Urteil des OLG Stuttgart vom 07.12.2015

rechtliches gehör, hauptsache, unterlassen, ehre

OLG Stuttgart Beschluß vom 7.12.2015, 1 Ws 202/15
Leitsätze
Bei Entscheidungen über Beschwerden gem. § 181 Abs. 1 GVG gegen
Ordnungsmaßnahmen nach § 178 Abs. 1 GVG entscheidet der Senat gemäß § 122
Abs. 1 GVG in der Besetzung mit drei Mitgliedern, auch wenn die angegriffene
Ordnungsmaßnahme in einem Bußgeldverfahren ergangen ist, für das im
Rechtsbeschwerdeverfahren gem. § 80a Abs. 1 OWiG die Zuständigkeit des
Einzelrichters gegeben ist.
Tenor
1. Auf die sofortigen Beschwerden des Beschwerdeführers werden die beiden
Ordnungsgeldbeschlüsse des Amtsgerichts Stuttgart vom 2. November 2015 dahin
abgeändert, dass jeweils ein Ordnungsgeld von 50 EUR, für den Fall, dass dieses
nicht beigetrieben werden kann, jeweils ein Tag Ordnungshaft gegen den
Beschwerdeführer verhängt wird. Die weitergehenden sofortigen Beschwerden
werden als unbegründet
verworfen.
2. Der Beschwerdeführer trägt die Kosten seiner Rechtsmittel.
Gründe
I.
1 Der Beschwerdeführer wendet sich gegen zwei gegen ihn ergangene
Ordnungsgeldbeschlüsse wegen Ungebühr in der Hauptverhandlung in einer
Bußgeldsache, in der gegen ihn ein Bußgeldbescheid über eine Geldbuße von
500 EUR wegen Betretens der Gleise der Stadtbahn mit Behinderung des
Bahnverkehrs am 15. Februar 2015 in S. im Bereich der Haltestelle … ergangen
war.
2 In der Hauptverhandlung in dieser Bußgeldsache am 2. November 2015
unterbrach der Beschwerdeführer mehrmals die Ausführungen der Vorsitzenden
durch Zwischenreden, worauf ihm für den Wiederholungsfall die Verhängung eines
Ordnungsgeldes angedroht wurde. Dennoch ergriff der Beschwerdeführer sofort
weiter unaufgefordert das Wort noch während die Vorsitzende mit der Niederschrift
des genannten Vorgangs im Protokoll beschäftigt war. Als der Beschwerdeführer
während der sich daran anschließenden Vernehmung eines Zeugen auch diesen
unterbrach, drohte ihm die Vorsitzende nochmals die Verhängung eines
Ordnungsgeldes an. Noch während sie nunmehr diesen Vorgang protokollierte,
sprach der Betroffene weiter, worauf die Vorsitzende ihm Gelegenheit gab,
Stellung zur Frage der Verhängung eines Ordnungsgeldes zu nehmen. Der
Beschwerdeführer gab hierzu keine Erklärung ab. Die Vorsitzende beschloss
daraufhin die Verhängung eines Ordnungsgeldes in Höhe von 100 EUR, im
Uneinbringlichkeitsfall die Verhängung von zwei Tagen Ordnungshaft, und setzte
die Verhandlung fort.
3 Schon bei der Belehrung des nächsten Zeugen unterbrach der Beschwerdeführer
die Vorsitzende erneut durch Zwischenreden, worauf ihm ein weiteres
Ordnungsgeld angedroht wurde. Dessen ungeachtet redete der Beschwerdeführer
weiter. Bei der anschließenden Anhörung zur Frage der Verhängung eines
weiteren Ordnungsgeldes äußerte der Betroffene zunächst „haha“ und brachte
dann zur Erklärung seines Verhaltens vor, er sei „halt drogensüchtig und
Alkoholiker“.
4 Die Vorsitzende beschloss nun die Verhängung eines weiteren Ordnungsgeldes
von 200 EUR, im Uneinbringlichkeitsfall die Verhängung von vier Tagen
Ordnungshaft. Dennoch setzte der Beschwerdeführer auch weiter seine
Unterbrechungen fort.
5 Beide - in seiner Anwesenheit verkündeten - Ordnungsgeldbeschlüsse wurden
dem Beschwerdeführer am 5. November 2015 schriftlich zugestellt. Hierauf legte
der Beschwerdeführer mit zwei verschiedenen, jeweils am 6. November 2015 beim
Amtsgericht Stuttgart eingegangenen Schreiben sofortige Beschwerde ein. In
einem der Schreiben wandte er sich ausdrücklich gegen die Verhängung des
Ordnungsgeldes von 100 EUR und behauptete, durch seine Krankheit, nämlich
„Alkohol und Drogensucht“, seien „freundliche Zwischenreden bedingt“, für die er
nicht verantwortlich sei, da er seine Ansichten sofort äußern müsse, da er sie sonst
am Ende des Satzes vergessen hätte. In dem weiteren Schreiben legte der
Beschwerdeführer ohne nähere Ausführungen sofortige Beschwerde gegen den
Beschluss vom 2. November 2015 ein. In beiden Schreiben wandte er sich zudem
gegen das am 2. November 2015 ergangene Urteil, mit dem letztlich gegen ihn
eine Geldbuße von 200 EUR verhängt wurde.
