Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 28.07.2009

VGH Baden-Württemberg: öffentliche sicherheit, gefahr, bermuda, körperliche unversehrtheit, alkohol, verordnung, absicht, rechtswissenschaftliche fakultät, öffentliche bekanntmachung, polizei

VGH Baden-Württemberg Urteil vom 28.7.2009, 1 S 2200/08
Polizeiverordnung zur Begrenzung des Alkoholkonsums im öffentlichen Straßenraum
Leitsätze
Eine Regelung in einer Polizeiverordnung, wonach es im zeitlichen und örtlichen Geltungsbereich der Verordnung auf den öffentlich zugänglichen
Flächen verboten ist, alkoholische Getränke zu konsumieren oder in Konsumabsicht mit sich zu führen, ist nur dann durch die
Ermächtigungsgrundlage des § 10 i.V.m. § 1 PolG gedeckt, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das verbotene Verhalten
regelmäßig und typischerweise Gewaltdelikte zur Folge hat.
Vorsorgemaßnahmen zur Abwehr möglicher Beeinträchtigungen im Gefahrenvorfeld werden durch die Ermächtigungsgrundlage in § 10 i.V.m. § 1
PolG nicht gedeckt.
Tenor
§ 2 i.V.m. § 1 der Polizeiverordnung der Stadt Freiburg i. Br. zur Begrenzung des Alkoholkonsums im öffentlichen Straßenraum vom 22. Juli 2008 ist
unwirksam.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Der Antragsteller wendet sich im Wege der Normenkontrolle gegen § 2 i.V.m. § 1 der Polizeiverordnung der Antragsgegnerin zur Begrenzung
des Alkoholkonsums im öffentlichen Straßenraum vom 22. Juli 2008 (im Folgenden: PolVO), mit dem ein örtlich und zeitlich begrenztes
Alkoholverbot im öffentlichen Straßenraum der Freiburger Innenstadt („Bermuda-Dreieck“) angeordnet worden ist.
2
Am 22.07.2008 erließ die Antragsgegnerin mit Zustimmung des Gemeinderats die bis zum 31.07.2010 befristete Polizeiverordnung zur
Begrenzung des Alkoholkonsums im öffentlichen Straßenraum. Zuvor hatte sie bereits am 23.12.2007 - damals noch unter Einbeziehung eines
weiteren Bereichs im Industriegebiet Nord - eine auf sieben Monate befristete Polizeiverordnung gleichen Wortlauts erlassen, die - wie
vorgesehen - am 31.07.2008 außer Kraft trat und durch die nunmehr angegriffene Polizeiverordnung abgelöst wurde. Die derzeit gültige
Verordnung hat in dem hier angegriffenen Umfang folgenden Wortlaut:
§ 1
3
Geltungsbereich
4
(1) Diese Polizeiverordnung gilt für das Gebiet der Innenstadt, begrenzt durch die Bertoldstraße, den Platz der Alten Synagoge, den
Platz der Universität, das westlich der Humboldtstraße gelegene Verbindungsstück zur Humboldtstraße, die Humboldtstraße und die
Kaiser-Joseph-Straße bis zum Bertoldsbrunnen.
5
Die genannten Straßen zählen noch zum Geltungsbereich der Verordnung.
6
(2) Der beigefügte Lageplan vom 28.05.2008 ist Bestandteil dieser Polizeiverordnung.
§ 2
7
Alkoholverbot
8
(1) Im Geltungsbereich der Verordnung ist es auf den öffentlich zugänglichen Flächen außerhalb konzessionierter Freisitzflächen
verboten
9
- alkoholische Getränke jeglicher Art zu konsumieren
- alkoholische Getränke jeglicher Art mit sich zu führen, wenn aufgrund der konkreten Umstände die Absicht erkennbar ist, diese im
Geltungsbereich der Verordnung konsumieren zu wollen.
10
(2) Dieses Verbot gilt in den Nächten von Freitag auf Samstag, Samstag auf Sonntag, Sonntag auf Montag jeweils von 22:00 Uhr bis
06:00 Uhr. Gleiches gilt für die Zeit von 00:00 Uhr bis 06:00 Uhr morgens an einem gesetzlichen Feiertag und die zwei Stunden davor
(d. h. von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr).
11 Gemäß § 4 Abs. 1 PolVO kann ein Verstoß gegen dieses Verbot als Ordnungswidrigkeit geahndet werden.
12 Die angegriffene Polizeiverordnung wurde vorab als Notbekanntmachung in der Badischen Zeitung vom 31.07.2008 und am 02.08.2008 im
Amtsblatt der Antragsgegnerin veröffentlicht.
13 Nach der Beschlussvorlage vom 07.07.2008 (Drucksache G-08/148), die auf die Beschlussvorlage der Vorläuferfassung (G-07/185) Bezug
nimmt, soll das in zeitlicher und räumlicher Hinsicht begrenzte Alkoholverbot die körperliche Unversehrtheit schützen. Eine abstrakte Gefahr im
Sinne von § 10 PolG liege vor. Die auch beim Schutz hochrangiger Güter erforderliche hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts
als Folge des Alkoholkonsums sei gegeben. Es bestehe ein Wirkungszusammenhang; Alkoholkonsum führe zur Enthemmung und damit auch
zur Steigerung der Gewaltbereitschaft Einzelner. Das „Bermuda-Dreieck“ sei ein Ort überproportional hoher Gewaltkriminalität und starken
Alkoholkonsums im öffentlichen Raum. Insbesondere junge Leute träfen sich dort zunächst zum sog. „Vorglühen“ oder „Warmtrinken“ mit - im
Vergleich zu Gaststätten weitaus billigerem - in Discountern gekauftem Alkohol, um anschließend die dortigen Kneipen und Diskotheken bereits
alkoholisiert aufzusuchen. Aus alldem folge, dass der Konsum von mitgebrachtem Alkohol im „Bermuda-Dreieck“ nach den Erfahrungen der
Polizei zumindest mitursächlich für die Begehung von Körperverletzungsdelikten sei. Das Alkoholverbot sei auch verhältnismäßig. Die
Geeignetheit ergebe sich aus der seit Einführung der Regelung um 16 % gesunkenen Gewaltkriminalität. Gleich geeignete Mittel seien nicht
ersichtlich. Mit Blick auf die zeitliche und räumliche Beschränkung sowie die Befristung des Verbots sei der Freiheitseingriff zu Gunsten des
hohen Schutzguts der körperlichen Unversehrtheit angemessen.
