Urteil des OLG Stuttgart vom 19.11.2014

nachlass, strafverfahren, tod, auflage

OLG Stuttgart Beschluß vom 19.11.2014, 2 Ws 142/14
Kostenentscheidung im Strafverfahren: Beschwerdebefugnis des Verteidigers
nach dem Tod des Angeklagten; Entscheidung über die notwendigen Auslagen
des Angeklagten
Leitsätze
1. Nach dem Tod des Angeklagten ist der Verteidiger hinsichtlich der zu treffenden
Kostenentscheidung beschwerdebefugt.
2. Außerhalb des Anwendungsbereichs der Unschuldsvermutung kann die
Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Angeklagten gemäß § 467 Abs. 3
Nr. 2 StPO nach Maßgabe des ohne die Verfahrenseinstellung zu erwartenden
Verfahrensausgangs getroffen werden.
Tenor
1. Auf die sofortige Beschwerde des Verteidigers gegen den Beschluss des
Landgerichts Ravensburg vom 18. Juli 2014 wird die dort getroffene
Kostenentscheidung wie folgt abgeändert:
Die Staatskasse trägt die Kosten des Verfahrens und zwei Drittel der notwendigen
Auslagen des Angeklagten in den Berufungsverfahren vor dem Landgericht
Ravensburg und im Revisionsverfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart. Im
Übrigen werden die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse nicht
auferlegt.
2. Die Gebühr für das Beschwerdeverfahren wird auf die Hälfte ermäßigt. Die
Staatskasse trägt die Hälfte der dem Nachlass des Angeklagten im
Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen.
Gründe
I.
1 Am 6. Juni 2011 verurteilte das Amtsgerichts Tettnang den Angeklagten wegen
vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr zu der Freiheitsstrafe von fünf Monaten ohne
Strafaussetzung zur Bewährung. Der Angeklagte hatte die Tat gestanden. Seine
rechtzeitig eingelegte Berufung gegen das Urteil, die er vor der
Berufungshauptverhandlung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte, wurde
durch Urteil des Landgerichts Ravensburg vom 29. August 2011 als unbegründet
verworfen. Auf seine Revision hob der Senat mit Beschluss vom 8. Dezember 2011
das Urteil des Landgerichts Ravensburg auf, weil anhand der vom Landgericht
getroffenen Feststellungen nicht überprüft werden konnte, ob die Berufungskammer
zu Recht von der Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung auf den
Rechtsfolgenausspruch ausgegangen war. Am 1. Oktober 2013 begann die nun
zuständige Berufungskammer beim Landgericht Ravensburg die neue
Berufungshauptverhandlung durch einen Gutachtensauftrag an einen
psychiatrischen Sachverständigen zur Klärung der Voraussetzungen des § 21 StGB
vorzubereiten. Am 12. Februar 2014 verstarb der Angeklagte. Darauf stellte das
Landgericht mit dem im Kostenpunkt angefochtenen Beschluss vom 18. Juli 2014
das Strafverfahren ein. Zugleich ordnete es an, dass die Staatskasse die Kosten
des Verfahrens mit Ausnahme der notwendigen Auslagen des Angeklagten, die
dieser selbst (bzw. sein Nachlass) tragen sollte, trägt.
II.
2 Auf die zulässige sofortige Beschwerde des Verteidigers gegen die
Kostenentscheidung im Beschluss des Landgerichts Ravensburg vom 18. Juli 2014
ändert der Senat diese dahin ab, dass die Staatskasse neben den Kosten des
Verfahrens zwei Drittel der notwendigen Auslagen des Angeklagten in den
Berufungsverfahren vor dem Landgericht Ravensburg und im Revisionsverfahren
vor dem Oberlandesgericht Stuttgart zu tragen hat. Die notwendigen Auslagen des
Angeklagten im Verfahren vor dem Amtsgericht Ravensburg und ein Drittel seiner
notwendigen Auslagen in den Berufungsverfahren und im Revisionsverfahren
werden der Staatskasse nicht auferlegt.
