung über die historische
Entwicklung und gegenwärtige Lage Afghanistans (Stand: 1980); Auskunft des
Auswärtigen Amtes v. 8. September 1982 an das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge; Afghanistan-Zentrum, Afghanistan-Chronik, 1978 bis
1984; Afghanistan-Zentrum, Informationsblatt Nr. 2 (ohne Datum); Afghanistan-
Zentrum, Informationsblatt Nr. 3 (Stand: Mai 1985); Klaus Natorp in FAZ v. 20.
Februar 1989; Victor Freigang in FAZ v. 2. Oktober 1989; Lagebericht des
Auswärtigen Amtes Afghanistan v. 24. Oktober 1989; FAZ v. 8. März 1990) wie
folgt dar:
Die seit Februar 1919, dem Zeitpunkt der Erlangung der Unabhängigkeit,
bestehende Monarchie in Afghanistan wurde durch einen unblutigen Staatsstreich
im Juli 1973 von Mohammed Daud, Schwager des damaligen, seit 1933
regierenden afghanischen Königs Zahir Schah gestürzt. Mohammed Daud erklärte
sich daraufhin zum Präsidenten der von ihm ausgerufenen Republik. Im Laufe
seiner autokratischen Herrschaft entledigte er sich weitgehend auch derjenigen,
die -- zugehörig zur moskauorientierten Gruppierung -- seinen Umsturz begrüßt
hatten und anfänglich an der Regierung beteiligt worden waren. Ferner versuchte
er, besonders sowjetfreundliche Putschoffiziere zu eliminieren, und wurde deshalb
am 27. April 1978 im Zuge eines Staatsstreiches, der sogenannten "Saur-
Revolution" getötet. Wesentlich beteiligt hieran war die Sowjetunion, die der
Operation den Decknamen "Saur" (April) gegeben hatte und durch ihr militärisches
Einschreiten einer weiteren Liquidierung der ihr in Afghanistan nahestehenden
Offiziere zuvorkommen wollte. Weiterhin war für dieses militärische Engagement
der Versuch Dauds maßgebend, die Bindung seines Landes an die Sowjetunion zu
lockern, obwohl er als Premierminister noch unter König Zahir in den Jahren 1953
bis 1963 eine deutlich prosowjetische Politik verfolgt hatte. Zum neuen
Machthaber und Präsidenten wurde der Schriftsteller Nur Mohammed Taraki
ernannt, der zuvor Generalsekretär der 1965 im Untergrund gegründeten
Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) gewesen war. Die Partei setzt
sich im wesentlichen aus den Flügeln "Khalq" (Volk), zu denen auch Taraki und der
spätere Präsident Amin gehörten, sowie "Parcham" (Banner) zusammen. Am 14.
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spätere Präsident Amin gehörten, sowie "Parcham" (Banner) zusammen. Am 14.
September 1979 wurde Präsident Taraki durch seinen Premierminister Hafizullah
Amin, der gleichzeitig Verteidigungsminister war, entmachtet und umgebracht. Die
Regierungszeit von Amin dauerte bis zum 27. Dezember 1979. Nach einer blutigen
militärischen Besetzung der Stadt Kabul und dem damit einhergehenden
Einmarsch durch die sowjetischen Truppen in Afghanistan wurde Amin hingerichtet
und Barbak Karmal zu seinem Nachfolger ernannt. Auf Geheiß der Sowjets mußte
Barbak Karmal am 4. Mai 1986 abdanken. Er wurde durch den Geheimdienstchef
Mohammed Najibullah, der zu den "Parcham" zählt, ersetzt. Mohammed Najibullah
regiert auch noch zur Zeit.
Bereits von Mitte November 1978 an hatte die Sowjetunion, die damals schon eine
große Anzahl Militärberater nach Afghanistan entsandt hatte und über eine eigene
Flugbasis nördlich von Kabul verfügte, Soldaten und Kriegsgerät nach Afghanistan
verlegt. Am 27. Dezember 1978 begann sie mit der offenen Invasion nach einem
angeblichen "Hilferuf" der Regierung Afghanistans. Aufgabe der sowjetischen
Militärs war es, bis zu ihrem vollständigen Abzug im Februar 1989 durch immer
neue Offensiven die Angriffe der Mudjaheddin niederzuschlagen und den
Widerstand der afghanischen Bevölkerung gewaltsam zu brechen. Die afghanische
Armee war hierzu nicht in der Lage, weil sie durch Verletzte im Kampf mit den
Mudjaheddin und vor allem infolge zahlreicher Desertionen von annähernd
100.000 auf 30.000 Mann oder noch weniger geschrumpft und militärisch ohne
größere Bedeutung war.
Im Januar 1987 verkündete Mohammed Najibullah einen einseitigen
Waffenstillstand und zum ersten Mal seine "Politik der Nationalen Versöhnung", die
unter anderem eine Volksfrontregierung unter Führung der DVPA zum Ziel hatte.
Die Regierungstruppen hielten den Waffenstillstand jedoch nicht ein. Das Angebot
der "Nationalen Versöhnung" wurde von den Mudjaheddin abgelehnt. Für den
"Khalq"-Flügel der DVPA galt diese Politik ohnehin als zu "weich". Der Rückzug der
sowjetischen Truppen wurde am 8. Februar 1988 von dem seit 1985 in der
Sowjetunion regierenden Gorbatschow angekündigt und schließlich am 15. Mai
1988 begonnen und am 15. Februar 1989 abgeschlossen.
Verhandlungen der Sowjets im Dezember 1988 und später mit Vertretern der
afghanischen Widerstandskämpfer blieben erfolglos. Nach wie vor beabsichtigen
die verschiedenen Widerstandsgruppen, die sich allerdings nicht auf eine
gemeinsame Strategie einigen konnten und sich teilweise gegenseitig mißtrauen
(obwohl im Februar 1989 eine provisorische Gegenregierung von ihnen gebildet
worden war), die Macht in Afghanistan zu übernehmen. Aus diesem Grunde
herrschen in einigen Teilen des Landes, insbesondere um Kabul und Jalalabad,
kriegerische Zustände.
Ende Februar 1989 verhängte Najibullah wegen der "Bedrohung der nationalen
Souveränität und territorialen Integrität" den Ausnahmezustand über Afghanistan,
obwohl sein Regime nur noch einen kleineren Teil des Landes kontrollierte.
Gleichzeitig hat er zahlreiche Grundrechte, wie die Meinungs-, Versammlungs- und
Reisefreiheit, außer Kraft gesetzt.
Die erbitterten Kämpfe insbesondere um Jalalabad haben die Sowjetunion zu einer
militärischen Luftbrücke veranlaßt. Nicht zuletzt aufgrund dieser massiven Hilfe
der Sowjetunion, aber auch der militärisch sich nicht als durchsetzungsfähig
erweisenden Mudjaheddingruppen, konnte sich Najibullah bislang an der Macht
halten. Selbst der Umsturzversuch seines Verteidigungsministers Shah Nawaz
Tanai im März 1990 blieb erfolglos.