14 Bestandteil der Beschlussvorlage war die Studie der Polizeidirektion Freiburg 2008 „Gewaltdelinquenz in der Altstadt von Freiburg;
Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Alkoholkonsum und der Begehung von Gewaltstraftaten nach Inkrafttreten der Polizeiverordnung.
Erste Erfahrungen und statistische Entwicklungen nach Einführung des Alkoholverbots“.
15 Der 1982 geborene Antragsteller ist Mitglied des Arbeitskreises kritischer Juristen und Juristinnen (akj) sowie Promotionsstudent an der
Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg und wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Institut für Staatswissenschaft und
Rechtsphilosophie; sein Büro befindet sich innerhalb des Geltungsbereichs der Polizeiverordnung.
16 Am 11.08.2008 hat der Antragsteller das Normenkontrollverfahren eingeleitet, zu dessen Begründung er vorträgt:
17 Seine Antragsbefugnis ergebe sich daraus, dass er in seiner Freizeit, insbesondere auch an den Wochenenden, regelmäßiger Besucher von
Plätzen innerhalb des von der Polizeiverordnung umfassten sog. „Bermuda-Dreiecks“ sei, wo er sich auch zum - nicht an einen
Gastronomiebesuch gebundenen - Alkoholgenuss niederlasse. Die Polizeiverordnung sei materiell rechtswidrig. Die angegriffene Regelung des
§ 2 i.V.m. § 1 PolVO sei nicht von der Ermächtigungsgrundlage des § 10 Abs. 1 PolG gedeckt. Diese setze voraus, dass eine Störung oder
abstrakte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung im Sinne von § 10 Abs. 1 und § 1 Abs. 1 PolG vorliege. Dies sei jedoch nicht der
Fall. Dass Alkoholisierung, wie in der Studie dargelegt, „zumindest mitursächlich“ für Gewalt sein könne, sei nicht ausreichend, um eine abstrakte
Gefährlichkeit des Alkoholgenusses, geschweige denn des Mitführens von alkoholischen Getränken in Konsumabsicht, zu belegen. Der
Nachweis, dass durch Alkoholkonsum im Regelfall abstrakte Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung einträten, sei bislang nicht
erbracht worden. Auch im „Bermuda-Dreieck“ stellten Gewalttaten nicht die Regel-Folge von öffentlichem Alkoholkonsum dar. Menschliche
Gewalttaten entstünden unter komplexen Umständen und seien nicht linear auf Alkoholisierung zurückzuführen. Bei den Erhebungen der
Polizeidirektion handle es sich um statistisch nicht belastbares Zahlenmaterial. Für die vorgelagerte Abwehr möglicher Beeinträchtigungen im
Gefahrenvorfeld biete § 10 Abs. 1 PolG keine gesetzliche Grundlage. Die angegriffene Regelung verstoße schließlich gegen das
Bestimmtheitsgebot. Dies gelte insbesondere für die Formulierung, aus den „konkreten Umständen“ müsse die „Absicht“ erkennbar sein,
alkoholische Getränke zu konsumieren. Überdies sei sie unverhältnismäßig und verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz.
18 Der Antragsteller beantragt,
19
§ 2 i.V.m. § 1 der Polizeiverordnung der Stadt Freiburg i. Br. zur Begrenzung des Alkoholkonsums im öffentlichen Straßenraum vom 22.
Juli 2008 für unwirksam zu erklären.
20 Die Antragsgegnerin beantragt,
21
den Antrag abzulehnen.
22 Sie trägt vor: Die angegriffenen Bestimmungen der Polizeiverordnung seien durch die Ermächtigungsgrundlage des Polizeigesetzes (§ 10 Abs.
1, § 1 Abs. 1) gedeckt. Es liege eine abstrakte Gefahr - und nicht lediglich ein Gefahrenverdacht - vor. Die angegriffene Regelung sei Teil eines
abgestimmten Gesamtkonzepts. Der Konsum mitgebrachten Alkohols führe nach den vollzugspolizeilichen Erfahrungen zwar nicht überall in der
Innenstadt, sehr wohl aber im Geltungsbereich der Verordnung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung der körperlichen
Unversehrtheit. Insoweit lasse sich im „Bermuda-Dreieck“ aufgrund der konkreten Umstände eine in tatsächlicher Hinsicht hinreichend gesicherte
Gefahrenprognose treffen. Auch wenn Alkohol - jedenfalls bei der Durchschnittsbevölkerung - nicht grundsätzlich zur Begehung von
Gewaltdelikten führe, so gelte dies nach der polizeilichen Untersuchung nicht für den Bereich des „Bermuda-Dreiecks“. Der weit überwiegende
Teil der sich dort aufhaltenden jungen Personen habe bereits deutlich vor Mitternacht erhebliche Mengen an Alkohol zu sich genommen. Der
weitere unkontrollierte Konsum des mitgeführten Alkohols im Zusammenwirken mit gruppendynamischen Begleitfaktoren (Gedränge, körperliche
Kontakte, Rempeleien, Gegröle, vermeintliche Provokationen) sei unmittelbar ursächlich für die Gewaltausschreitungen und bewirke damit eine
Überschreitung der Gefahrenschwelle. Die angegriffenen Normen verstießen auch nicht gegen höherrangiges Recht. Das Bestimmtheitsgebot
sei gewahrt. Insbesondere sei der Begriff „Absicht“ in seiner gefestigten dogmatischen Bedeutung unproblematisch bestimmbar als
zielgerichteter Wille. Die Besorgnis des Antragstellers, die Formulierung könne zur willkürlichen Handhabung Anlass geben, sei nicht
nachvollziehbar. Die bisherigen Anwendungserfahrungen hätten die diesbezüglichen Zweifel des Antragstellers nicht bestätigt. Die angegriffene
Regelung stelle eine verhältnismäßige Einschränkung der bürgerlichen Freiheitsrechte dar. Sie sei ein geeignetes Mittel, den aufgezeigten
Gefahren für die körperliche Unversehrtheit zu begegnen, und sie sei insoweit erforderlich. Das in zeitlicher und örtlicher Hinsicht beschränkte
Alkoholverbot sei auch verhältnismäßig im engeren Sinne. Hierbei sei zu würdigen, dass das Verbot auf lediglich zwei Jahre begrenzt sei, ein
Zeitraum, der zum Anlass genommen werden solle, die weitere Entwicklung des Gewaltgeschehens zu beobachten und - soweit möglich - auch
statistisch zu bewerten. Schließlich bedeute die Differenzierung zum zulässigen Alkoholgenuss in Freischankflächen keine willkürliche
Ungleichbehandlung.