II.
6 1. Der Senat betrachtet aufgrund der Gesamtumstände das pauschal als sofortige
Beschwerde gegen den Beschluss vom 2. November 2015 bezeichnete Schreiben
als sofortige Beschwerde gegen den zweiten Ordnungsgeldbeschluss über ein
Ordnungsgeld von 200 EUR bzw. über die für den Fall der Uneinbringlichkeit
festgesetzten vier Tage Ordnungshaft und sieht deshalb beide
Ordnungsgeldbeschlüsse als angefochten an.
7 2. Die fristgerecht eingelegten sofortigen Beschwerden gem. § 181 Abs. 1 GVG
gegen die gem. § 178 GVG angeordneten Maßnahmen sind zulässig.
8 Ob für die Entscheidung über diese in einem Bußgeldverfahren eingelegten
sofortigen Beschwerden gegen Ordnungsmittelentscheidungen nach § 178 StPO
die Zuständigkeit des Einzelrichters gegeben ist, weil dieser gem. § 80a OWiG zur
Entscheidung über die Rechtsbeschwerde in der Hauptsache, berufen ist (so
Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl. § 178 GVG Rdnr. 8, OLG Köln, NStZ 2007,
181), oder ob auch in Bußgeldsachen der Senat in der von § 122 Abs. 1 GVG
bestimmten Besetzung mit drei Mitgliedern über Beschwerden gegen
Ordnungsmittelbeschlüsse nach § 178 GVG zu entscheiden hat (so Kissel/Mayer,
GVG, 8. Aufl., § 122 Rdnr. 3, OLG Hamm, NStZ-RR 2001, 116f), ist umstritten (Zum
Streitstand: Hannich in KK, StPO, 7. Aufl., § 122 GVG Rdnr. 3).
9 Der Senat ist der Auffassung, dass über die vorliegenden Beschwerden -
ungeachtet der Zuständigkeit des Einzelrichters in der Hauptsache für die
Entscheidung über die Rechtsbeschwerde gem. § 80a OWiG - in der von § 122
Abs. 1 GVG bestimmten Besetzung mit drei Mitgliedern zu entscheiden ist.
10 Entgegen OLG Köln (NStZ 2007, 181) folgt nach Auffassung des Senats die
Besetzung des zur Beschwerdeentscheidung berufenen Gerichts auch in einer
Bußgeldsache nicht der Gerichtbesetzung der Hauptsachenentscheidung. Bei der
vorliegend zu treffenden Entscheidung über den Bestand der
Ordnungsgeldbeschlüsse handelt es sich nämlich nicht um eine
Annexentscheidung zur Hauptsachenentscheidung (so auch OLG Hamm, NStZ-
RR 2001, 116f).
11 So erfolgte die Ungebühr lediglich anlässlich des Bußgeldverfahrens. Einen
inneren Zusammenhang haben Ungebühr und Bußgeldsache aber nicht. Mit der
Hauptsachenentscheidung in einer Bußgeldsache hängt die Entscheidung über
etwa in der Hauptverhandlung erlassene Ordnungsgeldbeschlüsse nämlich in
keiner Weise zusammen. Dies belegt bereits der Umstand, dass die
Ordnungsmittel gem. § 178 GVG ungeachtet des jeweiligen
Verfahrensgegenstandes und der darauf anzuwendenden Prozessordnung,
unabhängig vom späteren Verfahrensausgang und zudem auch gegen andere
Personen als den Betroffenen ergehen können. Den fehlenden inneren
Zusammenhang zwischen Ordnungsmitteln und Hauptsacheentscheidung belegt
letztlich auch der Umstand, dass zur Entscheidung über Beschwerden gegen die
Ordnungsmittel gem. § 178 GVG gerade nicht das Hauptsachengericht, sondern -
sofern nicht ein Oberlandesgericht oder der Bundesgerichtshof die Maßnahme
erlassen hat - ungeachtet vom Instanzenzug der Hauptsache das übergeordnete
Oberlandesgericht berufen ist.
12 3. Die beiden Beschwerden sind aber nur teilweise begründet.
13 a) Das Amtsgericht ist zu Recht bei jeder der beiden Ordnungsgeldentscheidung
vom Vorliegen einer schuldhaft begangenen Ungebühr in der Sitzung
ausgegangen.
14 Eine Ungebühr im Sinne von § 178 Abs. 1 GVG ist ein erheblicher Angriff auf die
Ordnung in der Sitzung, auf deren justizgemäßen Ablauf, auf den Gerichtsfrieden
und damit auf die Ehre und Würde des Gerichts (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO,
58. Aufl., § 178 GVG Rdnr. 1 ff m.w.N.). Die Ordnungsmittel nach § 178 GVG
können insbesondere als Antwort auf grobe Verletzungen oder bewusste
Provokationen eingesetzt werden (KK-Diemer, StPO, 7. Aufl., § 178 GVG Rdnr. 1).
