Urteil des OLG Stuttgart vom 17.08.2015

sexueller missbrauch, strafbefehl, allgemeines strafrecht, gesamtstrafe

OLG Stuttgart Beschluß vom 17.8.2015, 1 Ws 116/15
Nachträgliche Gesamtstrafenbildung: Anwendung allgemeinen Strafrechts bei in
verschiedenen Altersstufen begangenen Taten
Leitsätze
Hat der Tatrichter im Urteil für in verschiedenen Altersstufen begangene Taten gemäß
§ 32 JGG allgemeines Strafrecht angewendet, kann im Rahmen der Nachholung einer
unterbliebenen Gesamtstrafenbildung im Beschlussverfahren gemäß §§ 460, 462
StPO hiervon nicht abgewichen werden.
Tenor
Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Landgerichts -
Große Jugendkammer - Ellwangen vom 30. Juni 2015 wird als unbegründet
verworfen.
Der Beschwerdeführer trägt die Kosten seines Rechtsmittels.
Gründe
I.
1
.
1 Das Landgericht - Große Jugendkammer- Ellwangen verurteilte den
Beschwerdeführer am 12. Dezember 2008 wegen sexuellen Missbrauchs von
Kindern in sieben Fällen, schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in
dreizehn Fällen, sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen, vorsätzlichen
unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in fünf Fällen, unerlaubter
Verbrauchsüberlassung von Betäubungsmitteln an Minderjährige und
vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und ordnete Sicherungsverwahrung an.
2 Dieses Urteil ist rechtskräftig seit 23. April 2009.
3 Taten 1 bis 6 (sexueller Missbrauch von Kindern gemäß § 176 Abs. 1 StGB in der
Fassung vom 10. März 1987) beging der Beschwerdeführer im Zeitraum zwischen
seinem 14. Geburtstag und dem 3. November 1998, mithin als Jugendlicher.
4 Tat 7 (sexueller Missbrauch von Kindern gemäß § 176 Abs. 1 StGB in der Fassung
vom 13. November 1998) und Tat 8 (schwerer sexueller Missbrauch von Kindern
gemäß §§ 176 Abs. 1, 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB in der Fassung vom 13. November
1998) beging der Beschwerdeführer im Zeitraum 2002/2003 möglicherweise noch
als Heranwachsender.
5 Taten 9 bis 20 (schwerer sexueller Missbrauch von Kindern gemäß §§ 176 Abs.1,
176a Abs. 2 Nr. 1 StGB, jeweils in der Fassung vom 27.12.2003), Tat 21 (sexueller
Missbrauch von Schutzbefohlenen gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB), Taten 22 bis
26 (unerlaubter Erwerb von Betäubungsmitteln gemäß §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 29 Abs. 1
Nr. 1 BtMG), Tat 27 (unerlaubte Verbrauchsüberlassung von Betäubungsmitteln an
Minderjährige gemäß §§ 29a Abs. 1 Nr. 1, 3 Abs. 1 Nr. 1 BtMG) sowie Taten 28
und 29 (vorsätzliches Fahren ohne Fahrerlaubnis gemäß § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG)
beging er als Erwachsener im Zeitraum zwischen Ende Februar/Anfang März 2008
und 8. August 2008.
6 Auf der Grundlage von § 32 JGG wandte das Landgericht Ellwangen
Erwachsenenstrafrecht an und verhängte hinsichtlich der Taten 1 bis 6 jeweils eine
Freiheitsstrafe von neun Monaten, für Tat 7 eine solche von einem Jahr und für Tat
8 eine Freiheitsstrafe von einem Jahr sechs Monaten.
7 Für die Taten 9 bis 20 wurde jeweils eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren zwei
Monaten, für Tat 21 eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten, für die Taten 22 bis
26 jeweils zwei Monate Freiheitsstrafe, für Tat 27 eine Freiheitsstrafe von einem
Jahr und für die Taten 28 und 29 jeweils eine dreimonatige Freiheitsstrafe
festgesetzt.
2.