3 1. In der Rechtsprechung ist umstritten, ob der Wahlverteidiger nach dem Tod des
Angeklagten befugt ist, Beschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen
einzulegen. Bejaht wurde dies vom Oberlandesgericht Nürnberg (Beschluss vom
30. März 2010 - 1 Ws 113/10, bei juris), verneint wurde es früher von den
Oberlandesgerichten München (NStZ 2003, 501) und Hamburg (NStZ 2004, 280 f.).
Der Senat folgt der Auffassung des Oberlandesgerichts Nürnberg, dass die
Beschwerdebefugnis des Verteidigers fortbesteht. Der Sache nach wurde die
Rechtsfrage vom Bundesgerichtshof (BGHSt 45, 108 ff.) im Beschluss vom 8. Juni
1999 zu den Rechtsfolgen des Todes des Betroffenen während des
Bußgeldverfahrens im hier angenommenen Sinn entschieden. Der
Bundesgerichtshof hält es nämlich ausdrücklich für geboten, im Fall des Todes des
Betroffenen während des gerichtlichen Verfahrens eine Kosten- und
Auslagenentscheidung zu treffen (a.a.O., Rn. 27 bei juris). Im Strafverfahren, dessen
Regelungen § 46 Abs. 1 OWiG grundsätzlich für sinngemäß anwendbar erklärt, gilt
nichts anderes. Dann kann es aber nicht ernstlich zweifelhaft sein, dass dem
Nachlass des Angeklagten auch die Befugnis zur Einlegung der sofortigen
Beschwerde gegen die Kosten- und Auslagenentscheidung des Gerichts zusteht,
die § 464 Abs. 3 StPO vorsieht. Andernfalls hätte der Nachlass eine schwächere
Rechtsstellung als ein von einer sonstigen Verfahrenseinstellung nach § 206a StPO
betroffener Angeklagter, obwohl er von der Regelung der Kosten- und
Auslagenfolgen des Verfahrens unmittelbar betroffen wird. Das Fortwirken der
Vollmacht des Wahlverteidigers im Verfahren folgt dann aus § 672 Abs. 1 i.V.m. §
168 BGB. Der Wert des Beschwerdegegenstands in der Sache übersteigt 200 Euro
( 304 Abs. 3 StPO).
4 2. § 467 Abs. 1 StPO ordnet an, dass die notwendigen Auslagen des Angeklagten
im Fall der Verfahrenseinstellung der Staatskasse zur Last fallen. Nach § 467 Abs. 3
Nr. 2 StPO kann das Gericht hiervon absehen, wenn der Angeklagte wegen einer
Straftat nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht. Die
herrschende Auffassung (OLG Nürnberg a.a.O.; Gieg in Karlsruher Kommentar,
StPO, 7. Auflage, § 467 Rn. 10, 10a; Hilger in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Auflage,
§ 467, Rn. 18) behandelt § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO als eine selten anzuwendende
Ausnahmevorschrift. Aus der Voraussetzung, dass nur wegen des
Verfahrenshindernisses nicht verurteilt wird, folgt dabei, dass im Zeitpunkt der
Verfahrenseinstellung ein voller Schuldnachweis gegen den Angeklagten geführt
sein muss, wobei allerdings ein umfassendes Tatgeständnis des Angeklagten
genügt. Dem folgt auch der Senat. Ein solches umfassendes Tatgeständnis hat der
Angeklagte in der Hauptverhandlung erster Instanz nach dem
Hauptverhandlungsprotokoll des Amtsgerichts abgelegt. Im Beschwerdeverfahren
kann der Senat gemäß § 309 Abs. 2 StPO das Hauptverhandlungsprotokoll erster
Instanz - anders als im Revisionsverfahren - heranziehen. Auf Grund des
Geständnisses wäre der Schuldspruch in der neuen Berufungsverhandlung
bestätigt worden. Daraus folgt, dass im vorliegenden Fall die notwendigen Auslagen
des Angeklagten im Verfahren vor dem Amtsgericht Tettnang nicht der Staatskasse
aufzuerlegen sind, weil der Angeklagte nur aufgrund seines Versterbens nicht
verurteilt worden ist. Der Senat sieht keine Veranlassung, bei der
Ermessensausübung nach § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO von dieser Kostenfolge
abzusehen.