15 Das trotz mehrerer Ermahnungen fortgesetzte Reden des Betroffenen außerhalb
seines Rechts zur Äußerung oder zur Befragung, das die Verhandlungsleitung
durch die Vorsitzende und die Vernehmung der Zeugen störte, stellt objektiv eine
als Ungebühr anzusehende grobe Störung der für eine Hauptverhandlung
notwendigen Ordnung dar.
16 Zweifel, der Beschwerdeführer habe die Störungen nicht vorsätzlich oder ohne
Ungebührswillen begangen, bestehen nicht, zumal ihm mehrfach durch
Ermahnungen der Vorsitzenden verdeutlicht worden war, dass er unaufgefordertes
Reden zu unterlassen habe. Die sich angesichts dessen aufdrängende Annahme,
er habe den störenden Charakter seines Tuns und dessen Auswirkungen auf die
Sitzungsordnung erkannt, wird auch durch das Beschwerdevorbringen nicht
entkräftet. Ebenso wenig geht aus dem Beschwerdevorbringen hervor, dass der
Beschwerdeführer etwa nicht in der Lage gewesen sein könnte, sein störendes
Tun zu unterlassen. Vielmehr räumt der Beschwerdeführer ein, bewusst immer
wieder das Wort ergriffen zu haben, da er befürchtet habe, er könne vergessen,
was er sagen wollte.
17 Ungeachtet der Frage, ob ihn diese - der Vorsitzenden in der Hauptverhandlung
bei den Anhörungen zur Frage der Verhängung von Ordnungsmitteln nicht
mitgeteilte - Besorgnis tatsächlich zu seinem Verhalten veranlasste, rechtfertigte
sie die jeweilige Störung nicht, zumal der Beschwerdeführer dem Vergessen von
Fragen und Einwänden etwa durch die Fertigung entsprechender Notizen ohne
Weiteres hätte begegnen können. Dass er sich über eine nicht störende Lösung
seiner Konzentrationsschwierigkeiten nicht einmal Gedanken gemacht und
erkennbar naheliegenden Lösungen nicht ergriffen hat, stützt die Annahme, dass
er die Störung der Hauptverhandlung durchgehend zumindest billigend in Kauf
genommen hat.
18 b) Das Amtsgericht hat bei der Anordnung der Ordnungsgelder wegen Ungebühr
nach Maßgabe von § 178 GVG auch das einzuhaltende Verfahren beachtet.
19 Die Vorsitzende hat jeweils und ohne dass hierzu eine Pflicht bestand, die
Maßnahmen ausdrücklich angedroht und dem Angeklagten damit durchgehend
Gelegenheit gegeben, sein weiteres Verhalten zu überdenken und zu ändern.
Auch wurde dem Beschwerdeführer jeweils vor Verhängung des Ordnungsgeldes
rechtliches Gehör gewährt. Der Beschluss ist schließlich auch in der
Hauptverhandlung erlassen worden. Die unzureichende Begründung im
Beschluss ist dabei unschädlich, da die Prüfung der Rechtmäßigkeit eines
Ordnungsmittels nicht allein auf die im zugrunde liegenden Beschluss
festgestellten Tatsachen beschränkt ist. Vielmehr können auch solche Umstände
in die Prüfung einbezogen werden, die sich zwar nicht aus den Beschlussgründen,
aber aus dem Protokoll auch für den Betroffenen ohne weiteres ergeben (OLG
Hamm, NStZ-RR 2009, 183).
20 c) Allerdings erscheinen die in den angefochtenen Entscheidungen festgesetzten
Ordnungsmittel nach Auffassung des Senats zu hoch.
21 Die Höhe des Ordnungsgeldes ist im nach § 178 GVG eröffneten Rahmen, der ein
Ordnungsgeld in Höhe von bis zu 1.000 Euro oder Ordnungshaft bis zu einer
Woche vorsieht, nach Ermessen zu bestimmen. Dabei sind auch die
wirtschaftlichen Verhältnisse eines Betroffenen zu beachten. Bei Betrachtung des
Gesamtgeschehens und der persönlichen Verhältnisse des arbeitslosen
Betroffenen erscheint dem zur Sachentscheidung berufenen Senat (OLG Celle,
NStZ-RR 2012, 119) trotz der Hartnäckigkeit, mit der der Beschwerdeführer die
Verhandlung störte, auch im Hinblick auf die seine sozialen Kompetenzen wohl
einschränkende Alkoholproblematik und angesichts der zusätzlichen Belegung
des Betroffenen mit einem empfindlichen Bußgeld jeweils ein Ordnungsgeld von
50 EUR, im Falle der Uneinbringlichkeit jeweils ein Tag Ordnungshaft für
angemessen.
22 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 StPO.