8 Durch Strafbefehl des Amtsgerichts Schwäbisch Gmünd vom 27. Januar 2006 -
rechtskräftig seit 17. Februar 2006 - war der Beschwerdeführer wegen eines am
13. Dezember 2005 begangenen Diebstahls einer geringwertigen Sache zu einer
Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 10,00 EUR verurteilt worden.
9 In dieser Sache verbüßte der Beschwerdeführer in der Zeit vom 11. Dezember
2006 bis 20. Dezember 2006 zehn Tage Ersatzfreiheitsstrafe.
10 Diese Verurteilung hat die Jugendkammer im Urteil festgestellt; ob die Strafe
vollstreckt ist, teilen die Urteilsgründe nicht mit.
3.
11 Mit Anwaltsschriftsatz vom 20. Mai 2015 beantragte der Beschwerdeführer die
Gesamtstrafe aus dem Urteil des Landgerichtes Ellwangen vom 12. Dezember
2008 aufzulösen, aus den Einzelstrafen Ziffer 1 bis 8 dieses Urteils unter
Einbeziehung der Strafe aus dem oben genannten Strafbefehl eine einheitliche
Jugendstrafe und aus den Einzelstrafen Ziffer 9 bis 29 eine neue Gesamtstrafe
festzusetzen.
12 Mit Beschluss des Landgerichts Ellwangen vom 30. Juni 2015 wurde die
Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren aus dem Urteil des Landgerichts
Ellwangen vom 12. Dezember 2008 aufgelöst. Aus den Einzelstrafen für die Taten
1 bis 8 wurde unter Einbeziehung der Strafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts
Schwäbisch Gmünd vom 27. Januar 2006 eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei
Jahren vier Monaten und aus den Einzelstrafen für die Taten 9 bis 29 eine weitere
Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren acht Monaten gebildet.
13 Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung blieb aufrechterhalten.
14 Gegen den seinem Verteidiger am 8. Juli 2015 zugestellten Beschluss wendet sich
der Beschwerdeführer mit am 15. Juli 2015 beim Landgericht eingegangener
sofortiger Beschwerde insoweit, als das Landgericht hinsichtlich der Taten 1 bis 8
aus dem Urteil des Landgerichts Ellwangen vom 12. Dezember 2008 und der
Strafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Schwäbisch Gmünd vom 27. Januar
2006 keine einheitliche Jugendstrafe festgesetzt hat.
II.
15 Die sofortige Beschwerde ist zulässig erhoben (§§ 460, 462 Abs. 1 Satz 1 und
Abs. 3 StPO), bleibt jedoch ohne Erfolg.
16 Das Landgericht Ellwangen hat zu Recht und mit zutreffender Begründung, auf die
der Senat vollumfänglich Bezug nimmt, hinsichtlich der Taten 1 bis 8 aus dem
Urteil des Landgerichts Ellwangen vom 12. Dezember 2012 und dem Strafbefehl
des Amtsgerichts Schwäbisch Gmünd vom 27. Januar 2006 nicht auf eine
Einheitsjugendstrafe gemäß § 31 Abs. 1 JGG erkannt, sondern erneut eine
Gesamtfreiheitsstrafe nach allgemeinem Strafrecht gebildet; auch nach Auffassung
des Senats liegt nach wie vor das Schwergewicht der zu beurteilenden Taten,
auch unter nunmehriger Berücksichtigung der einzubeziehenden Strafe aus dem
Strafbefehl des Amtsgerichts Schwäbisch Gmünd, im Erwachsenenalter.
17 Im Urteil des Landgerichts Ellwangen vom 12. Dezember 2008 wurde nicht
berücksichtigt, dass die durch diesen Strafbefehl verhängte Geldstrafe
gesamtstrafenfähig war, weil sie eine Zäsur nach § 55 Abs. 1 StGB bildete. Daher
war nunmehr gemäß §§ 460 StPO, 55 StGB nachträglich durch die
Jugendkammer (§ 462a Abs. 3 StPO) zu entscheiden, ob die Geldstrafe gemäß §§
55 Abs. 1, 53 Abs. 1 Satz 1 StGB einbezogen wird oder gemäß §§ 55 Abs. 1, 53
Abs. 2 Satz 2 StGB gesondert bestehen bleibt.