Der Senat ist unter Berücksichtigung dieser Lage, der Angaben der Klägerinnen im
Verlaufe des gesamten Asylverfahrens sowie aufgrund der vom Senat
beigezogenen, die Eltern der Klägerinnen betreffenden Gerichtsakten zu der
Auffassung gelangt, daß die Klägerinnen die Voraussetzung für ihre Anerkennung
als Asylberechtigte im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG erfüllen.
Die Klägerinnen können ihre Anerkennung als politisch Verfolgte verlangen, da
ihnen nach der Überzeugung des Senats in Afghanistan politische Repressalien
mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit deshalb drohen, weil davon ausgegangen
werden muß, daß ihre Eltern aufgrund besonderer Umstände, nämlich ihrer
asylrechtlich beachtlichen Vorfluchtgründe und ihrer Asylanerkennung, in
Afghanistan als Regimegegner eingestuft werden.
Dabei kommt den Klägerinnen allerdings die nach der dargestellten
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Dabei kommt den Klägerinnen allerdings die nach der dargestellten
höchstrichterlichen Rechtsprechung unter bestimmten Voraussetzungen für nahe
Familienangehörige geltende Regelvermutung eigener politischer Verfolgung nicht
zugute.
Die Annahme einer solchen Regelvermutung würde voraussetzen, daß es bereits
Fälle gegeben hat, in denen zurückkehrende Kinder durch das derzeit an der
Macht befindliche Regime in Afghanistan wegen ihrer im Ausland lebenden und als
asylberechtigt anerkannten Eltern in asylrechtlich erheblicher Weise belangt
worden sind.
Konkrete Erkenntnisse über derartige Beispielfälle sind jedoch keiner der
vorliegenden Auskünfte und Stellungnahmen, die sich mit dem Problem der
Sippenhaft in Afghanistan befassen, zu entnehmen. Das Auswärtige Amt sah sich
in seiner Stellungnahme an den Senat nicht zu einer konkreten Aussage in der
Lage (Auskünfte v. 3. Mai und 7. Juni 1989).
Die Gefangenenhilfsorganisation amnesty international hat in ihrer Stellungnahme
vom 11. August 1989 an den Senat ebenfalls nicht beispielhaft belegen können,
daß das afghanische Regime die zurückkehrenden Kinder politischen Repressalien
aussetzt, um ihre im Ausland lebenden Eltern zu treffen. Auch wenn sich die
Auskunft der Gefangenenhilfsorganisation auf die Frage einer in Afghanistan
ausgeübten Sippenhaft hinsichtlich der Ehefrauen von Regimegegnern bezog, hat
amnesty international allerdings Fälle benannt, in denen Sippenhaft bei sich in
Afghanistan aufhaltenden Familienmitgliedern praktiziert wurde. In diesem Sinne
sind weiterhin die Auskunft der Gefangenenhilfsorganisation amnesty international
vom 16. November 1984 (an das Verwaltungsgericht Wiesbaden) und die von ihr
genannten Beispiele in "Afghanistan, Leben ohne Menschenrechte -- Folter an
Gefangenen in Afghanistan", November 1986, zu verstehen. Auf diese Vorfälle
kann aber eine zugunsten der Klägerinnen sprechende Vermutung eigener
politischer Verfolgung nicht gestützt werden. Staatliche Übergriffe gegen
Familienmitglieder im Inland indizieren ein entsprechendes Vorgehen gegen
Angehörige des Gesuchten, die vom Ausland her in den Verfolgerstaat
zurückkehren, nicht ohne weiteres. Vielmehr können, was die Wahrscheinlichkeit
des Verfolgungsangriffs und die hierbei eingesetzten Mittel anbelangt, zwischen
beiden Fallgestaltungen Unterschiede bestehen, je nachdem, welche Absichten
der Verfolgerstaat mit dem Zugriff auf den Familienangehörigen verfolgt. So ist
beispielsweise denkbar, daß der Staat lediglich auf die im Land lebenden und ihm
bekannten Familienangehörigen des Regimegegners zugreift, das zurückkehrende
Familienmitglied aber als "unbeschriebenes Blatt" (zunächst) unbehelligt läßt.
Die Befürchtung der Klägerinnen, im Falle ihrer Rückkehr mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit wegen der asylrechtlich beachtlichen Vorfluchtgründe ihrer
Eltern und deren erfolgter Asylanerkennung selbst unter dem Gesichtspunkt der
Sippenhaft politisch verfolgt zu werden, ist jedoch deshalb begründet, weil sich aus
den vorliegenden Erkenntnissen über das Verhalten der staatlichen Organe in
Afghanistan gegenüber im Lande lebenden Angehörigen politischer Gegner
Anhaltspunkte für ein entsprechendes Vorgehen auch gegen zurückkehrende
Familienangehörige von im Ausland lebenden Oppositionellen ergeben und
angesichts der konkreten Umstände des vorliegenden Falles anzunehmen ist, daß
sich die Gefahr staatlicher Repressalien auch bei einer Rückkehr der Klägerinnen
realisieren wird.
Der Senat ist aufgrund der ihm vorliegenden Unterlagen zu der Überzeugung
gelangt, daß in Afghanistan Sippenhaft oder jedenfalls sippenhaftähnliche
Praktiken in der Weise angewandt werden, daß, wenn es die Opportunität gebietet,
auch auf Kinder politisch verfolgter Eltern oder Elternteile zu dem Zweck
zurückgegriffen wird, auf den eigentlichen Adressaten der Verfolgungsmaßnahme
Druck auszuüben. Um die insoweit angestrebte Wirkung zu erzielen, laufen die
nahen Angehörigen einschließlich Kinder des politisch Verfolgten Gefahr, inhaftiert,
mißhandelt oder gar gefoltert zu werden.
Zu dieser Erkenntnis gelangt der Senat in Würdigung der verschiedenen Auskünfte
des Auswärtigen Amtes, der Gefangenenhilfsorganisation amnesty international,
verschiedener gutachterlicher Stellungnahmen sowie der gesamten politischen
Lage in Afghanistan.
Allerdings schließen die zahlreichen älteren Auskünfte des Auswärtigen Amtes aus
den Jahren 1981 bis Ende 1985 eine (generelle) Sippenhaft in Afghanistan aus. So
soll nach der Auskunft vom 15. September 1981 an das Verwaltungsgericht
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soll nach der Auskunft vom 15. September 1981 an das Verwaltungsgericht
Gelsenkirchen die Tatsache der Familienzusammengehörigkeit zu gesuchten
Personen nicht die Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen begründen; lediglich
"gewisse sonstige Nachteile" seien zu befürchten (Auskunft v. 24. Juli 1981 an das
Verwaltungsgericht Köln). Auch wenn bereits in der Auskunft vom 7. August 1981
an das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in
verschiedenen Fällen konkrete Verfolgungsmaßnahmen von Familienangehörigen
festgestellt werden, wird eine gezielt praktizierte Sippenhaft verneint und in
Übereinstimmung hiermit ausgeführt, eine automatische Sippenhaft als reine
Vergeltungsmaßnahme an Dritten, die zu der politisch verfolgten Person in enger
verwandtschaftlicher Beziehung stünden, könne zwar nicht ausgeschlossen
werden, sei aber sehr selten anzunehmen (Auskünfte v. 27. Oktober 1982 an das
Verwaltungsgericht Minden, v. 1. August 1984 an das Verwaltungsgericht
Wiesbaden und v. 29. März 1985 an das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-
Westfalen).
