Urteil des OLG Stuttgart vom 12.05.2016

scheidungsverfahren, ehescheidung, eugh, trennung

OLG Stuttgart Beschluß vom 12.5.2016, 17 WF 239/15
Leitsätze
Ist ein beabsichtigtes Scheidungsverfahren zunächst gemäß Art. 19 Abs. 1 EuEheVO auszusetzen, bis die
internationale Zuständigkeit eines früher angerufenen Gerichts eines EU-Mitgliedstaates geklärt ist, führt dies
nicht dazu, dass aus diesem Grund wegen Mutwilligkeit der Rechtsverfolgung Verfahrenskostenhilfe zu
verweigern ist.
Tenor
1. Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht -
Stuttgart vom 23.11.2015, Az. 27 F 1109/15,
abgeändert.
Der Antragstellerin wird für den ersten Rechtszug unter Beiordnung von Rechtsanwalt …, ratenfrei
Verfahrenskostenhilfe für ihren Scheidungsantrag gemäß Schriftsatz vom 26.05.2015 bewilligt.
Gründe
I.
1 Die Beteiligten haben am 05.01.2007 die Ehe miteinander geschlossen. Die Antragstellerin ist moldawische
Staatsangehörige, der Antragsgegner ist deutscher Staatsangehöriger.
2 Am 13.05.2014 kam es zur Trennung der Beteiligten durch Auszug des Antragsgegners aus der früheren
gemeinsamen Ehewohnung der Beteiligten in Toulouse, Frankreich, in der die Antragstellerin nach der
Trennung zunächst verblieb. Aus dieser Wohnung ist die Antragstellerin am 15.12.2014 ausgezogen. Sie
wohnt seither mit dem gemeinsamen Sohn der Beteiligten, dem am 31.12.2008 geborenen …, in Stuttgart.
3 Die Antragstellerin hat im ersten Rechtszug vor dem Amtsgericht - Familiengericht - Stuttgart
Verfahrenskostenhilfe für den Antrag beantragt, die am 05.01.2007 geschlossene Ehe der Ehegatten zu
scheiden.
4 Der Antragsgegner ist dem Verfahrenskostenhilfeantrag entgegengetreten.
5 Er beruft sich darauf, dass er am 18.08.2014 einen Antrag auf Ehescheidung beim Tribunal de Grande
Instance in Toulouse eingereicht habe und dass seit diesem Zeitpunkt ein Scheidungsverfahren bei dem
dortigen Gericht anhängig sei. Nachdem ein Scheidungsverfahren, das vor einem europäischen Gericht
bereits anhängig sei, nicht vor einem anderen europäischen Gericht anhängig gemacht werden könne, sei
das Familiengericht Stuttgart international unzuständig.
6 Das Amtsgericht Stuttgart hat mit Beschluss vom 23.11.2015 den Verfahrenskostenhilfeantrag der
Antragstellerin zurückgewiesen. Es hat darauf verwiesen, dass gemäß Art. 19 Abs. 1 EuEheVO das später
angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen bis zur Klärung der Zuständigkeit des zuerst
angerufenen Gerichts auszusetzen habe, wenn bei Gerichten verschiedener europäischer Mitgliedstaaten
Anträge auf Ehescheidung zwischen denselben Personen gestellt worden seien. Dies führe dazu, dass das in
Frankreich früher eingeleitete Verfahren auf Ehescheidung das nunmehr in Deutschland angestrebte
Scheidungsverfahren blockiere.
7 Da der beabsichtigte Scheidungsantrag der Antragstellerin derzeit lediglich zu einer Aussetzung des
Verfahrens führen würde, erweise sich ihre Rechtsverfolgung als mutwillig, da ein vermögender Beteiligter
bei dieser Sachlage - solange der Aussetzungsgrund bestehe - aus Kostengründen davon absehen würde,
das Scheidungsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland einzuleiten.
8 Gegen diesen Beschluss hat die Antragstellerin sofortige Beschwerde eingelegt, der das Amtsgericht nicht
abgeholfen hat.
9 Die Antragstellerin geht zum einen davon aus, dass vor dem Gericht in Toulouse gar kein
Scheidungsverfahren mehr anhängig sei, da das dortige Verfahren durch eine Entscheidung des
Familiengerichts Toulouse vom 17.10.2014 mit Sperrwirkung für den Antragsgegner bis Oktober 2016
abgeschlossen worden sei.