5 Hinsichtlich der notwendigen Auslagen des verstorbenen Angeklagten in den
Berufungsverfahren und im Revisionsverfahren stellt der Senat bei der
Ermessensausübung nach § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO auf den wahrscheinlichen
Verfahrensausgang im Falle des Nichtversterbens des Angeklagten ab. Auch
insoweit ist nicht die Unschuldsvermutung, die regelmäßig die Kosten- und
Auslagentragung der Staatskasse nahe legt, maßgebend, weil diese für die
Rechtsfolgen der Tat nicht gilt (vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Auflage,
Art. 6 MRK, Rn. 12). Vielmehr geht es nur noch um die Abwicklung der Kosten- und
Auslagenfolgen des Verfahrens, für die - ähnlich wie im Zivilprozess bei der
Erledigung der Hauptsache nach § 91a ZPO - der ohne die Einstellung zu
erwartende Verfahrensausgang einen sachgerechten Maßstab bietet. Dabei ist zu
beachten, dass nach § 473 Abs. 3 StPO die notwendigen Auslagen des
Angeklagten der Staatskasse aufzuerlegen sind, wenn ein beschränktes
Rechtsmittel Erfolg hat, und dass das nach § 473 Abs. 4 StPO bei einem Teilerfolg
insoweit zu geschehen hat, als es unbillig wäre, den Angeklagten damit zu belasten.
Im Zweifel ist auch zu berücksichtigen, dass der Verbleib der notwendigen Auslagen
beim Angeklagten nach § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO Ausnahmecharakter hat.
6 Hierzu trägt der Beschwerdeführer zu Recht vor, dass die erhebliche
Verfahrensverzögerung beim Landgericht Ravensburg nach der Aufhebung des
ersten Berufungsurteils durch den Senat am 8. Dezember 2011 einerseits für die
Frage der Strafaussetzung zur Bewährung und andererseits für die Strafhöhe von
Bedeutung gewesen wäre. Angemessen erscheint es nach der Auffassung des
Senats, zwei Drittel der notwendigen Auslagen in den Berufungs- und
Revisionsverfahren auf die Staatskasse zu übernehmen. Zum Einen konnte der
Angeklagte zum Zeitpunkt seines Versterbens nach etwa 2,5 Jahren an
vergangener Zeit seit seiner erstinstanzlichen Verurteilung am 6. Juni 2011 mit der
Strafaussetzung zur Bewährung der festzusetzenden Freiheitsstrafe rechnen, die er
angestrebt hatte und die von seinem Verteidiger schon in der
Berufungshauptverhandlung am 29. August 2011 beantragt worden war. Zum
Anderen wäre aufgrund des Zeitablaufs bei ansonsten nachvollziehbarer Strafhöhe
des amtsgerichtlichen Urteils bei der Strafzumessung im engeren Sinn und bei der
Bemessung eines Abschlags wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung
nach der sog. Vollstreckungslösung (vgl. BGHSt 52, 124 ff., bei juris Rn. 56) ein -
allerdings maßvoller - Abschlag zu gewähren gewesen. Im dargelegten Umfang hält
es der Senat für unbillig, dem Nachlass des Angeklagten die Auslagenerstattung
durch die Staatskasse zu verweigern.
7 Die Kostenentscheidung im Beschwerdeverfahren beruht auf § 473 Abs. 4 StPO.
Den Teilerfolg der Kostenbeschwerde bewertet der Senat mit einhalb. Auch insoweit
wäre es unbillig, den Nachlass des Angeklagten hiermit zu belasten.