Demgegenüber ist bereits in dem Sachverständigengutachten des Dr. ... A vom
30. September 1981 an das Verwaltungsgericht Köln der deutliche Hinweis auf die
Verhaftung Familienangehöriger oder ihrer Benutzung als Geiseln enthalten, wobei
zu den durch Verhaftung bedrohten Personen auch Kinder zählen sollen. Die
schriftlichen Erläuterungen dieses Sachverständigen vom 27. August 1984 an das
Verwaltungsgericht Wiesbaden sowie seine konkreten Ausführungen am 23. Juli
1985 vor dem Verwaltungsgericht Köln belegen zudem eine in Afghanistan
praktizierte Sippenhaft und Geiselnahme näher. In seiner Stellungnahme vom 23.
Juli 1985 hat Dr. A. angegeben, im Rahmen seiner Flüchtlingsarbeit seien ihm
häufig Fälle bekannt geworden, in denen Verwandte von politisch
Andersdenkenden durch das Regime unter Druck gesetzt oder verhaftet worden
seien. Auch Kinder seien gefährdet. Ihm sei bekannt, daß bei einem Angriff im Juni
1985 auf ein afghanisches Dorf sowohl Frauen als auch Kinder als Geiseln
genommen worden seien, um die dem Dorf angehörenden Widerstandskämpfer
zur Rückkehr in das Dorf zu bewegen. Schließlich seien 1.200 Frauen und Kinder
getötet worden. Auch außerhalb von Kampfhandlungen seien Kinder verhaftet
worden, um Druck auf die Eltern auszuüben.
Es besteht keine Veranlassung, die Richtigkeit dieser Erkenntnisquellen in Frage zu
stellen. Denn auch die dem Senat weiter vorliegenden Auskünfte und Unterlagen
zeigen die Praxis der afghanischen Behörden auf, Angehörige einschließlich Kinder
politischer Gegner in die Verfolgung miteinzubeziehen. So bestätigt das
Auswärtige Amt, daß afghanische Behörden versuchen, Druck auf einen im
Ausland befindlichen politisch Verfolgten auszuüben, indem sie seine nächsten
Verwandten besonderen Erschwernissen bis hin zur Haft unterwerfen (Auskünfte v.
14. Januar 1988 an das Verwaltungsgerichts Köln und v. 22. Februar 1988 an das
Verwaltungsgericht Düsseldorf). In Übereinstimmung hiermit führt das Auswärtige
Amt ferner aus, für nahe Verwandte von Personen, die aus Afghanistan geflohen
seien, bestehe die Gefahr, daß gegen sie, sobald die Flucht afghanischen Stellen
bekannt werde, Maßnahmen (z. B. Verhöre oder Verhaftungen) ergriffen würden,
die darauf abzielten, die geflohenen Personen zur Rückkehr nach Afghanistan zu
bewegen (Auskunft v. 10. Februar 1988 an das Verwaltungsgericht Oldenburg). Die
Gefangenenhilfsorganisation amnesty international bestätigt darüber hinaus in
ihrer Auskunft vom 11. August 1989 an den Senat eine in Afghanistan ausgeübte
allgemeine Sippenhaft. Bereits in ihrer Auskunft vom 16. November 1984 (an das
Verwaltungsgericht Wiesbaden) hat die Gefangenenhilfsorganisation ausgeführt,
ihr seien Fälle bekannt, in denen Familienangehörige von gesuchten politischen
Gegnern zu dem Zweck verhaftet und verhört worden seien, Einzelheiten über
Aktivitäten und den Aufenthalt der politischen Gegner zu erhalten. Bei den von
amnesty international angeführten Beispielen handelt es sich erkennbar auch
nicht um außergewöhnliche, der üblichen Verfahrensweise der staatlichen Organe
in Afghanistan offenkundig nicht entsprechende Einzelfälle. Vielmehr ist unter
Berücksichtigung des Charakters des Regimes in Kabul davon auszugehen, daß
sich die genannten Beispiele verallgemeinern lassen. Die afghanische Regierung
unterdrückt nämlich jedwede politische Gegnerschaft mit einem kaum zu
überbietenden Ausmaß an Härte und Willkür. Geringste Verdachtsmomente
reichen bereits aus, Verfolgungsmaßnahmen auszulösen (vgl. die Lageberichte
des Auswärtigen Amtes v. 15. März 1987, v. 21. Januar 1988, v. 25. Oktober 1988,
v. 14. Dezember 1988, v. 10. April 1989 und v. 24. Oktober 1989), wobei
Familienangehörige von wirklichen oder vermeintlichen Regimegegnern nicht
verschont bleiben. Dies wird bestätigt durch den umfangreichen, auf der
Untersuchung ausgewerteter typischer Fälle beruhenden Sonderbericht der
Vereinten Nationen über die Lage der Menschenrechte in Afghanistan
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Vereinten Nationen über die Lage der Menschenrechte in Afghanistan
(veröffentlicht in EuGRZ 1985, 249 ff.). Der Verfasser, Prof. Dr. E, berichtet von
Geiselnahmen (Rdnr. 68), der nach der Verhaftung ihrer Ehemänner bzw. Väter
erfolgten Inhaftierung von Frauen und Kindern (Rdnr. 72), der willkürlichen
Verhaftung verdächtiger Personen (Rdnr. 69), verschiedenen brutalen
Foltermethoden (Rdnr. 74 ff., 86) und der Ermordung von Regimegegnern (Rdnr.
88). Auch Frauen und Kinder würden gefoltert, mißhandelt und getötet (Rdnr. 105
ff.).
Zwar hat Prof. Dr. E im Jahre 1987 berichtet, die Zahl der politischen Gefangenen
sei zurückgegangen (FAZ v. 20. August 1987 und FR v. 12. November 1987). Dies
bedeutet jedoch keine Änderung oder Aufgabe der totalitären Praxis in
Afghanistan, wie die schon angeführten Lageberichte des Auswärtigen Amtes
zeigen und auch anderen Informationsquellen zu entnehmen ist (vgl. FAZ v. 14.
Oktober 1988).
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß bei der Feststellung politischer
Verfolgung mangels unmittelbarer Beweise aus dem Herkunftsland in besonderem
Maße Erfahrungen und typische Geschehensabläufe miteinbezogen werden
müssen. Erfahrungsgemäß neigen aber totalitär geprägte Staaten dazu, sich in
ihrem Kampf gegen Oppositionelle gerade deren enge Beziehungen zu ihren
Familienangehörigen zunutze zu machen und die Angehörigen unabhängig davon,
ob sie selbst durch eigene politische Aktivitäten hervorgetreten sind, als
Druckmittel gegen den Regimegegner einzusetzen. Überdies ist immer in Betracht
zu ziehen, daß der Verfolgerstaat bei dem Angehörigen eines Regimegegners
schon aufgrund der Familienzugehörigkeit ebenfalls eine staatsfeindliche
Gesinnung voraussetzt und deshalb um so eher geneigt ist, sich seiner bei der
Verfolgung des Familienmitglieds zu bedienen. Dies gilt erst recht angesichts einer
in Afghanistan vorherrschenden Familientradition, die ausschließlich eine enge
Verbundenheit sämtlicher Familienmitglieder kennt (vgl. das Gutachten des Dr.