10 Im Übrigen würde - auch bei Fortbestehen der Rechtshängigkeit des Scheidungsverfahrens bei dem
Amtsgericht Toulouse - überhaupt keine internationale Zuständigkeit der französischen Gerichte vorliegen,
da zum Zeitpunkt der Einreichung des Scheidungsantrags keiner der Beteiligten einen gewöhnlichen
Aufenthalt in Frankreich gehabt habe.
11 Der Antragstellerin sei Verfahrenskostenhilfe zu bewilligen; danach sei gegebenenfalls das
Scheidungsverfahren zunächst auszusetzen, bis das Gericht in Toulouse über seine internationale
Zuständigkeit entschieden habe.
II.
12 Die gemäß § 113 Abs. 1 FamFG, § 127 Abs. 2 S. 2 ZPO statthafte sofortige Beschwerde der Antragstellerin
ist begründet. Der Antragstellerin ist daher Verfahrenskostenhilfe gemäß § 113 Abs. 1 FamFG, §§ 114 ff.
ZPO zu bewilligen.
1.
13 Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte in Ehesachen richtet sich nach der Verordnung (EG) Nr.
2201/2003 des Rates vom 27.11.2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von
Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung
der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (im Folgenden: EuEheVO).
14 Gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. a Spiegelstrich 5 EuEheVO sind die deutschen Gerichte für den Scheidungsantrag
der Antragstellerin grundsätzlich international zuständig, da diese ihren gewöhnlichen Aufenthalt im
Bereich der Bundesrepublik Deutschland hat, wo sie sich zwischenzeitlich seit mindestens einem Jahr
aufgehalten hat. Der Antrag der Antragstellerin ist daher nicht schon gemäß Art. 17 EuEheVO wegen einer
fehlenden internationalen Unzuständigkeit der deutschen Gerichte, die gegenüber Art. 19 EuEheVO
vorrangig zu prüfen ist (Prütting/Gehrlein/Völker/Dimmler, ZPO, 7. Aufl., Art. 19 Brüssel IIa-VO Rn. 2;
Hausmann, IntEuSchR, 1. Aufl., A 131), abzuweisen.
2.
15 Werden bei Gerichten verschiedener EU-Mitgliedstaaten (mit Ausnahme Dänemarks - Art. 2 Nr. 3 EuEheVO)
Anträge auf Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebands oder Ungültigerklärung einer Ehe (Art. 1
Abs. 1 a EuEheVO) zwischen denselben Parteien gestellt, richtet sich das weitere Verfahren nach Art. 19
Abs. 1 EuEheVO. Hiernach weist das später angerufene Gericht den gestellten Antrag nicht - wie nach
autonomem deutschen Verfahrensrecht - sofort als unzulässig ab, sondern setzt das bei ihm anhängige
Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst gerufenen Gerichts geklärt ist.
16 Der für Art. 19 Abs. 1 EuEheVO maßgebende Zeitpunkt der „Anrufung“ des Gerichts richtet sich nicht nach
nationalem Recht, sondern nach Art. 16 EuEheVO.
3.
17 Ein deutsches Gericht, bei dem - wie hier - ein Scheidungsantrag eingereicht wird, hat demnach zunächst zu
prüfen, ob überhaupt ein Verfahren i.S.d. Art. 19 Abs. 1 EuEheVO mit einem identischen Streitgegenstand,
der verordnungsautonom i.S.d. EuEheVO zu bestimmen ist (EuGH, Urteil vom 06.10.2015, FamRZ 2015,
2036 Rn. 33), vor dem Gericht eines anderen EU-Mitgliedstaats anhängig ist.
18 Ist dies der Fall, kommt es darauf an, welches Gericht zuerst i.S.d. Art. 16 EuEheVO angerufen worden ist.
Sollte dies das ausländische Gericht sein, setzt das später angerufene deutsche Gericht von Amts wegen
sein Verfahren solange aus, bis die internationale Zuständigkeit des zuerst angerufenen ausländischen
Gerichts geklärt ist. Sobald diese feststeht, erklärt sich das später angerufene deutsche Gericht nach dem
Prioritätsprinzip gemäß Art. 19 Abs. 3 EuEheVO für unzuständig; es weist dann den bei ihm gestellten
Antrag wegen entgegenstehender Rechtshängigkeit als unzulässig ab (Hausmann, IntEuSchR, 1. Aufl., A
131). Stellt das zuerst angerufene ausländische Gericht hingegen seine Unzuständigkeit fest, endet die
Sperrwirkung nach Art. 19 Abs. 1 EuEheVO. Das zweitangerufene Gericht hat von Amts wegen das
ausgesetzte Verfahren fortzusetzen.