23 Dem Senat liegen die einschlägigen Akten der Antragsgegnerin vor. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf diese Akten und die
zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze verwiesen.
Entscheidungsgründe
24 Der Antrag ist zulässig (1.) und begründet (2.).
25 1. Der Antrag ist gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i.V.m. § 4 AGVwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Die Antragsfrist des § 47 Abs. 2 Satz
1 VwGO von einem Jahr ist gewahrt.
26 Der Antragsteller ist gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO antragsbefugt. Die Antragsbefugnis wird nach dieser Regelung jeder natürlichen oder
juristischen Person eingeräumt, die geltend macht, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit
verletzt zu werden. Es genügt dabei, wenn die geltend gemachte Rechtsverletzung möglich erscheint. Davon ist immer dann auszugehen, wenn
die Polizeiverordnung oder der auf sie gestützte Vollzugsakt an den Antragsteller adressiert ist, d.h. für diesen ein polizeiliches Verbot oder
Gebot statuiert (vgl. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 5. Auflage, 2007, RdNr. 633). Dies ist hier der Fall. Der 1982 geborene Antragsteller ist
Promotionsstudent an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg und hat als wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen
Institut für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie sein Büro innerhalb des Geltungsbereichs der Verordnung. In seiner Freizeit, insbesondere
auch in den späten Abendstunden an Wochenenden, ist er nach seinen eigenen Angaben regelmäßiger Besucher der im sog. „Bermuda-
Dreieck“ gelegenen Plätze, auf denen er sich auch zum - nicht an einen Gastronomiebesuch gebundenen - Alkoholgenuss aufhält. Er wird dabei
in dem von der Polizeiverordnung zeitlich umfassten Umfang mit dem Alkoholverbot konfrontiert und kann daher, ungeachtet des übergreifenden
Anliegens, das er als Mitglied des Arbeitskreises kritischer Juristen und Juristinnen offensichtlich verfolgt, geltend machen, in seiner allgemeinen
Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) betroffen zu sein.
27 2. Der Normenkontrollantrag ist auch begründet. Die zur Überprüfung gestellte Vorschrift des § 2 i.V.m. § 1 der Polizeiverordnung zur
Begrenzung des Alkoholkonsums im öffentlichen Straßenraum vom 22.07.2008 - PolVO - ist zwar ordnungsgemäß zustande gekommen (2.1)
und verstößt auch nicht gegen das Bestimmtheitsgebot (2.2). Sie ist jedoch nicht durch die polizeiliche Generalermächtigung in § 10 Abs. 1, § 1
Abs. 1 PolG gedeckt, weil sie nicht der Gefahrenabwehr, sondern der Gefahrenvorsorge dient (2.3).
28 2.1. Formelle Bedenken gegen die Polizeiverordnung der Antragsgegnerin sind weder geltend gemacht, noch ersichtlich. Die Polizeiverordnung
ist mit der erforderlichen Zustimmung des Gemeinderates der Antragsgegnerin erlassen (§ 15 Abs. 2 PolG) und der Rechtsaufsichtsbehörde
vorgelegt worden (§ 16 Abs. 1 PolG). Die Formerfordernisse des § 12 Abs. 1 und 2 PolG sind gewahrt. Eine ordnungsgemäße Verkündung durch
öffentliche Bekanntmachung sowohl in der Badischen Zeitung als auch im Amtsblatt der Antragsgegnerin liegt ebenfalls vor.
29 2.2 Auch genügt die Regelung entgegen der Auffassung des Antragstellers dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot. Die darin
verwendeten Begriffe und Tatbestandsmerkmale sind hinreichend bestimmt bzw. bestimmbar.
30 Das aus dem Rechtsstaatsgebot abzuleitende Gebot der hinreichenden Bestimmtheit und Klarheit der Norm fordert vom Normgeber, seine
Regelungen so genau zu fassen, dass der Betroffene die Rechtslage, d.h. Inhalt und Grenzen von Gebots- oder Verbotsnormen, in zumutbarer
Weise erkennen und sein Verhalten danach einrichten kann. Der Normgeber darf dabei grundsätzlich auch auf unbestimmte Rechtsbegriffe
zurückgreifen, wenn die Kennzeichnung der Normtatbestände mit beschreibenden Merkmalen nicht möglich ist. Die Auslegungsbedürftigkeit
einer Norm steht ihrer Bestimmtheit nicht entgegen; allerdings müssen sich dann aus Wortlaut, Zweck und Zusammenhang der Regelung
objektive Kriterien gewinnen lassen, die einen verlässlichen, an begrenzende Handlungsmaßstäbe gebundenen Vollzug der Norm
gewährleisten. Die Erkennbarkeit der Rechtslage durch den Betroffenen darf hierdurch nicht wesentlich eingeschränkt sein und die Gerichte
müssen in der Lage bleiben, den Regelungsinhalt mit den anerkannten Auslegungsregeln zu konkretisieren. Je intensiver dabei eine Regelung
auf die Rechtsposition des Normadressaten wirkt, desto höher sind die Anforderungen, die an die Bestimmtheit im Einzelnen zu stellen sind (vgl.
dazu BVerfG, Urteil vom 27.07.2005 - 1 BvR 668/04 -, BVerfGE 113, 348 <375 f.> sowie Senatsurteil vom 15.11.2007 - 1 S 2720/06 -, VBlBW
2008, 134 f. m.w.N. und Normenkontrollbeschluss des Senats vom 29.04.1983 - 1 S 1/83 -, VBlBW 1983, 302 f.).