18 Die Jugendkammer war in der angefochtenen Entscheidung daran gehindert für
die Taten 1 bis 8 unter Einbeziehung der Strafe aus dem Strafbefehl des
Amtsgerichts Schwäbisch Gmünd - entgegen der Entscheidung im Urteil vom 12.
Dezember 2008 - eine Einheitsjugendstrafe gemäß § 31 Abs. 1 JGG zu bilden.
Hätte das Landgericht Ellwangen in seiner Entscheidung vom 12. Dezember 2008
über die Einbeziehung der Strafe aus dem oben genannten Strafbefehl befunden,
hätte es nicht für die Taten 1 bis 8 unter Einbeziehung der Strafe aus dem
Strafbefehl Jugendstrafrecht und für die Taten 9 bis 29 Erwachsenenstrafrecht
anwenden dürfen. Dies hätte gegen § 32 JGG verstoßen (BGH, StV 1998, 657 -
juris). Auch wenn ein nach Jugendstrafrecht zu verurteilender Täter bereits wegen
einer Erwachsenentat rechtskräftig verurteilt ist, ist unter Anwendung von § 32 JGG
zu entscheiden, ob das Schwergewicht auf den nach allgemeinem Strafrecht oder
auf den nach Jugendstrafrecht abzuurteilenden Taten liegt und somit eine
nachträgliche Gesamtfreiheitsstrafe nach den §§ 53-55 StGB oder eine
Einheitsjugendstrafe nach § 31 Abs. 1 JGG zu bilden ist, da der Vorschrift des § 32
JGG das Prinzip der möglichst einheitlichen Reaktion zugrunde liegt (BGHSt 40, 1
- juris Rn. 6).
19 Etwas anderes kann bei einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung gemäß § 460
StPO nicht gelten, da durch die Nachholung der unterlassenen
Gesamtstrafenbildung im Nachtragsverfahren nach § 460 StPO der Verurteilte
weder besser noch schlechter gestellt werden soll, als hätte der letzte Tatrichter die
Gesamtstrafe gebildet (Appl in Karlsruher Kommentar, StPO, 7. Auflage, § 460, Rn.
1). Andernfalls würde die Vorschrift des § 32 JGG, die der Tatrichter anzuwenden
hatte, umgangen werden. Daher bleibt es dem Gericht im Nachtragsverfahren
gemäß § 460 StPO verwehrt, anstelle von Erwachsenenstrafrecht nunmehr
Jugendstrafrecht anzuwenden. Hinzu kommt, dass das Gericht im Verfahren nach
§ 460 StPO, in dem die unterlassene Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB
nachzuholen ist, auch nicht befugt ist, die vom Tatrichter ausgesprochenen
Einzelstrafen zu ändern, vielmehr sind frühere Gesamtstrafen in ihre Einzelstrafen
aufzulösen und sodann eine neue Gesamtstrafe zu bilden (Rissing-van Saan in
Laufhütte u.a., StGB Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2007, § 55 Rn. 30; Appl aaO
Rn. 24).
20 Die Bildung der beiden neuen Gesamtfreiheitsstrafen erfolgte fehlerfrei und ist nicht
zu beanstanden. Die Entscheidung der Jugendkammer, von einer Einbeziehung
der Geldstrafe gemäß § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB nicht abzusehen, ist ebenfalls nicht
zu beanstanden, zumal sie den Beschwerdeführer nicht beschwert und die
Gesamtstrafenbildung nach § 53 Abs. 1 StGB die Regel bildet.
21 Zu Recht hat das Landgericht in seinem Beschluss vom 30. Juni 2015 die
Maßregel der Sicherungsverwahrung gemäß §§ 55 Abs. 2 Satz 1, 11 Abs. 1 Nr. 8
StGB aufrechterhalten.
III.
22 Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.