19 Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 06.10.2015, FamRZ 2015, 2036 Rn. 34) ist die
Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts bereits dann „geklärt“, wenn sich das zuerst angerufene
Gericht nicht von Amts wegen für unzuständig erklärt und keine der Parteien den Mangel seiner
Zuständigkeit vor oder mit der Stellungnahme geltend gemacht hat, die nach dem innerstaatlichen Recht als
das erste Verteidigungsvorbringen vor diesem Gericht anzusehen ist.
20 Liegt eine „Klärung“ der internationalen Zuständigkeit des Erstgerichts zu diesem frühen Zeitpunkt noch
nicht vor, etwa weil über die internationale Zuständigkeit vor dem Erstgericht gestritten wird, bedarf es
einer formell rechtskräftigen Entscheidung des Erstgerichts über seine internationale Zuständigkeit, wobei
dies auch eine Zwischenentscheidung sein kann (Hausmann, IntEuSchR, 1. Aufl., A 132; Rauscher in
Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, 4. Aufl., Art. 19 Brüssel II a VO Rn. 46).
21 Erledigt sich das Verfahren vor dem zuerst angerufenen Gericht nach Anrufung des zweiten Gerichts,
entfällt die Rechtshängigkeit i.S.v. Art. 19 Abs. 1 EuEheVO mit der Folge, dass auch keine ein
Zweitverfahren in einem anderen Mitgliedstaat blockierende Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts
mehr feststeht. Dies hat zur Folge, dass nach der Erledigung des Verfahrens vor dem zuerst angerufenen
Gericht das später angerufene Gericht zum Zeitpunkt der Erledigung zum zuerst angerufenen Gericht wird
(EuGH, FamRZ 2015, 2036 Rn. 37 f.) und die Entscheidungsbefugnis unmittelbar auf dieses Gericht übergeht
(Althammer, Anmerkung zu EuGH v. 06.10.2015, FamRZ 2015, 2036).
4.
a)
22 In der Rechtsprechung und Literatur werden unterschiedliche Auffassungen dazu vertreten, wie zu
verfahren ist, wenn ein Scheidungsantrag bei einem später angerufenen Gericht gestellt wird. So wird zum
einen davon ausgegangen, dass Verfahrenskostenhilfe wegen Mutwilligkeit der Rechtsverfolgung zu
verweigern ist, wenn ein beabsichtigtes Scheidungsverfahren zunächst zwingend zu einer Aussetzung des
Verfahrens führt (OLG Zweibrücken, FamRZ 2006, 1043; Anmerkung Heiter zu OLG Brandenburg, Beschluss
v. 11.11.2013, 15 WF 210/13 in FamRZ 2014, 860).
23 Zum anderen wird vertreten, dass die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe nicht versagt werden dürfe, da
Erfolgsaussicht bestehe, nachdem die Unzuständigkeit des Familiengerichts erst feststehe, wenn sich das
ausländische Gericht für (international) zuständig erklärt habe (OLG Karlsruhe, FamRZ 2011, 1528;
Prütting/Gehrlein/Völker/Dimmler, ZPO, 7. Aufl., Art. 19 Brüssel IIa-VO Rn. 2).
b)
24 Der Senat schließt sich der Auffassung an, wonach in derartigen Fallkonstellationen Verfahrenskostenhilfe zu
bewilligen ist.
25 Auch wenn das deutsche Gericht durch einen Scheidungsantrag später als das Gericht des europäischen
Mitgliedstaates angerufen wird, führt dies nicht dazu, dass der zeitlich nachfolgende Antrag sofort wegen
entgegenstehender Rechtshängigkeit abgewiesen wird, sondern das Verfahren ist zunächst auszusetzen.
26 Das weitere Schicksal des zeitlich späteren Antrags hängt dann von der Prüfung der internationalen
Zuständigkeit des erstangerufenen Gerichts ab, deren Ausgang das zweitangerufene Gericht nicht
vorwegnehmen darf, da nicht dieses, sondern das erstangerufene Gericht zu dieser Prüfung berufen ist
(Hausmann, IntEuSchR, 1. Aufl., A 132; Prütting/Gehrlein/Völker/Dimmler, ZPO, 7. Aufl., Art. 19 Brüssel IIa-
VO Rn. 2). Vor diesem Hintergrund kann die Bewilligung von Verfahrenskosten nicht wegen fehlender
Erfolgsaussicht im Hinblick auf eine angenommene internationale Zuständigkeit des ausländischen Gerichts
abgelehnt werden.