31 Diesen Anforderungen wird die Bestimmung des § 2 Abs. 1 der Polizeiverordnung gerecht, auch soweit sie nicht lediglich den Alkoholkonsum,
sondern darüber hinaus verbietet, „alkoholische Getränke jeglicher Art mit sich zu führen, wenn aufgrund der konkreten Umstände die Absicht
erkennbar ist, diese im Geltungsbereich der Verordnung konsumieren zu wollen“. Für den Betroffenen erkennbar nicht erfasst wird durch die
Verbotsnorm das einfache Durchqueren der zum Geltungsbereich der Verordnung gehörenden Örtlichkeiten mit zuvor eingekauftem Alkohol,
wenn nicht beabsichtigt ist, diesen dort konsumieren zu wollen. Auch das Verweilen mit mitgeführtem Alkohol ohne Konsumabsicht unterfällt
nicht dem § 2 Abs. 1 PolVO. Verboten ist dagegen das Mitsichführen von alkoholischen Getränken, wenn aufgrund der konkreten Umstände die
Absicht erkennbar ist, diese an Ort und Stelle zu konsumieren. Die Bezugnahme auf eine Absicht des Handelnden widerspricht nicht dem
Bestimmtheitsgebot, wie insbesondere die zahlreichen Vorschriften des Strafrechts zeigen, die ein Handeln dann unter Strafe stellen, wenn es in
einer bestimmten - oft nur anhand von Indizien - feststellbaren Absicht geschieht. Da konkrete äußere Umstände (wie mitgebrachte Trinkgefäße,
Strohhalme, bereits geöffnete Flaschen) diese Absicht belegen müssen, ist diese Regelung noch hinreichend bestimmt. Mögliche Nachteile einer
insoweit verbleibenden Unbestimmtheit können durch die gerichtliche Kontrolle einer konkretisierenden Polizeiverfügung oder eines
Bußgeldbescheides ausgeglichen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.06.1994 - 4 C 2.94 -, BVerwGE 96, 110 <116>; Senatsurteil vom
15.11.2007 - 1 S 27720/06 -, VBlBW 2008, 134 ff.). Auch hinsichtlich des zeitlichen und örtlichen Anwendungsbereichs des Alkoholverbots sind
Bedenken hinsichtlich des Bestimmtheitsgebots nicht ersichtlich. Durch den der Regelung beigefügten Lageplan und die genaue Bezeichnung
der erfassten Straßen und Plätze ist die räumliche Festlegung des Verbotsgebiets hinreichend erkennbar.
32 2.3 Die angegriffene Bestimmung des § 2 i.V.m. § 1 PolVO ist jedoch deshalb unwirksam, weil sie sich nicht im Rahmen der gesetzlichen
Ermächtigung in § 10 i.V.m. § 1 PolG hält. Denn das verbotene Verhalten stellt entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin eine hinreichende
Gefahr für die öffentliche Sicherheit nicht dar.
33 Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ist gegeben, wenn bei bestimmten Arten von Verhaltensweisen oder Zuständen nach allgemeiner
Lebenserfahrung oder fachlichen Erkenntnissen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden für die polizeilichen Schutzgüter im Einzelfall,
d.h. eine konkrete Gefahrenlage, einzutreten pflegt. Dabei hängt der zu fordernde Wahrscheinlichkeitsgrad von der Bedeutung der gefährdeten
Rechtsgüter sowie dem Ausmaß des möglichen Schadens ab. Geht es um den Schutz besonders hochwertiger Rechtsgüter, wie etwa Leben und
Gesundheit von Menschen, so kann auch die entferntere Möglichkeit eines Schadenseintritts ausreichen (vgl. nur Senatsurteil vom 15.11.2007 -
1 S 2720/06 -, VBlBW 2008, 134 f., BVerwG, Urteil vom 03.07.2002 - 6 CN 8.01 -, BVerwGE 116, 347 <351 f.>, jeweils m.w.N.).
34 Der Gefahrenbegriff ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 03.07.2002, a.a.O.) dadurch gekennzeichnet, dass
aus gewissen gegenwärtigen Zuständen nach dem Gesetz der Kausalität gewisse andere Schaden bringende Zustände und Ereignisse
erwachsen werden. Schadensmöglichkeiten, die sich deshalb nicht ausschließen lassen, weil nach dem derzeitigen Wissensstand bestimmte
Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint werden können, begründen keine Gefahr, sondern lediglich einen Gefahrenverdacht
oder ein „Besorgnispotential“. Vorsorgemaßnahmen zur Abwehr möglicher Beeinträchtigungen im Gefahrenvorfeld werden durch die polizeiliche
Ermächtigungsgrundlage nicht gedeckt. Diese lässt sich auch nicht dahingehend erweiternd auslegen, dass der Exekutive eine
„Einschätzungsprärogative“ in Bezug darauf zugebilligt wird, ob die vorliegenden Erkenntnisse die Annahme einer abstrakten Gefahr
rechtfertigen (BVerwG, Urteil vom 03.07.2002, a.a.O.).