Amin Farhang v. 20. Juni 1984). Daher liegt es für totalitäre Staaten wie
Afghanistan nahe, auch auf die minderjährigen Kinder repressiv einzuwirken, um
eigentlich die politisch mißliebigen Eltern zu treffen.
An dem totalitären Charakter des Landes und der grundsätzlich praktizierten
Sippenhaft hat sich auch nichts durch die von Mohammed Najibullah proklamierte
"Politik der Nationalen Versöhnung" geändert (so auch Bay. VGH, Urteil v. 3. März
1988 -- 24 BZ 87.30942 --, und OVG für die Länder Niedersachsen und Schleswig-
Holstein, Urteil v. 3. November 1989 -- 21 OVG A 92/88 --). Diese Anfang 1987
zum erstenmal propagierte Politik soll zurückkehrenden Personen Straffreiheit und
Wiedereingliederungshilfe zusichern (Lageberichte Afghanistan des Auswärtigen
Amtes v. 15. April 1987, v. 21. Januar 1988 und v. 1. Oktober 1988). Rückkehrer
mußten jedoch von Anfang an damit rechnen, gezwungen zu werden, für das
Regime Propaganda zu betreiben (Lageberichte Afghanistan des Auswärtigen
Amtes v. 15. April 1987, v. 21. Januar 1988 und v. 1. Oktober 1988). Nachdem die
"Politik der Nationalen Versöhnung", die ohnehin von der Khalq-Fraktion der DVPA
abgelehnt wurde bzw. wird (Klaus Natorp in FAZ v. 20. Februar 1989), weitgehend
erfolglos blieb, weil die Appelle bei Flüchtlingen und Freiheitskämpfern wenig Gehör
fanden, sind Rückkehrer und entlassene Häftlinge inzwischen vor erneuter Willkür
des staatlichen Machtapparates nicht sicher (Auskunft des Auswärtigen Amtes v.
25. April 1989 an das Verwaltungsgericht Düsseldorf). Nach Ausrufung des
Ausnahmezustandes am 19. Februar 1989 versucht das Regime verstärkt, seine
Macht in den von ihm kontrollierten Landesteilen mit totalitären Mitteln wie
intensiver geheimdienstlicher Überwachung, willkürlichen Hausdurchsuchungen,
Verhaftungen und Verhören, Mißhandlungen und Folterungen, intensiver
indoktrinierender Propaganda und verschärfter Rekrutierung auch Minderjähriger
zum Militärdienst zu festigen (Lageberichte Afghanistan des Auswärtigen Amtes v.
10. April 1989 und 24. Oktober 1989). Selbst Parteimitglieder der DVPA werden
inhaftiert, wenn sie der politischen Linie der Regierung ablehnend
gegenüberstehen (Auskunft des Auswärtigen Amtes v. 25. April 1989 an das
Verwaltungsgericht Düsseldorf). Nach dem Putschversuch des
Verteidigungsministers Tanai dürfte sich das politische Klima darüber hinaus noch
verschlimmert haben, wie nicht zuletzt die vom jetzigen Regime im Zuge der
"Säuberungen" nach dem gescheiterten Putsch vom 6. März 1990 vollzogenen
Hinrichtungen zeigen (vgl. FR v. 18. April 1990).
Angesichts dieser gesamten Umstände bestehen nach Ansicht des erkennenden
Senats daher hinreichende Anhaltspunkte für eine asylrelevante Verfolgung von
nahen Angehörigen einschließlich der Kinder solcher Personen, die als politische
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nahen Angehörigen einschließlich der Kinder solcher Personen, die als politische
Gegner des Regimes angesehen werden. Daß dies auch für im Ausland lebende
Afghanen zutrifft, belegen deutlich die Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 14.
Januar 1988 (an das Verwaltungsgericht Köln) und vom 22. Februar 1988 (an das
Verwaltungsgericht Düsseldorf). Mit seiner Einschätzung einer allgemein
praktizierten Sippenhaft in Afghanistan befindet sich der Senat im übrigen in
Übereinstimmung mit den Entscheidungen des Bayerischen
Verwaltungsgerichtshofs vom 3. März 1988 -- 24 BZ 87.30942 --, des
Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 12. September 1988 -- A 13 S
272/87 -- und des Oberverwaltungsgerichts Saarland vom 22. Februar 1989 -- 3 R
434/85 --, wobei die beiden zuletzt genannten Obergerichte ebenfalls, wie im
vorliegenden Fall der erkennende Senat, von einer gegenüber Kindern ausgeübten
Sippenverfolgung ausgehen. Soweit demgegenüber der damals ausschließlich für
Asylrecht zuständige 10. Senat des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs in seinen
Entscheidungen vom 19. Dezember 1985 eine in Afghanistan geübte Praxis einer
generellen Sippenhaft nicht feststellen konnte (zum Beispiel 10 UE 568/84; 10 UE
2971/84; ferner Urteil v. 13. November 1986 -- 10 UE 108/83 --), beruht dies
weitgehend auf den Auskünften des Auswärtigen Amtes vom 27. Oktober 1982 (an
das Verwaltungsgericht Minden), vom 16. Februar 1983 (an das
Verwaltungsgericht Trier) und vom 29. März 1985 (an das Oberverwaltungsgericht
Nordrhein-Westfalen) und damit auf einer oben bereits dargelegten, inzwischen
erkennbar gewandelten Auskunftslage. Immerhin wurde in diesen Entscheidungen
schon festgestellt, daß in Einzelfällen in Afghanistan Angehörige politisch
Verfolgter Verhören unterzogen und verdächtigt würden, ebenfalls
Widerstandsgruppen anzugehören oder in sonstiger Weise gegen die afghanische
Regierung zu arbeiten.
Für den vorliegenden Fall ist aufgrund der dargestellten Erkenntnisse davon
auszugehen, daß den Klägerinnen in Afghanistan aus Gründen der Sippenhaft
Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Die inzwischen sechzehn-
und vierzehnjährigen Klägerinnen sind Kinder solcher Eltern, die mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit in Afghanistan als Regimegegner eingestuft und entsprechend
unnachgiebig verfolgt würden.