27 Der Senat geht davon aus, dass es auch nicht mutwillig ist, wenn ein Antragsteller Verfahrenskostenhilfe für
einen Antrag beantragt, die eine in Art. 19 EuEheVO geregelte Vorgehensweise auslöst, die nicht zu einer
Abweisung des Zweitantrags als unzulässig wegen entgegenstehender Rechtshängigkeit, sondern
(zunächst) zu einer Aussetzung des Verfahrens und danach einer Abklärung führt, ob das zuerst angerufene
ausländische Gericht sich für zuständig hält.
28 Mutwilligkeit könnte nur bejaht werden, wenn ein Beteiligter, der keine Verfahrenskostenhilfe beansprucht,
diesen in Art. 19 Abs. 1 EuEheVO geregelten „Weg“ nicht gehen und von der Rechtsverfolgung absehen
würde, obwohl eine hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht (§ 114 Abs. 2 ZPO). Hiervon kann nicht
ausgegangen werden.
29 Zu berücksichtigen ist hierbei auch, dass durch die Zustellung des Scheidungsantrags im Rahmen des
Scheidungsverfahrens bei einem deutschen Gericht ein Antragsteller den Eintritt von Stichtagen für den
Versorgungsausgleich (§ 3 Abs. 1 VersAusglG) bzw. den Zugewinnausgleich (§ 1384 BGB) sichert, was auch
für einen die Verfahrenskosten selbst zahlenden Antragsteller von Bedeutung sein und ihn dazu bewegen
kann, frühzeitig einen Scheidungsantrag zu stellen, um dann das weitere Verfahren gemäß Art. 19 Abs. 1
EuEheVO abzuwarten.
30 Hinzu kommt, dass ein Zweitantrag im Heimatstaat zumindest dann sinnvoll und damit gerade nicht
mutwillig sein wird, wenn eine minimale Chance auf eine verfahrensrechtliche Erledigung im
erstangerufenen Staat besteht, da nach Wegfall der Rechtshängigkeit des Erstantrags der Zweitantrag an
dessen Stelle rückt (Dimmler, Anmerkung zu EuGH v. 06.10.2015 in FamRB 2016, 43).
31 Diese Möglichkeit besteht im hiesigen Verfahren, nachdem der Antragstellervertreter mitgeteilt hat, dass die
Beteiligten sich in Verhandlungen dahingehend befanden bzw. befinden, ob der Antragsgegner seinen
Scheidungsantrag beim Gericht in Toulouse zurücknimmt.
c)
32 Es kommt hier noch hinzu, dass unter Berücksichtigung des streitigen Vortrags der Beteiligten noch gar
nicht abschließend geklärt ist, ob derzeit überhaupt (noch) ein Scheidungsverfahren bei dem Gericht in
Toulouse rechtshängig ist oder ob dieses bereits durch die Entscheidung des dortigen Gerichts vom
17.10.2014 abgeschlossen worden ist. Der Antragsgegner hat insoweit bislang nur Unterlagen in
französischer Sprache vorgelegt. Es wird hier seitens des Familiengerichts eine weitere Sachaufklärung und
rechtliche Prüfung vorzunehmen sein.
33 Sollte kein Verfahren i.S.d. Art. 1 Abs. 1 a EuEheVO in Frankreich mehr rechtshängig sein, läge die in Art. 19
Abs. 1 EuEheVO geregelte Konstellation gar nicht vor, mit der Folge, dass das vor dem Amtsgericht Stuttgart
geführte Scheidungsverfahren nicht auszusetzen wäre und damit von vorneherein eine etwaige
Mutwilligkeit des Verfahrenskostenhilfeantrags ausscheiden würde.
5.
34 Dem Scheidungsantrag der Antragstellerin fehlt es materiell-rechtlich nicht an der Erfolgsaussicht. Nach dem
Vortrag der Beteiligten ist von der Anwendung deutschen Scheidungsrechts gemäß Art. 8 lit. d der
Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 des Rates vom 20. Dezember 2010 zur Durchführung einer Verstärkten
Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebands
anzuwendenden Rechts (Rom III-VO) auszugehen; die Scheidungsvoraussetzungen nach deutschem Recht
liegen vor (§ 1565 BGB).