35 Maßgebliches Kriterium zur Feststellung einer Gefahr ist die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts. Die abstrakte Gefahr
unterscheidet sich dabei von der konkreten Gefahr nicht durch den Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, sondern durch den
Bezugspunkt der Gefahrenprognose oder, so das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 03.07.2002, a.a.O.), durch die Betrachtungsweise: Eine
konkrete Gefahr liegt vor, wenn in dem zu beurteilenden konkreten Einzelfall in überschaubarer Zukunft mit dem Schadenseintritt hinreichend
wahrscheinlich gerechnet werden kann; eine abstrakte Gefahr ist gegeben, wenn eine generell-abstrakte Betrachtung für bestimmte Arten von
Verhaltensweisen oder Zuständen zu dem Ergebnis führt, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden im Einzelfall einzutreten pflegt
und daher Anlass besteht, diese Gefahr mit generell-abstrakten Mitteln, also einem Rechtssatz zu bekämpfen. Auch die Feststellung einer
abstrakten Gefahr verlangt mithin eine in tatsächlicher Hinsicht genügend abgesicherte Prognose: es müssen - bei abstrakt-genereller
Betrachtung - hinreichende Anhaltspunkte vorhanden sein, die den Schluss auf den drohenden Eintritt von Schäden rechtfertigen. Der Schaden
muss regelmäßig und typischerweise, wenn auch nicht ausnahmslos zu erwarten sein (vgl. Senatsbeschluss vom 06.10.1998 - 1 S 2272/97 -,
VBlBW 1999, 101 f.). Denn es liegt im Wesen von Prognosen, dass die vorhergesagten Ereignisse wegen anderer als der erwarteten
Geschehensabläufe ausbleiben können. Von dieser mit jeder Prognose verbundenen Unsicherheit ist die Ungewissheit zu unterscheiden, die
bereits die tatsächlichen Grundlagen der Gefahrenprognose betrifft. Ist die Behörde mangels genügender Erkenntnisse über die Einzelheiten der
zu regelnden Sachverhalte und/oder über die maßgeblichen Kausalverläufe zu der erforderlichen Gefahrenprognose nicht im Stande, so liegt
keine Gefahr, sondern - allenfalls - eine mögliche Gefahr oder ein Gefahrenverdacht vor (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urteil vom 03.07.2002,
a.a.O.).
36 Gemessen an diesen vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Grundsätzen, denen der erkennende Senat folgt, liegen im vorliegenden Fall
keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass das nach Zeit und Ort verbotene Verhalten regelmäßig und typischerweise Gewaltdelikte zur
Folge hat. Die von der Antragsgegnerin dargelegten Ursachenzusammenhänge zwischen Alkoholkonsum und Gewalt begründen lediglich einen
Gefahrenverdacht. Vorsorgemaßnahmen zur Abwehr möglicher Beeinträchtigungen im Gefahrenvorfeld werden durch die
Ermächtigungsgrundlage in § 10 i.V.m. § 1 PolG aber nicht gedeckt.
37 Nach den dargelegten Grundsätzen kommt es entscheidend darauf an, welche konkreten Zustände die Antragsgegnerin zum Erlass der
angegriffenen Polizeiverordnung bewogen haben. Dabei sind grundsätzlich auch fachliche Erkenntnisse wie diejenigen der örtlichen Polizei zu
berücksichtigen. Die Antragsgegnerin will mit der Polizeiverordnung der Gewaltdelinquenz begegnen; damit ist die öffentliche Sicherheit
betroffen. Sie beruft sich darauf (vgl. Beschluss-Vorlage des Gemeinderats, Drucksache G-08/148), dass im „Bermuda-Dreieck“ der Konsum von
mitgebrachtem Alkohol zur Begehung von Körperverletzungsdelikten führe; der Alkoholkonsum stelle - zwar nicht grundsätzlich, aber in diesem
räumlich abgegrenzten Bereich der Innenstadt Freiburgs - eine abstrakte Gefahr für das hochrangige Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit
dar. Zwischen Alkoholkonsum und Gewaltkriminalität bestehe ein Wirkungszusammenhang. Der Alkoholkonsum führe zur Enthemmung und
damit auch zur Steigerung der Gewaltbereitschaft Einzelner. Nach den Erfahrungen der Polizei sei Alkoholisierung häufig die Ursache für
gewalttätige Auseinandersetzungen. Im Jahr 2007 seien 43 % der Tatverdächtigen in der Freiburger Altstadt unter Alkoholeinfluss gestanden, im
Jahr 2008 sogar 60 %. Im „Bermuda-Dreieck“, das ungefähr ein Zehntel der Freiburger Altstadt umfasse, sei die Anzahl der Gewaltdelikte im
Vergleich zur restlichen Altstadt überproportional hoch. Hier seien sowohl 2007 als auch 2008 fast 50 % aller Gewaltstraftaten in der Altstadt
begangen worden. Das „Bermuda-Dreieck“ sei ein begehrter Aufenthaltsort insbesondere junger Menschen. Zu beobachten seien dabei
Gruppen, die von vornherein nicht den Besuch der dortigen Kneipen oder anderer Vergnügungsstätten beabsichtigten, sondern diesen Ort als
gesellschaftlichen Treffpunkt nutzen wollten und dabei Alkohol in erheblichen Mengen konsumierten. Andere, insbesondere Jugendliche, träfen
sich dort zunächst zum sogenannten „Vorglühen“ oder „Warmtrinken“ mit - im Vergleich zu Gaststätten weitaus billigerem - in Discountern
gekauftem Alkohol, um anschließend die dortigen Kneipen bereits alkoholisiert aufzusuchen. Dies werde ihnen von Türstehern aufgrund ihres
erheblichen Alkoholisierungsgrades oftmals verwehrt. Viele Betroffene reagierten hierauf aggressiv. Dasselbe gelte für Personen, die
alkoholisiert der Kneipen verwiesen würden. Nach den Erfahrungen der Polizei sei das Zusammentreffen abgewiesener und verwiesener
Personen eine häufige Ursache gewalttätiger Auseinandersetzungen. Seit Erlass der Polizeiverordnung seien die Gewaltstraftaten im gesamten
Stadtteil Altstadt gesunken, auch im örtlichen und zeitlichen Geltungsbereich der Polizeiverordnung.
38 Die Antragsgegnerin stützt sich für die dargelegten Erwägungen auf folgende polizeiliche Untersuchungen:
39
- die Studie 2007 „Gewaltdelinquenz im Zuständigkeitsbereich der Polizeidirektion Freiburg, Untersuchung der Zusammenhänge zwischen
Alkoholkonsum und der Begehung von Straftaten“, die als Anlage 3 zur Drucksache G-07/185 Bestandteil der Beschlussvorlage des
Gemeinderats bei der Abstimmung über die Vorläuferfassung vom 23.12.2007 war,
40
- die Studie 2008 „Gewaltdelinquenz in der Altstadt von Freiburg; Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Alkoholkonsum und der
Begehung von Gewaltstraftaten nach Inkrafttreten der Polizeiverordnung. Erste Erfahrungen und statistische Entwicklungen nach Einführung
des Alkoholverbots“, die als Anlage 2 Bestandteil der Beschlussvorlage vom 07.07.2008, Drucksache G-08/148 vom Juni 2008 war.