Im Asylverfahren der Eltern stellte sich heraus, daß der Vater der Klägerinnen sich
geweigert hatte, der kommunistischen Partei oder einer ihrer Organisationen
beizutreten. Nach mehreren Hausdurchsuchungen wurde er in Haft genommen
und im Gefängnis gefoltert. Nach seiner Haftentlassung, die er nur erreichte,
indem er eine Loyalitätserklärung unterschrieb, nahm er zunächst wieder seine
Arbeit auf. Er wurde dann jedoch alsbald in eine Textilfabrik nach Kandahar
versetzt. Die Mutter der Klägerinnen hatte sich ebenfalls geweigert, der
kommunistischen Partei beizutreten, was zur Folge hatte, daß sie zur Erziehung
von Analphabeten in eine "unwirtliche Gegend" versetzt wurde. Aufgrund dieser
Tatsachen werden die Eltern der Klägerinnen von dem afghanischen Staat als
Regimegegner eingestuft. Sie laufen daher Gefahr, bei ihrer Rückkehr nach
Afghanistan wegen ihrer Regimegegnerschaft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
einer politischen Verfolgung ausgesetzt zu werden. Hinzu kommt, daß sie in der
Bundesrepublik als Asylberechtigte anerkannt sind und hierdurch ihre
Regimegegnerschaft erneut unter Beweis gestellt haben.
Angesichts der Aktivitäten des afghanischen Geheimdienstes Khad, der auch in
der Bundesrepublik Deutschland inzwischen über eine Vielzahl von Informanten
verfügt (Auskünfte des Auswärtigen Amtes v. 19. April 1983 an das
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Lagebericht Afghanistan des Auswärtigen
Amtes v. 1. Oktober 1988 und v. 14. Dezember 1988), muß davon ausgegangen
werden, daß die afghanischen Behörden über die Anerkennung der Eltern der
Klägerinnen als Asylberechtigte unterrichtet sind. Deswegen ist anzunehmen, daß
die afghanischen Behörden in Anbetracht der von ihnen praktizierten Sippenhaft
auch von einer bestehenden, eine politische Verfolgung auslösenden
Regimegegnerschaft der Klägerinnen ausgehen, zumindest sie aber deswegen
verfolgen könnten, um auf diese Weise Druck auf die als Regimegegner
anzusehenden Eltern auszuüben.
Die nach alledem drohende Gefahr einer politischen Verfolgung der Klägerin durch
den afghanischen Staat ist nicht deswegen asylrechtlich irrelevant, weil die
Kampfhandlungen in Afghanistan als Bürgerkrieg, jedenfalls aber als
bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen einzustufen sind.
Aufgrund der ihm vorliegenden Erkenntnisse geht der Senat davon aus, daß in
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Aufgrund der ihm vorliegenden Erkenntnisse geht der Senat davon aus, daß in
Afghanistan seit etwa 1979 bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen dem
herrschenden Regime in Kabul und bewaffneten afghanischen
Widerstandsorganisationen stattfinden, die sich zum Teil in offenen
Kampfhandlungen, zum Teil in der Form eines Guerillakrieges abspielen. Anlaß und
Ziel dieser kriegsähnlichen Auseinandersetzung ist die Absicht der
Widerstandsorganisationen, Afghanistan als einen von der Vorherrschaft des
derzeitigen Regimes befreiten Staat auf der Grundlage einer islamisch-orthodoxen
Religion zu etablieren. Um demgegenüber die mit dem Islam nicht zu
vereinbarende kommunistische Gesellschaftsordnung zu verteidigen bzw. diese
weiter zu verfestigen und sie in sämtlichen Landesteilen einzuführen, wurden bzw.
werden die Mudjaheddin von regimetreuen Kräften bekämpft.
Diese zumindest bürgerkriegsähnliche Situation in Afghanistan läßt aber nicht den
politischen Charakter der zu erwartenden Verfolgung entfallen (so auch: OVG für
die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein, Urteil v. 3. November 1989 --
21 OVG A 92/88 --, S. 15 des amtlichen Umdrucks).
Allerdings ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Falle
eines Bürgerkriegs eine politische Verfolgung dann nicht gegeben, wenn der Staat
bei offenem Bürgerkrieg im umkämpften Gebiet faktisch nurmehr die Rolle einer
militärisch kämpfenden Bürgerkriegspartei einnimmt, als übergreifende effektive
Ordnungsmacht aber nicht mehr besteht. Daher sind in diesem Gebiet
Maßnahmen des zur Bürgerkriegspartei gewordenen Staates im allgemeinen dann
keine politische Verfolgung im asylrechtlichen Sinn, wenn und soweit sie typisch
militärisches Gepräge aufweisen und der Rückeroberung eines Gebietes dienen,
das zwar de jure (noch) zum eigenen Staatsgebiet gehört, über das der Staat
jedoch de facto die Gebietsgewalt an die so bekämpften anderen Kräfte verloren
hat (BVerfG, Beschluß v. 10. Juli 1989 -- 2 BvR 502/86 u.a. --, BVerfGE 80, 315 ff.).
Bezüglich des Staates Afghanistan ist davon auszugehen, daß die Regierung in
Kabul nur einen geringen Teil des Landes zu kontrollieren in der Lage ist und
folglich nicht als übergreifende effektive Ordnungsmacht angesehen werden kann,
die im Stande ist, den einzelnen aus der übergreifenden Friedensordnung der
staatlichen Einheit auszugrenzen. Gleichwohl ist unter Beachtung der genannten
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch bei dieser Situation eine
politische Verfolgung dann gegeben, wenn die staatlichen Kräfte den Kampf in
einer Weise führen, die auf die physische Vernichtung von auf der Gegenseite
stehenden oder ihr zugerechneten und nach asylerheblichen Merkmalen
bestimmten Personen gerichtet ist, obwohl diese keinen Widerstand mehr leisten
wollen oder können oder an dem militärischen Geschehen nicht oder nicht mehr
beteiligt sind, vollends wenn die Handlungen der staatlichen Kräfte in die gezielte
physische Vernichtung oder Zerstörung der ethnischen, kulturellen oder religiösen
Identität des gesamten aufständischen Bevölkerungsteils umschlagen. Dies trifft
auf den afghanischen Staat zu. Aufgrund der in das Berufungsverfahren
eingeführten Auskünfte und sonstigen Unterlagen ist davon auszugehen, daß das
Bestreben des afghanischen Regimes darauf gerichtet ist, den politischen Gegner,
auch wenn er am eigentlich militärischen Geschehen nicht beteiligt ist, bis hin zur
physischen Vernichtung auszuschalten.
Die Situation in Afghanistan war im Zeitpunkt der Flucht der Klägerinnen und ist
auch noch heute in hohem Maße durch Elemente der Gewaltherrschaft und
Rechtsunsicherheit bis hin zu Willkür und Gesetzlosigkeit gekennzeichnet, wobei
insbesondere Gewaltmaßnahmen, Verhaftungen, Folterungen und Exekutionen
durchgeführt werden. Nach wie vor gilt, daß jeder afghanische Staatsangehörige,
der nicht bereit ist, sich dem ideologischen Absolutheitsanspruch des totalitär
herrschenden kommunistischen Regimes in Kabul zu unterwerfen, Gefahr läuft, als
Regimegegner eingestuft und damit als Staatsfeind bekämpft zu werden. Dies
bedeutet für ihn, daß er damit rechnen muß, weitgehend willkürlich und ohne ein
den Minimalerfordernissen der Rechtsstaatlichkeit entsprechendes
Gerichtsverfahren kurzzeitig, aber evtl. auch jahrelang gefangengehalten, gefoltert
oder gar getötet zu werden. Zu dieser Einschätzung gelangt der Senat in
Würdigung einer Vielzahl ihm vorliegender Dokumente und Berichte über die
Menschenrechtslage in Afghanistan. So weist z.B. der Sonderberichterstatter der
Vereinten Nationen, Prof. Dr. Felix Ermacora, Wien, in seinem Bericht vom 19.