41 Die Studie 2007 basiert auf der Auswertung der in der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) registrierten Delikte. Dabei handelt es sich um eine
Ausgangsstatistik, was bedeutet, dass die Fälle erst nach Abschluss der Ermittlungen und vor Abgabe an die Justiz in der PKS erfasst werden.
Dadurch ergibt sich in zeitlicher Hinsicht ein Verzerrfaktor, der - worauf in den polizeilichen Untersuchungen hingewiesen wird - bei der
Betrachtung der Ergebnisse mitberücksichtigt werden muss. Der Studie zufolge registrierte die Polizeidirektion in der Freiburger Innenstadt in
den letzten Jahren einen überproportionalen Anstieg von Gewaltdelikten. In einer Anmerkung wird ausgeführt, dass die - hiervon auch erfassten -
Fälle der häuslichen Gewalt in allen Stadtteilen etwa mit gleichen Anteilen registriert worden seien. Im innerstädtischen Bereich liege der Anteil
leicht unter dem Durchschnitt, da in diesem Bereich die Wohndichte niedriger sei. Hingewiesen wird auch darauf, dass bei der Auswertung der
PKS-Dateien nicht unterschieden werden könne, ob die registrierten Delikte im öffentlichen Raum oder in einem Gebäude begangen worden
seien. Hier seien Erfahrungswerte zugrunde zu legen, nach denen sich der Anteil gleichmäßig mit ca. 50:50 verteile. Bei einer Feinanalyse des
Stadtteils Altstadt, so die Studie, würden die Straßen im und rund um das „Bermuda-Dreieck“ als Brennpunkte deutlich. Die Auswertung der
relevanten Tattage zeige, dass an den Wochentagen von Freitag bis Montag die meisten Straftaten zu verzeichnen seien und die Gewaltdelikte
insbesondere in der Zeit zwischen 00.00 bis 05.00 Uhr verübt würden. Die Alkoholbeeinflussung sei je nach Deliktsart sehr unterschiedlich. Der
7-Jahres-Durchschnitt (2000 - 2006) des Anteils an alkoholisierten Tatverdächtigen habe bei den Straftaten in der Stadt bei insgesamt 9,9 %
gelegen, für den Bereich der Altstadt bei etwas über 10,5 %. Rund bei der Hälfte (43,0 %) der in der Freiburger Altstadt registrierten
Körperverletzungsdelikte im ersten Halbjahr 2007 hätten die Tatverdächtigen unter Alkoholeinfluss gestanden (vgl. S. 14 der Anlage 3 der
Beschlussvorlage 2007).
42 In der Studie 2008 wurde die Gewaltphänomenologie durch eine Tatzeitbetrachtung dargestellt, d.h. es wurden nur die Gewaltstraftaten für die
Auswertung herangezogen, die tatsächlich im Zeitraum Januar bis Mai 2008 begangen wurden. Entscheidend war hier die Tatzeit und nicht wie
bei der PKS- Auswertung das Erfassungsdatum. Gleichzeitig wurde eine Tatzeitanalyse für den Vergleichszeitraum Januar bis Mai 2007 erstellt
und so ein Vergleich mit der Situation vor Inkrafttreten der Polizeiverordnung angestellt, um die Auswirkungen des Verbots sichtbar zu machen.
Nach der Studie 2008 wurden in den ersten 5 Monaten des Jahres 2008 256 Straftaten im Vergleich zu insgesamt 273 Straftaten im
Vergleichszeitraum 2007 erfasst; dies entspricht einem Rückgang von 7 % (= 17 Straftaten). Die Untersuchung zeige nach wie vor einen
Schwerpunkt im Bereich der Kaiser-Joseph-Straße und im „Bermuda-Dreieck“ sowie auf den Zu- und Abwanderungsstraßen. Von den 256
Gewaltdelikten im Stadtteil Altstadt seien 120 Delikte im örtlichen Definitionsbereich der Polizeiverordnung begangen worden, davon 69 auch im
zeitlichen Geltungsbereich der Verordnung. Das entspreche einem Anteil von 25 %. Der Studie zufolge sollen im Verbotsbereich die
Gewaltstraftaten von 126 im Jahr 2007 auf 120 im Jahr 2008 zurückgegangen sein. Die Untersuchung der Tatzeitpunkte ergebe weiterhin
Spitzen an Samstagen und Sonntagen, insbesondere um 03.00 und 05.00 Uhr. Insgesamt hätten sich 69 der 120 Gewaltstraftaten im
Verbotsbereich auch im zeitlichen Geltungsbereich der Polizeiverordnung, also am Wochenende, abgespielt; das entspreche im Vergleich zum
Vorjahr (82 Taten) einem Rückgang von 13 Gewaltstraftaten und damit um 16 %. Bezüglich des Einflusses von Alkohol enthält die Studie die
Feststellung, dass 60 % der registrierten Täter alkoholisiert gewesen seien gegenüber 43 % im Vorjahr. Die registrierten Täter seien
überwiegend männlich (82 %) und zwischen 21 und 30 Jahren alt.
43 Außerdem hat der Vertreter der Polizeidirektion Freiburg - auf aktuelle Zahlen angesprochen - in der mündlichen Verhandlung ergänzend darauf
hingewiesen, dass auf der Basis der polizeilichen Kriminalstatistik im „Bermuda-Dreieck“ im Jahr 2009 nochmals ein weiterer Rückgang an
Gewaltdelikten von ca. 25 % zu verzeichnen sei. Allerdings seien im ganzen Stadtgebiet die Gewaltdelikte ebenfalls leicht rückläufig gewesen.
Eine Tatzeitanalyse liege insoweit nicht vor.
44 Diese von der Antragsgegnerin zugrunde gelegten polizeilichen Erkenntnisse lassen nicht den Schluss zu, dass gerade das verbotene Verhalten
- der Genuss mitgebrachten Alkohols im Geltungsbereich der PolVO - regelmäßig und typischerweise die Gefahr von Körperverletzungen mit sich
bringt. Aufgrund der polizeilichen Studien sind zwar Ursachenzusammenhänge zwischen Alkoholkonsum und Gewaltdelikten nicht
auszuschließen; sie begründen jedoch allenfalls einen Gefahrenverdacht, nicht aber eine abstrakte Gefahr im oben dargelegten Sinne.
45 Dass Alkoholgenuss generell zu Aggressivität führt, widerspricht schon der Lebenserfahrung und wird von der Antragsgegnerin auch nicht
behauptet. Vielmehr hängt es von den äußeren Umständen, den individuellen Gegebenheiten und Befindlichkeiten sowie den situativen
Einflüssen ab, welche Wirkungen der Alkoholgenuss bei dem Einzelnen zeigt. Auch die kriminologische Forschung hat verschiedene
Erklärungsmodelle für die in den polizeilichen Kriminalitätsstatistiken festgestellten Beziehungen zwischen Alkohol und Gewaltdelinquenz (vgl.
Schwind, Kriminologie, 18. Auflage, 2008, § 26 Rn. 30 f.; Kaiser, Kriminologie, 3. Auflage, 1996, § 54 Rn. 22 f.). Dabei wird auch die Frage
aufgeworfen, ob überhaupt eine kausale Beziehung oder nicht vielmehr ein „Scheinzusammenhang“ besteht. Denn es könne auch möglich sein,
dass sich Alkoholtäter leichter überführen ließen und daher bei den polizeilichen Erhebungen überrepräsentiert seien (Kaiser, a.a.O. Rn. 23). In
dem Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht des Bundesministeriums der Justiz von 2006 wird festgestellt (S. 287, unter 3.5.3.1), dass die
Alkoholisierung von Beteiligten bei der Entstehung von Straftaten „im Einzelfall“ eine mitursächliche, auslösende, begünstigende oder
begleitende Rolle spielt. Der Alkoholeinfluss könne jedoch nur selten als einzige Ursache herausgearbeitet werden.
46 Nichts grundlegend anderes ergibt sich für den örtlichen und zeitlichen Geltungsbereich der Polizeiverordnung. Soweit die Antragsgegnerin
darauf verweist, dass jedenfalls im „Bermuda-Dreieck“ das verbotene Verhalten vor dem Hintergrund der dortigen Verhältnisse - wie Gedränge,
körperliche Kontakte, Rempeleien, Gegröle und vermeintliche Provokationen - die prognostizierten Auswirkungen hat, wird der Nachweis einer
abstrakten Gefährlichkeit des verbotenen Verhaltens durch die polizeilichen Studien nicht erbracht (kritisch zu dem in diesem Bereich
behaupteten Ursachenzusammenhang der Kriminologe Prof. Hefendehl, Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg, Leserbrief
zum Beitrag Faßbender, NVwZ 11/2009, IX). Nicht geklärt ist dabei vor allem, welche Bedeutung dem Faktor Alkohol neben zahlreichen anderen
Ursachen zukommt.
47 Der Nachweis einer abstrakten Gefahr kann schließlich auch nicht durch den seit Einführung der Verbotsnorm festgestellten Rückgang der
Gewaltdelikte um lediglich 16 % (= 13 von 69 im zeitlichen und örtlichen Verbotsbereich festgestellten Gewaltstraftaten) erbracht werden. Der
Rückschluss, von dem Normunterworfenen gehe typischerweise und regelmäßig die Gefahr von Gewaltdelikten aus, wäre nur dann
gerechtfertigt, wenn ein massiver Rückgang der Gewaltdelinquenz im Geltungsbereich der Polizeiverordnung zu verzeichnen wäre. Davon kann
jedoch hier keine Rede sein. Selbst wenn man, wie von der Antragsgegnerin geltend gemacht, einzukalkulieren hat, dass die ständige
Polizeipräsenz auch ein verändertes Anzeigeverhalten zur Folge gehabt haben kann, belegt der festgestellte Rückgang keinesfalls, dass sich
aufgrund des verbotenen Verhaltens in aller Regel eine Gefahrenlage ergibt.
48 Im Übrigen kommt dem zugrunde gelegten statistischen Material ohnehin nur eine beschränkte Aussagekraft zu. Zum einen ist, wovon auch die
Antragsgegnerin ausgeht, die verfügbare Datenmenge der Polizei zu gering, um hieraus ein empirisch gesichertes Ergebnis abzuleiten und den
dargelegten Rückgang der Gewaltdelinquenz im Geltungsbereich der Polizeiverordnung verlässlich nachzuweisen. Zum anderen ist das in die
Untersuchung eingestellte Zahlenmaterial als solches nicht hinreichend aussagekräftig für die Frage, wie viele Gewaltdelikte gerade aufgrund
des verbotenen Verhaltens vor und nach Erlass der Polizeiverordnung im „Bermuda-Dreieck“ zu verzeichnen waren. Bei der Auswertung der
polizeilichen Studien ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Studie 2007 sowie die neuesten, in der mündlichen Verhandlung dargelegten
polizeilichen Untersuchungen auf der Auswertung der in der polizeilichen Kriminalstatistik registrierten Delikte basieren. Nach den eigenen
Angaben des Vertreters der Polizeidirektion, die sich mit den Hinweisen aus der polizeilichen Studie 2007 decken, geben die aus der PKS
übernommenen Zahlen keinen Aufschluss darüber, wann genau sich die Gewalttaten ereignet haben. Hier geht die Antragsgegnerin selbst
davon aus, dass in der - auf den Abschluss der polizeilichen Ermittlungen abstellenden - Kriminalstatistik Gewalttaten zahlenmäßig erfasst
wurden, die sich schon mehrere Monate vorher ereignet haben können. Mit Blick auf diesen Verzerrfaktor ergeben sich folglich verlässliche
Angaben über bestimmte Vergleichszeiträume lediglich aus der in der Studie 2008 dargestellten Tatzeitanalyse, nicht aber aus dem ansonsten
von der PKS erfassten Zahlenmaterial. Auch für den Vergleichszeitraum 2009 liegt keine Tatzeitanalyse vor. Der von der Antragsgegnerin für das
erste Halbjahr 2009 dargelegte weitere Rückgang von Gewalttaten im zeitlichen und örtlichen Bereich der Polizeiverordnung relativiert sich
überdies deshalb, weil für das ganze Stadtgebiet 2009 ein „leichter“ Rückgang dieser Delikte (nähere Angaben hierzu konnten nicht gemacht
werden) erwartet wird.