Februar 1985 über die Lage der Menschenrechte in Afghanistan auf eine Vielzahl
von Folterungen und Mißhandlungen Kriegsgefangener hin. Diese würden gefoltert
und in einigen Fällen getötet. Von einer hohen Zahl politischer Gefangener, die
allerdings zurückgegangen sei, hat Prof. Dr. Ermacora nach einer weiteren Reise
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allerdings zurückgegangen sei, hat Prof. Dr. Ermacora nach einer weiteren Reise
im Auftrag der Vereinten Nationen berichtet (FAZ v. 20. August 1987). Auch die
Gefangenenhilfsorganisation amnesty international bestätigt in ihrem Bericht
"Folter in Afghanistan", daß Personen, die lediglich der Opposition verdächtigt
würden, mit allen Mitteln eingeschüchtert und verfolgt würden. In
Übereinstimmung hiermit stehen die neueren Erkenntnisse des Auswärtigen
Amtes. Danach ist jeder Afghane starker innenpolitischer Repression,
insbesondere intensiver Bespitzelung durch ein Heer geheimdienstlicher Agenten
ausgesetzt (Lagebericht v. 1. Oktober 1988). Vor allem derjenige ist bedroht, der
sich gegen das Regime betätigt oder bereits schon abweichende politische
Auffassungen kundgetan hat (Auswärtiges Amt, Lageberichte v. 1. Oktober 1988
und 10. April 1989), wobei geringe Verdachtsmomente schon zu
Hausdurchsuchungen, Verhören, Verhaftungen oder schärferen Maßnahmen
führen können (Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 14. Dezember 1988). Nach dem
Scheitern der "Politik der Nationalen Versöhnung" und dem von Najibullah am 15.
Februar 1989 verhängten Ausnahmezustand dürfte sich die Situation in
Afghanistan noch verschlechtert haben. Das Auswärtige Amt weist in seinem
Lagebericht vom 10. April 1989 und in dem hiermit wörtlich übereinstimmenden
Lagebericht vom 24. Oktober 1989 darauf hin, Najibullah habe sich auf eine
"härtere Linie" eingerichtet und zeige sich entschlossen, den Machtanspruch
Kabuls auch ohne sowjetische Truppen mit allen militärischen Mitteln zu
verteidigen. Nachdem das Kriegrecht ausgerufen worden sei, sei kein Afghane
mehr vor Willkür sicher. Das Regime versuche, verstärkt seine Macht in den von
ihm kontrollierten Landesteilen mit totalitären Mitteln zu festigen, insbesondere
durch geheimdienstliche Überwachung, willkürliche Hausdurchsuchungen,
Verhaftungen und Verhöre. Weiterhin seien Mißhandlungen und Folter, intensive
indoktrinierende Propaganda über Medien und in Schulen, Druck, sich
Massenorganisationen anzuschließen, sowie verschärfte Rekrutierung auch
Minderjähriger zum Militärdienst festzustellen. Familienangehörige kämpfender
Mudjaheddin hätten, auch wenn sie nicht als Regimegegner tätig geworden oder
aufgefallen seien, mit der Beschattung durch den Geheimdienst zu rechnen, die zu
Hausdurchsuchungen, Verhören und Freiheitsentzug führen könne.
Aus der Tatsache, daß der afghanische Staat bemüht ist, von seiner politischen
Auffassung abweichende Meinungen zu bekämpfen und jede gegen das Regime
gerichtete Opposition zu unterdrücken und auszuschalten, folgt, daß der Kampf
des Kabuler Regimes gegen wirkliche oder vermeintliche Angehörige oder
Sympathisanten der Widerstandsorganisationen nicht ausschließlich durch die
Zielrichtung bestimmt ist, die Staatsmacht in allen Landesteilen zu sichern und
den Frieden im Lande wiederherzustellen, sondern daß mit der Bekämpfung dieser
Personengruppe auch und entscheidend der politische Gegner getroffen und
vernichtet werden soll, um hierdurch gleichzeitig die von diesem vertretene und
der Auffassung der Regierung Najibullahs zuwiderlaufende politische Überzeugung
möglichst weitgehend auszumerzen. Die Aktivitäten des afghanischen Staates
gehen daher über bloße Maßnahmen zur Bekämpfung des Bürgerkriegsgegners
im Interesse der Wiederherstellung der staatlichen Friedensordnung hinaus. Sie
zielen vielmehr auf die physische Vernichtung oder Zerstörung der kulturellen bzw.
der religiösen Identität der im Widerstreit zur kommunistischen Doktrin stehenden
Afghanen. Der in Afghanistan herrschende Bürgerkrieg steht daher der Annahme
einer den Klägerinnen drohenden politischen Verfolgung nicht entgegen.
Schließlich wird der Anspruch der Klägerinnen, als Asylberechtigte anerkannt zu
werden, nicht dadurch ausgeschlossen, daß sie im Falle der Rückkehr in
Afghanistan Schutz vor politischer Verfolgung finden könnten.
Zwar ist der Asylanspruch davon abhängig, daß die Klägerinnen den Schutz vor
politischer Verfolgung nicht im eigenen Land, also in Afghanistan, finden können.
Auch insoweit gilt -- ähnlich der Regelung des § 2 AsylVfG -- nach der gefestigten
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, welcher der Senat folgt, der
Grundsatz der Subsidiarität des Asylrechts (vgl. BVerwG, Urteil v. 6. Oktober 1987
-- BVerwG 9 C 13.87 --, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 402.25, Nr. 72 zu § 1 AsylVfG).
Danach kommt es darauf an, ob dem Asylbewerber nur in Teilen seines
Heimatlandes politische Verfolgung droht, während er in anderen Teilen ohne
Furcht vor politischer Verfolgung leben kann, ob es ihm also zugemutet werden
kann, in solche Orte oder Gebiete seines Heimatstaates zurückzukehren, in denen
er -- anders als in seiner Heimatregion -- vor Verfolgung hinreichend geschützt ist
(sogenannte inländische oder innerstaatliche Fluchtalternative).
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Hier ist es den Klägerinnen aber gerade nicht zuzumuten, aus der Bundesrepublik
Deutschland in solche Gebiete ihres Heimatstaates zurückzukehren, in denen sie
möglicherweise vor Verfolgung geschützt wären. Als Fluchtalternative in
Afghanistan kommt nur ein Aufenthalt in den von den Befreiungsbewegungen
beherrschten Gebieten in Betracht, in denen die Staatsgewalt der
kommunistischen Regierung in Kabul keine Einwirkungsmöglichkeit besitzt.
Die Einreise nach Afghanistan kann aber nach der Auskunft des Auswärtigen
Amtes vom 7. Juni 1989 an den Senat nur über den einzigen internationalen
Flughafen in Kabul erfolgen, da bei der Einreise über Land die Möglichkeit besteht,
Kampfgebiete zu berühren. Wie die Gefangenenhilfsorganisation amnesty
international in ihrer Auskunft an den Senat vom 11. August 1989 mitgeteilt hat,
kommt auch eine Abschiebung über Pakistan und den Landweg nach Afghanistan
wegen der starken Verminung der Verbindungsstraßen nicht in Betracht. Es muß
ohnehin schon bezweifelt werden, ob die jeweils unterschiedlichen Gruppierungen
der Freiheitskämpfer die Klägerinnen durchreisen ließen (vgl. Lageberichte
Pakistan des Auswärtigen Amtes v. 11. April, v. 7. August und v. 15. November
1989). Reisen die Klägerinnen über den Flughafen Kabul ein, so besteht gerade die
Gefahr politisch begründeter Repressalien.
Im übrigen können die Klägerinnen auch aus folgenden Gründen nicht auf eine
inländische oder innerstaatliche Fluchtalternative verwiesen werden: Eine solche
inländische Fluchtalternative besteht nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts nämlich nur dann, wenn der Betroffene in den in
Betracht kommenden Gebieten nicht in eine ausweglose Lage gerät, er also vor
politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm auch keine anderen Nachteile
und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen
Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese
existenzielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (BVerfG, Beschluß v.
10. Juli 1989 -- 2 BvR 502/86 u.a. --, BVerfGE 80, 315 ff. und v. 10. November 1989
-- 2 BvR 403/84 u. 1501/84 --, DVBl. 1990, 201 = InfAuslR 1990, 34 ff.). Davon kann
hier aber nicht ausgegangen werden, auch wenn die afghanische Regierung zur
Zeit höchstens 20% des Landes kontrolliert (vgl. Lageberichte des Auswärtigen
Amtes v. 10. April 1989 und v. 15. Oktober 1989). Zunächst ist nicht feststellbar,
ob es bei der gegenwärtigen militärischen Situation in Afghanistan bleiben wird.
Selbst wenn davon auszugehen ist, daß die Mudjaheddin einen Großteil des
ohnehin weitgehend zerstörten und verminten (vgl. Der Spiegel v. 4. Juni 1990)
flachen Landes kontrollieren (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 11. Januar
1990 an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen), kann sich
der Kriegsverlauf jederzeit wieder ändern (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom
11. Januar 1990 an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen,
vgl. auch Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 16. März 1989 an den Bayerischen
Verwaltungsgerichtshof und Klaus Natorp in FAZ v. 2. Mai 1989), so daß auch
andere Regionen, die bisher von Kriegshandlungen verschont geblieben waren,
kurzfristig wieder in die Macht der Zentralregierung fallen können. Tatsächlich sind
auch nur wenige Gebiete im eigentlichen Sinne befriedet (vgl. Lagebericht des
Auswärtigen Amtes v. 14. Dezember 1988). Das Regime in Kabul wurde nämlich
durch die Sowjets mit einer erheblichen Anzahl von Waffenlieferungen versorgt
(FAZ v. 4. Februar 1989 und v. 18. März 1989). Bereits im März 1989 wurde
berichtet, daß die Sowjetunion ihre militärische Luftbrücke nach Afghanistan wieder
aufgenommen und mit 40 Transportflugzeugen Waffen modernster Art und
Lebensmittel nach Kabul gebracht hat (FR v. 18. März 1989). Auch weitere
Waffenlieferungen waren zu verzeichnen (FR v. 20. April 1989; Klaus Natorp in FAZ
v. 5. Februar 1990) und wurden vom Auswärtigen Amt bestätigt (Lageberichte vom
10. April und vom 24. Oktober 1989). Die offensichtlich große Anzahl der
gelieferten hochmodernen Waffen veranlaßte das Auswärtige Amt zu der
Feststellung, daß die Waffenarsenale (allerdings auch die der Gegenseite) voll sind
(Lagebericht vom 15. Februar 1990), wobei die Rüstungsausgaben der Sowjetunion
für Afghanistan auf 3 Milliarden DM im Jahr geschätzt werden (vgl. Viktor Freigang
in FAZ v. 2. Oktober 1989). Kann sich der Kriegsverlauf kurzfristig wieder ändern,
wenn von Seiten der afghanischen Regierung ein hinreichend großer militärischer
Einsatz erfolgt, der in jedem Augenblick möglich ist, folgt hieraus, daß die
Menschen in den "befreiten" Gebieten jederzeit damit rechnen müssen, erneut
unter die Herrschaft des kommunistischen Regimes zu geraten. Dies scheint unter
anderem neben der Angst vor Bombardierungen (Peter Schwittek in FAZ v. 18.
September 1989) auch ein Grund dafür zu sein, daß nur wenige nach Pakistan
geflohene Afghanen in die sogenannten befreiten Gebiete zurückkehren (vgl.
Lageberichte Pakistan des Auswärtigen Amtes v. 7. August 1989 und v. 15.
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Lageberichte Pakistan des Auswärtigen Amtes v. 7. August 1989 und v. 15.
November 1989). Soweit die UNO dennoch Repatriierungen plant, werden diese
Maßnahmen offensichtlich von "schweren Finanzierungsproblemen" gefordert, weil
ansonsten die weitere Flüchtlingshilfe gefährdet wäre (Der Spiegel v. 4. Juni 1990).
Angesichts der Möglichkeit der Regierung, durch militärische Aktionen die
"befreiten" Gebiete jederzeit zurückzuerobern, kann daher von keiner Region mit
Sicherheit angenommen werden, daß die Bevölkerung dort permanent von
kriegerischen Auseinandersetzungen verschont bleibt (Auskunft des Auswärtigen
Amtes vom 11. Januar 1990 an das Oberverwaltungsgericht für das Land
Nordrhein-Westfalen).
Darüber hinaus hätte ein Ausweichen auf die "befreiten", von den Mudjaheddin
beherrschten Gebiete -- soweit diese überhaupt zu besiedeln sind -- für die
Klägerinnen eine am Herkunftsort, nämlich dem bisherigen Wohnort Kabul, so
nicht bestehende Situation zur Folge, in der sie auch aus anderen als
asylerheblichen Gründen in eine ausweglose Lage zu geraten drohten. Die
Existenzbedingungen in diesen Regionen sind nämlich so katastrophal, daß eine
Rückkehr von Flüchtlingen in diese Gebiete für sie und die dort verbliebenen
Menschen menschenunwürdige Lebensverhältnisse bedeuten würde. Durch den
Krieg ist nämlich eine erhebliche Verwüstung des Landes zu verzeichnen. Die
Dörfer sind zu einem großen Teil zerstört und unbewohnbar. Das
Bewässerungssystem ist zu 40% beschädigt und die Infrastruktur und
Landwirtschaft weitgehend zusammengebrochen, so daß die
Lebensmittelversorgung nur noch schwer aufrechtzuerhalten ist und Hungersnöte
drohen (vgl. Der Spiegel v. 4. Juni 1990; Andreas Matthies in FAZ v. 1. August
1989; Felix Ermacora, Bericht über die Lage der Menschenrechte in Afghanistan v.