49 Schließlich kann, wie bereits in der polizeilichen Studie 2007 hervorgehoben wird, bei der Auswertung der polizeilichen Kriminalstatistik nicht
unterschieden werden, ob die Delikte im öffentlichen Raum oder in einem Gebäude begangen wurden. Es können insoweit daher nur
Erfahrungswerte (50:50) zugrunde gelegt werden. Ebenso sind Fälle häuslicher Gewalt erfasst, die mit dem verbotenen Verhalten in keinerlei
Zusammenhang gebracht werden können. Entsprechendes gilt, soweit die registrierten Gewalttaten auch Personen umfassen, die, wie in der
Beschlussvorlage ausgeführt, alkoholisiert der dortigen Kneipen verwiesen werden und hierauf aggressiv reagieren. Die Anzahl der unter
Alkoholeinfluss begangenen Gewaltdelikte gibt daher keinen Aufschluss darüber, ob der Gewalttäter bereits zu Hause „vorgeglüht“ hat und sich
in alkoholisiertem Zustand ins „Bermuda-Dreieck“ begibt oder in den dortigen Kneipen und Vergnügungsstätten Alkohol zu sich nimmt und
anschließend aggressiv und gewalttätig wird oder tatsächlich zu der Gruppe der Normunterworfenen zählt.
50 Ist die Antragsgegnerin daher mangels genügend abgesicherter Erkenntnisse über die Einzelheiten der zu regelnden Sachverhalte bzw. über
die maßgeblichen Kausalverläufe zu der erforderlichen Gefahrenprognose nicht im Stande, so liegt allenfalls ein Gefahrenverdacht vor.
51 Ohne Erfolg beruft sich die Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang darauf, dass angesichts der in der Vergangenheit festgestellten
erheblichen Körperverletzungen im „Bermuda-Dreieck“ auch ein Weniger an gesicherten Erkenntnissen hinzunehmen und ihr insoweit eine
Erprobungsphase einzuräumen sei.
52 Die Antragsgegnerin ist als kommunale Verordnungsgeberin an die Vorgaben des § 10 Abs. 1 PolG gebunden; ein Erprobungsspielraum bei der
Beurteilung, ob die bisherigen Erkenntnisse eine abstrakte Gefahr belegen oder nicht, kommt ihr nicht zu (BVerwG, Urteil vom 03.07.2002, a.a.O.,
S. 95 f. <96>; a.A. Faßbender, Alkoholverbote durch Polizeiverordnungen: per se rechtswidrig?, NVwZ 2009, 563 f.). Davon abgesehen war sie
aufgrund der unbeanstandet gebliebenen, zeitlich befristeten Vorläuferfassung der Polizeiverordnung in der Lage, Erkenntnisse zu sammeln, die
jedoch - wie dargelegt - die Annahme einer abstrakten Gefahr nicht stützen.
53 Der Senat verkennt nicht, dass die sich häufenden Alkoholexzesse gerade unter jungen Menschen ein gesellschaftliches Problem darstellen,
denen auf verschiedenen Wegen begegnet werden muss. Es kann daher auch im Bereich der Gefahrenvorsorge ein Bedürfnis bestehen, zum
Schutz der etwa gefährdeten Rechtsgüter, namentlich höchstrangiger Rechtsgüter wie Leben und körperlicher Unversehrtheit von Menschen,
Freiheitseinschränkungen anzuordnen. Dies setzt aber eine Risikobewertung voraus, zu der nur der Gesetzgeber berufen ist. Nur er ist befugt,
unter Abwägung der widerstreitenden Interessen und unter Beachtung grundrechtlicher Vorgaben die Rechtsgrundlagen für abstrakt-generelle
Grundeingriffe zu schaffen, mit denen an einzelnen Brennpunkten Risiken vermindert werden sollen. Eine derart weitreichende Bewertungs- und
Entscheidungskompetenz steht der Polizeibehörde nicht zu (vgl. BVerwG, Urteil vom 03.07.2002, a.a.O.).
54 Der Antragsgegnerin bleibt nach wie vor die Möglichkeit, den notwendigen Schutz der Bevölkerung vor den von alkoholisierten Personen
ausgehenden Gefahren mit dem herkömmlichen polizeilichen Instrumentarium zu gewährleisten und etwa mit Platzverweisen und
Aufenthaltsverboten im Einzelfall gegen Störer vorzugehen. Auch Massenbesäufnisse auf öffentlichen Plätzen (sog. Botellón-Veranstaltungen)
können auf der Grundlage des Polizeigesetzes untersagt werden, ohne dass es des Rückgriffs auf eine Polizeiverordnung bedarf. Das
Jugendschutzgesetz, das Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren den Verzehr von Alkohol in der Öffentlichkeit ohnehin nicht gestattet (§ 9
Abs. 1), bietet darüber hinaus ein Handhabe gegen jugendliche „Rucksacktrinker“. Auch kann für einzelne öffentliche Einrichtungen eine
entsprechende Einrichtungssatzung bzw. Benutzungsordnung erwogen werden. Der Antragsgegnerin ist es schließlich unbenommen, ihre im
Rahmen eines Gesamtkonzepts getroffenen sonstigen Maßnahmen (wie Vereinbarungen mit den gastronomischen Betrieben über die
gegenseitige Anerkennung von Hausverboten, über die freiwillige Selbstbeschränkung in Bezug auf sog. Flatrate-Angebote, systematische
Öffentlichkeitsarbeit, Projekte mit sozialarbeiterischer oder jugendpflegerischer Ausrichtung und „Gefährderansprachen“) weiter zu verfolgen und
diese Präventionsprojekte auszuweiten.
55 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
56 Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.
57
Beschluss vom 28. Juli 2009
58 Der Streitwert für das Normenkontrollverfahren wird gemäß § 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
59 Der Beschluss ist unanfechtbar.