19. Februar 1985; Lagebericht Pakistan des Auswärtigen Amtes v. 26. Februar
1990). Hinzu kommen die das Leben der Menschen in den "befreiten" Gebieten
bedrohenden Minen, deren Anzahl von drei- bis über 30 Millionen geschätzt
werden (Der Spiegel v. 4. Juni 1990; vgl. Andreas Matthies in FAZ v. 1. August
1989; Lagebericht Pakistan des Auswärtigen Amtes v. 26. Februar 1990 und
Auskunft der Gefangenenhilfsorganisation amnesty international an den Senat v.
11. August 1989). Die "befreiten" Regionen werden im übrigen durch Mudjaheddin-
Gruppen verschiedenster Art, nämlich Traditionalisten, Islamisten und
Fundamentalisten sowie unterschiedliche Stämme beherrscht, die nicht nur
miteinander rivalisieren (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes v. 16. März 1988 an
den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof), sondern auch Stammesfehden
austragen (vgl. Klaus Natorp in FAZ v. 20. Februar 1989), zu gewalttätigen
Auseinandersetzungen schreiten (Lagebericht Pakistan des Auswärtigen Amtes
vom 26. Februar 1990; Viktor Freigang in FAZ v. 2. Oktober 1989) und selbst vor
Massakern an politisch andersdenkenden Freiheitskämpfern nicht zurückschrecken
(FAZ v. 19. Juli 1989; Peter Schwittek in FAZ v. 18. September 1989). Darüber
hinaus sind die verschiedenen Gruppierungen oftmals in militärische
Auseinandersetzungen mit dem Regime verwickelt. Wie das Auswärtige Amt in
seinem Lagebericht vom 24. Oktober 1989 bestätigt hat und in Übereinstimmung
hiermit auch anderen Berichten zu entnehmen ist, sind Afghanen daher in den
"befreiten" Gebieten ihres Landes nicht sicher (vgl. Andreas Kohlschütter in "Die
Zeit" v. 28. April 1989 und Peter Delle in "Der Spiegel" v. 5. Juni 1989).
Es kann daher weder in den vom Widerstand kontrollierten noch in anderen
Gebieten die Rede von einer zureichenden inländischen Schutzmöglichkeit sein (so
auch OVG für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein, Urteil v. 3.
November 1989 -- 21 OVG A 92/88 --; OVG Saarland, Urteil v. 22. Februar 1989 --
3 R 434/85 --, VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 7. Mai 1990 -- A 13 S 2082/89 --,
VBlBW 1990, 235 ).
Dem Anspruch der Klägerinnen, als Asylberechtigte anerkannt zu werden, steht
auch die Vorschrift des § 2 AsylVfG nicht entgegen. Dabei mag dahinstehen, ob
und inwieweit § 2 AsylVfG in Fällen der vorliegenden Art überhaupt eingreifen kann,
in denen die auf den Aspekt der Sippenhaft gestützte Verfolgungsgefahr von der
Einstufung Dritter als Regimegegner abhängt und diese Einstufung wiederum aus
Umständen hergeleitet wird, die sich vor wie nach der Flucht aus dem Heimatland
und dem Aufenthalt im Drittstaat ereignet haben. Denn jedenfalls ist der
Tatbestand dieser Bestimmung nicht erfüllt.
Der Senat folgt der Auslegung des § 2 AsylVfG, die das Bundesverwaltungsgericht
in mehreren Entscheidungen vom 21. Juni 1988 (BVerwG 9 C 12.88 -- BVerwGE 79,
347 ff. -- u.a.) vorgenommen hat. Danach setzt die Anwendung dieser Vorschrift
zunächst voraus, daß die Flucht des politisch Verfolgten in dem "anderen Staat" ihr
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zunächst voraus, daß die Flucht des politisch Verfolgten in dem "anderen Staat" ihr
Ende gefunden hat und deshalb kein Zusammenhang mehr zwischen dem
Verlassen des Heimatstaates und der Einreise in die Bundesrepublik besteht. Liegt
der Zusammenhang dagegen vor, genießt der politisch Verfolgte ungeachtet
eines Zwischenaufenthalts in einem anderen, objektiv sicheren Land in der
Bundesrepublik Asylrecht (BVerwG, Urteil v. 21. Juni 1988 -- BverwG 9 C 12.88 --,
BVerwGE 79, 347 <351> und Urteile v. 21. November 1989 -- BVerwG 9 C 54.89
u.a. --).
Ob die Flucht in dem sogenannten Drittstaat als beendet anzusehen ist, richtet
sich nach objektiven Maßstäben und nicht nach den subjektiven Vorstellungen des
Flüchtlings. Das Bundesverwaltungsgericht hat in den vorgenannten
Entscheidungen desweiteren ausgeführt, der bloße Wille des Flüchtlings, gerade in
der Bundesrepublik Deutschland Schutz zu finden, belasse ihn nicht im Zustand
der Flucht. Es komme vielmehr darauf an, ob bei objektiver Betrachtungsweise
aufgrund der gesamten Umstände, insbesondere des tatsächlich gezeigten
Verhaltens des politisch Verfolgten während seines Zwischenaufenthalts im
Drittstaat, dem äußeren Erscheinungsbild nach noch von einer Flucht gesprochen
werden könne. Dies sei nicht mehr der Fall, wenn der Aufenthalt stationären
Charakter angenommen habe. Für die Feststellung des (gegebenenfalls)
stationären Charakters des Aufenthalts des Flüchtlings komme der Dauer des
Aufenthalts eine entscheidende Bedeutung zu.
Die Klägerinnen haben nach glaubhaften Angaben ihrer Eltern am 17. Juni 1982
zusammen mit ihren Eltern Kabul verlassen und sind nach Kandahar geflogen. Von
dort fuhren sie mit dem Bus nach Tschaman in Pakistan und weiter nach Quetta.
Am 23. Juni 1982 fuhren sie mit dem Zug nach Karachi, von wo sie am 5. August
1982 nach Istanbul und von dort am 6. August 1982 nach Frankfurt am Main
flogen.
Dem Aufenthalt der Klägerinnen in Pakistan ist danach kein stationärer Charakter
im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beizumessen. Dies
ergibt sich aus der insgesamt nur geringen Dauer der Reise und daraus, daß sich
die Klägerinnen an den einzelnen Orten und Städten nur kurz befunden haben,
ohne daß ihre Eltern irgend etwas getan haben, was den Schluß auf eine
Verfestigung ihres Aufenthalts und damit auf eine Beendigung ihrer Flucht zuließe.
Da somit die Berufung Erfolg hat, ist das Urteil des Verwaltungsgerichts
abzuändern, und die Klägerinnen sind als Asylberechtigte anzuerkennen.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.